Sonntag, Oktober 6

In der Bundesrepublik gibt es keine Grossstädte mehr mit evangelischer Mehrheit, katholisch geprägte nur noch vier. Wo der Rückgang am stärksten ist, zeigen neue Zahlen aus 11 000 Städten und Gemeinden.

Die Entkirchlichung Deutschlands hat im vergangenen Jahrzehnt rasant an Geschwindigkeit zugelegt und wirkt sich besonders im Westen des Landes in immer mehr Städten und Gemeinden aus. Das geht aus Daten des Statistischen Bundesamtes zur Religionszugehörigkeit hervor, die die NZZ angefordert hat. Diese wiederum entstammen den Melderegistern der insgesamt rund 11 0000 Kommunen und ermöglichen einen Vergleich der Jahre 2011 und 2022. Erhoben wurden die Zahlen anlässlich der in Deutschland in der Regel alle zehn Jahre stattfindenden Volkszählung.

Demnach sind die traditionellen Siedlungsschwerpunkte von Katholiken und Protestanten, wie sie sich nach dem Westfälischen Frieden von 1648 herausgebildet haben, auf dem Gebiet der alten Bundesrepublik zwar weiterhin erkennbar. Dennoch gleichen sich auch die alten Bundesländer tendenziell immer stärker dem entkonfessionalisierten Osten an.

Im Westen verliert die Kirche jetzt schneller an Bedeutung

Die 1990 der Bundesrepublik beigetretenen Bundesländer gehören aufgrund der Religionspolitik der DDR heute zu den am stärksten entchristlichten Gebieten Europas. Doch selbst hier schritt die Säkularisierung zwischen 2011 und 2022 weiter voran, wenn auch langsamer als im Westen der Republik.

In den wenigen Orten im Osten, wo Mitglieder der evangelischen oder der römisch-katholischen Kirche 2011 noch in der (relativen) Mehrheit waren, sind sie es heute meist nicht mehr. Eine Ausnahme bildet weiterhin beispielsweise das Siedlungsgebiet der katholischen Sorben in Sachsen.

Vorreiter dieser Entwicklung im Westen Deutschlands sind bereits seit längerem die grossen Städte, etwa Hamburg sowie Frankfurt und Offenbach, wo inzwischen fast 70 Prozent der Einwohner nicht mehr den grossen Kirchen angehören. Jüngst beschleunigte sich dieser Prozess aber und färbte immer stärker auch auf das Umland ab.

Evangelische Kirche schrumpft stärker

Besonders stark traf es traditionell evangelisch geprägte Grossstädte. Viele hatten bereits im Jahr 2011 keine evangelische Mehrheit mehr, etwa Bremen oder Kiel. Elf Jahre später existierte dann keine einzige westdeutsche Stadt mehr mit über 100 000 Einwohnern, wo Protestanten auch nur in der relativen Mehrheit sind. Stattdessen liegt die Gruppe der Konfessionslosen oder Angehörigen anderer Religionsgemeinschaften mittlerweile überall vorn.

In der norddeutschen Stadt Lübeck etwa hatten im Jahr 2011 die mehr als 100 000 Mitglieder der evangelischen Kirche mit 48 Prozent noch die grösste religiöse Gruppe gebildet, 2022 waren es nur noch 80 000. Ihr Anteil schrumpfte auf 37 Prozent; mehr als die Hälfte der Bewohner war nun konfessionslos oder gehörte keiner der grossen deutschen Kirchen mehr an.

Gemessen an der Bevölkerung war der Rückgang unter deutschen Grossstädten nur in Kassel und Bremerhaven ähnlich stark. Absolut betrachtet war der Einbruch in Berlin am grössten: Dort gab es im Jahr 2022 145 000 Protestanten weniger in der Stadt. Die grösste noch mehrheitlich evangelische deutsche Stadt ist Bayreuth in Bayern.

Bei den Katholiken ist der Rückgang ebenfalls dramatisch: Von den verbliebenen 23 mehrheitlich katholisch geprägten Grossstädten im Jahr 2011 blieben elf Jahre später lediglich Münster, Paderborn, Bottrop und Trier übrig. In Regensburg und Ingolstadt beispielsweise brach ihr Anteil an der Stadtbevölkerung um rund ein Viertel ein.

