Dienstag, November 5

Der ins Exil gegangene russische Regisseur macht Alfred Schnittkes Opernsatire «Leben mit einem Idioten» zu einer treffsicheren Provokation. Sie konfrontiert die Zuschauer mit eigenen Tabuvorstellungen.

Manch ein Besucher der jüngsten Premieren am Opernhaus Zürich mag sich verwundert die Augen reiben: Die Ära des Intendanten Andreas Homoki, die mit dieser Spielzeit nach dreizehn Jahren zu Ende geht, wird sicher für vieles in Erinnerung bleiben – den Vorwurf, Homoki habe das Zürcher Publikum regelmässig mit radikal avanciertem Musiktheater irritiert, wird man dagegen nur von einigen Opernnostalgikern vernehmen. Nun aber das: Schon seit der vergangenen Saison mehren sich im Spielplan Produktionen, die mit der am Haus bislang vorherrschenden gemässigt modernen Ästhetik brechen.

Das begann mit der Erstaufführung von Roman Haubenstock-Ramatis visionärer Kafka-Oper «Amerika» und mit Calixto Bieitos provokativ zugespitzter, wenn auch im Ganzen missglückter Deutung von Verdis «Sizilianischer Vesper». Zu Beginn dieser Spielzeit liess Homoki selbst eine kompromisslose Lesart der «Ariadne auf Naxos» folgen, in der er so pointiert wie selten die Doppelbödigkeiten des Theaterbetriebes unter die Lupe nahm. Und im Verlauf dieser Saison soll auch noch eine Uraufführung von Beat Furrer zu sehen sein, ausgerechnet zum heiklen Thema Kolonialismus, auf dass niemand sage, die Oper Zürich habe den Anschluss an die Gegenwart verpasst. Das steht nun als Leitmotiv auch über der jüngsten Premiere, Kirill Serebrennikows Inszenierung der Oper «Leben mit einem Idioten» von Alfred Schnittke.

Ohne sowjetischen Kontext

Diese Schweizer Erstaufführung des 1992 für die Nederlandse Opera geschaffenen Werks ist fraglos die wildeste und womöglich aufregendste Produktion am Zürcher Haus seit langem. Denn sie arbeitet mit gekonnt eingesetztem scharfem Besteck heraus, was das Stück im Kern immer schon war: eine deftige Satire auf unser von inneren wie äusseren Konflikten überschattetes Zusammenleben – also eine auf sehr Privates zielende Provokation.

Der russische Regisseur, der seit 2022 im Exil lebt, bricht dafür mit der in Amsterdam etablierten Sichtweise, wonach es sich bei Schnittkes Oper um eine Auseinandersetzung mit Lenin und der zerstörerischen Wirkung seiner Ideologie auf das Leben der Menschen handle. In der Zürcher Produktion sind fast alle Verweise auf diesen ursprünglichen sowjetischen Kontext getilgt.

Um die dafür nötigen Eingriffe in den Werktext hatte es im Vorfeld einige Aufregung gegeben. Viktor Jerofejew, der Autor der literarischen Vorlage und des Librettos, der am Premierenabend in Zürich anwesend war, hatte sich jedoch offen für die Änderungen der Regie gezeigt. Was Serebrennikow nun aus dem Werk macht, wirkt ohne Zweifel gegenwärtiger und zugänglicher als die nur noch mit beträchtlichem Geschichtswissen verständliche Sowjet- und Lenin-Farce: Er erzählt «Leben mit einem Idioten» als blutigen Psycho-Krimi.

Darin wird ein Society-Pärchen – angeblich aus «Mangel an Mitgefühl» – dazu verurteilt, sein Dasein künftig mit einem «Idioten» zu teilen. Der zerstört das Leben des Paares gründlich, indem er dessen Designer-Wohnung verwüstet, die Frau schwängert und sich auch den Mann, den Ich-Erzähler aus Jerofejews Vorlage, gefügig macht. Serebrennikow sieht in dem Eindringling jedoch keinen von aussen hereinplatzenden Dritten, sondern eine Verkörperung der Ängste und bislang unterdrückten Aggressionen, die der Mann – auch in der Oper «Ich» genannt – mit sich herumträgt. Sie brechen nun so vehement hervor, dass «Ich» schliesslich tatenlos zusieht, als der Idiot seine Frau mit der Gartenschere enthauptet. Das ist nämlich ganz in seinem Sinne.