Relativ zur Grösse der Stadt erlebten die Katholiken allerdings nirgends so einen deutlichen Bedeutungsverlust wie in Trier, wo ihre Zahl um fast 15 000 Menschen schrumpfte.

Dennoch blieb Trier im Jahr 2022 die letzte deutsche Grossstadt mit einer absoluten katholischen Mehrheit von mehr als 50 Prozent. Insgesamt am höchsten war der Rückgang in München mit 92 000 Katholiken, vor Köln mit 80 000 Gläubigen.

Kirche verliert in über 1600 Kommunen die Mehrheit

Aber auch in Orten mit weniger als 100 000 Einwohnern nimmt die Entkirchlichung zu: Mehr als 1600 Kommunen, die 2011 noch mehrheitlich katholisch oder evangelisch waren, sind es jetzt nicht mehr. Betroffen sind in erster Linie evangelische Gemeinden. Zurückgegangen ist der Anteil der Kirchenmitglieder aber fast überall in den insgesamt 11 000 Kommunen. Wenn er stieg, dann in der Regel nur minimal. Exakte Aussagen darüber lassen sich allerdings nicht in jedem Fall treffen, weil die Daten vereinzelt durch Eingemeindungen und Zusammenlegungen verzerrt werden.

Die Entkirchlichung der Städte und Gemeinden ist das Ergebnis der rapide abnehmenden Mitgliederzahlen der beiden grossen Kirchen in Deutschland infolge von Kirchenaustritten und Todesfällen. Die Zahl der Taufen und Wiedereintritte vermag dies nicht einmal annäherungsweise auszugleichen.

Anteil der Konfessionslosen erstmals über 50 Prozent

So gehörten 2022 nur noch 20,7 Millionen Menschen in Deutschland der römisch-katholischen Kirche an, was einem Anteil von 25,1 Prozent an der Gesamtbevölkerung entsprach. 2011 hingegen gab es noch über 24 Millionen Katholiken (30 Prozent der Bevölkerung). Besonders stark verlor die evangelische Kirche. So gehörten ihr 2011 noch 23,4 Millionen Menschen oder 29,1 Prozent der Gesamtbevölkerung an. Elf Jahre später waren es nur noch 19,1 Millionen Menschen oder 23,1 Prozent der Bevölkerung.

Die Gruppe der Konfessionslosen oder Mitglieder anderer Religionsgemeinschaften nahm demgegenüber zu und stellt seit 2022 erstmals in der deutschen Geschichte die absolute Mehrheit. So fielen 2022 42,8 Millionen Menschen in diese Kategorie, was einem Bevölkerungsanteil von 51,8 Prozent entspricht. Noch 2011 hatte die Gruppe nur 32,8 Millionen Menschen oder 40,9 Prozent der Bevölkerung umfasst.

Welche Rolle spielt der Islam?

Wie genau sich diese Gruppe freilich zusammensetzt, ist unklar und wird es bleiben. Denn die deutschen Statistikbehörden erfragen nur, ob jemand öffentlichrechtlich verfassten Kirchen angehört oder nicht. Die wachsende Präsenz von Muslimen infolge der Zuwanderung wird ebenso wenig erfasst wie die Mitgliedschaft in vielen kleineren christlichen Kirchen.

Den in Münster lehrenden Religionssoziologen Detlef Pollack überrascht die an Geschwindigkeit zunehmende Entkirchlichung der vergangenen Jahre nicht. Dieser Prozess habe in der alten Bundesrepublik bereits vor etwa sechzig Jahren eingesetzt, sich aber ab 2010 mit Beginn der Missbrauchskrise in der katholischen Kirche nochmals beschleunigt.

Der Soziologe spricht im Gespräch mit der NZZ von Kipppunkten, ab denen die Entkirchlichung zunehme. Besonders im bis in die neunziger Jahre von einer Kultur der Konfessionszugehörigkeit geprägten Westen Deutschlands sei es noch lange sozial begründungspflichtig gewesen, aus der Kirche auszutreten. «Das hat sich mittlerweile umgekehrt», sagt Pollack. Mittlerweile sähen sich Kirchenmitglieder der Frage ausgesetzt, warum sie noch nicht aus der Kirche ausgetreten seien.

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