Hommage an Abramović

Bo Skovhus, der stimmlich eindringlich präsente Sänger des «Ich», macht aus der Rolle bei seinem verspäteten Opernhaus-Debüt einen Wiedergänger des Wozzeck, verquält und handlungsunfähig, den erst die Anwesenheit des «Idioten» dazu bringt, sich seinen traumatischen Kindheitserfahrungen und queeren Gelüsten zu stellen. Susanne Elmark gelingt im Gegenzug das Kunststück, die Frau aus der reinen Opferrolle zu befreien und selbstbewusst zu vertiefen. Ihre Ehe mit «Ich» ist ja längst ausgehöhlt; über dessen wortreiche Sprachlosigkeit tröstet sie sich mit demonstrativer Zuneigung zu dem Wort-Artisten Marcel Proust (Birger Radde) hinweg, der als eine Art Running Gag durchs Geschehen geistert. Ihre extrem exponierte Partie singt Elmark beeindruckend sicher, aber gelegentlich etwas schrill.

Die abgründigste Gestalt ist naturgemäss der Idiot selber. Serebrennikow spaltet ihn in zwei Figuren auf: Der Sänger Matthew Newlin ist in seinem schwarzen Dress mit Mütze unverkennbar ein Alter Ego des Regisseurs. Mit seinen vieldeutigen, in unterschiedlichsten Tonlagen hervorgestossenen «Äch!»-Rufen (etwas anderes kann er nicht) zieht er unermüdlich als diabolischer Conférencier im Hintergrund die Strippen. Für die drastische Darstellung der Ängste und Gelüste von «Ich» ist dagegen der Schauspieler Campbell Caspary zuständig, der unter anderem durch TV- und Netflix-Serien bekannt geworden ist.

Caspary ist in der Aufführung über weite Strecken nackt, und das mit einer Selbstverständlichkeit, die an den hohen Ernst der Performance-Künstler erinnert, die derzeit im Kunsthaus Zürich bei einer Retrospektive einschlägige Arbeiten von Marina Abramović nachstellen – «Imponderabilia» von 1977 wird sogar zitiert. Caspary agiert auf der Opernhausbühne indes noch deutlich offensiver, indem er seinen Körper ohne Scham in allen möglichen Posen ausstellt und so zur Projektionsfläche für die unausgesprochenen Wünsche, Aversionen und erotischen Begierden der Protagonisten macht.

Kein neuer Nackt-Skandal

Unwillkürlich erinnert man sich dabei an den mittelschweren Skandal, den jüngst eine ähnliche Nackt-Performance in Florentina Holzingers Stück «Sancta» an der Staatsoper Stuttgart hervorgerufen hat. Sollte Nacktheit, die im Theater des späten 20. Jahrhunderts so exzessiv zelebriert, damit letztlich aber auch sinnentleert wurde, in unseren moralisch restriktiven Zeiten wieder als Stein des Anstosses taugen? In Zürich ergreifen jedenfalls nur ganz wenige Besucher die Flucht. Das liegt auch an der Unbedingtheit von Casparys Spiel, der die Zuschauer, bar jeder vordergründigen Exhibition, mit Tabuvorstellungen konfrontiert.

Diese bedrängende Unmittelbarkeit macht die Qualität des Abends aus. Und sie hilft auch dem Werk. Denn trotz der schlüssigen Personenregie und vielen virtuosen Szenenwechseln in Serebrennikows Einheitsbühnenbild wäre Schnittkes Oper ohne diese Dringlichkeit eine ziemlich papierene Angelegenheit. Der russisch-deutsche Komponist, der neben Sofia Gubaidulina und Edison Denisov zu den wichtigsten Vertretern der Generation nach Schostakowitsch gehörte, pflegt in «Leben mit einem Idioten» einen kargen Altersstil, mit vorwiegend rezitativischer Textdeklamation und oft nur ein- bis zweistimmiger Begleitung. Von der Stil- und Genre-Vielfalt in Schnittkes früherem Schaffen, die ihm das Etikett «Polystilist» eingetragen hat, ist hier nur ein nostalgischer, aber aus einem älteren Stück übernommener Tango geblieben.

Jonathan Stockhammer und die teilweise im Zuschauerraum platzierte Philharmonia halten die Spannung dennoch die gesamten, ohne Pause durchlaufenden hundert Minuten der Aufführung aufrecht, allerdings mit sehr klangintensivem und perkussivem Spiel, das die Solisten bedrängt. Musikalisch am überzeugendsten gelingen die Szenen des Chores, der das Geschehen hier kommentierend begleitet wie in einer antiken Tragödie. Serebrennikow befreit den Chor szenisch aus jeder bloss passiven Rolle und nutzt dessen Einwürfe seinerseits für Kommentare und ironische Brechungen. Mehr Theater, mehr darstellerischer Einsatz sind kaum denkbar. Man sagt es nicht gern, aber es ist die Regie, die das Stück rettet und in Zürich zum Ereignis macht.

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