Dienstag, April 15

Eine Ära geht zu Ende, viel zu früh: Der Schweizer Choreograf schenkt seinem Publikum einen letzten fulminanten Abend. Ab Sommer hat sich der Ballettstar eine Auszeit im Tessin verordnet – ob er je an eine Bühne zurückkehren wird, ist offen.

Zum Schluss rührt Martin Schläpfer noch einmal mit der grossen Kelle an. Der Schweizer Choreograf zeigt, wohin er das Wiener Staatsballett in den letzten fünf Jahren als Ballettdirektor gebracht hat. Und was Wien mit seinem Weggang verlieren wird. Vor Wien hatte Schläpfer bereits in Mainz und Düsseldorf Kompanien von Weltrang geformt, doch nun will der 65-Jährige nicht länger Ballettdirektor sein. Zu gross war ihm die Doppelbelastung als Direktor und Künstler geworden. In den vergangenen Wochen habe er erfahren, wie sehr ihm weniger administrative Arbeit Zeit und Raum für das Künstlerische gegeben habe, sagt Schläpfer, merklich entspannt, vor seiner letzten Premiere in Wien.

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«Pathétique» nennt er den dreiteiligen Abend nach seinem gleichnamigen Ballett zu Peter Tschaikowskys 6. Sinfonie. Dieser grossartigen Choreografie setzt er Arbeiten zweier Tanzpioniere voran: George Balanchines «Divertimento Nr. 15» zur Musik von Mozart und Merce Cunninghams «Summerspace» zu «Ixion» für zwei Klaviere von Morton Feldman. Beide Choreografien sind mit zwei Jahren Abstand im New York der 1950er Jahre entstanden. Beide Künstler waren radikal, hätten aber kaum unterschiedlicher sein können.

Der Russe Balanchine hat in den USA den klassischen Tanz von Narration, Pathos und überflüssiger Dekoration entschlackt – mit seinem Stil wurde er zum wichtigsten Repräsentanten des Neoklassizismus. Merce Cunningham hat den Tanz ebenfalls von Bedeutung und Pathos entschlackt, ihn aber auch von der Musik abgekoppelt. Er schuf seine Tänze zunehmend unabhängig von der Arbeit von Komponisten wie John Cage oder Feldman. Dass nun das Wiener Staatsballett solche Werke tanzt – und so gut tanzt –, ist keineswegs selbstverständlich.

Er misstraut der Harmonie

Lange Zeit wurde hier, zuletzt unter Manuel Legris, einem ehemaligen Startänzer der Pariser Oper, vorwiegend Handlungsballett getanzt. Martin Schläpfer hat das Repertoire merklich um zeitgenössische Arbeiten erweitert und andere Traditionslinien aufgezeigt. Vor allem aber hat er dem Wiener Staatsballett eine eigene choreografische Handschrift verliehen. Genau dies wurde ihm, seltsamerweise, von der Wiener Tanzkritik angekreidet.

Nun setzt er sein letztes Ballett «Pathétique» neben Schlüsselwerke wie «Summerspace» und «Divertimento Nr. 15». Was verbindet ihn mit Balanchine und Cunningham? Als Tänzer habe er Balanchine nicht besonders gemocht, verrät er – als Ballettdirektor hingegen schon. Cunningham fasziniert ihn, seit er angefangen hat, zu Musik zu choreografieren, die nach Zufallsprinzip entstanden ist und sich gängigen Harmoniefolgen entzieht.

Schläpfer selbst ist ein überaus musikalischer Choreograf. Seine frühen Jahre als Tänzer bei Heinz Spoerli haben ihn Musik «sehen» gelehrt, wie er sagt. Das hat sich in seinen Körper gebrannt. Gleichzeitig aber ist in ihm, seit er vor über dreissig Jahren erste eigene Choreografien schuf, der Widerstand gegen jede vorschnelle Harmonie gewachsen: Was immer aus der Musik heraus an Wunderbarem entsteht – in seinen Choreografien lässt er oft dagegen anrennen. Was wächst, lässt er fallen – um es dann, im letzten Moment, wieder aufzufangen. Wie nun auch in «Pathétique».

Thomas Mika hat als Bühnenraum für das Ballett eine Seelenlandschaft aus Vorhängen geschaffen, die wie Eiszapfen aussehen, sich aber luftig wie Schneeflocken bewegen. Darin oszilliert auch die knapp einstündige Choreografie zwischen Härte und Sanftmut, zwischen Wunsch nach Harmonie und Widerstand, zwischen Aufbäumen und Loslassen. Sie bewegt sich von Schmerz und Trauer zu Verzweiflung – um dann doch, vielleicht, zu etwas wie Hoffnung zu finden. Wieder und wieder fangen die Männer die Frauen auf, im letzten Moment. Die Frauen rammen ihre Spitzenschuhe in den Boden, als gelte es, diesen aufzubrechen. Männer gehen zu Boden und verzittern sich in schmerzhaften Krämpfen.

Vieles geschieht gleichzeitig, nebeneinander – ein Wimmelbild von einem Ballett, das die 45 Tänzerinnen und Tänzer in kurzen Soli und kleinsten Gruppen je in ihrer ganz eigenen Farbe ausgestalten. Als der letzte Ton von Tschaikowskys aufwühlender «Symphonie pathétique» ausklingt, als ein Tänzer entkräftet vom Zittern wie leblos am Boden liegt, stimmt die Sopranistin Florina Ilie die Arie «Süsse Stille» von Georg Friedrich Händel an, und die Lebenden reichen dem Toten die Hand.

Auszeit mit offenem Ende

Das ist Martin Schläpfer at his best. Und das ist klassisches Ballett, das dennoch ganz von heute ist. Altmeisterlich spielt der Künstler auf der Klaviatur des Balletts wie auch des modernen Tanzes. Er ist kein Bilderstürmer, er dekonstruiert nicht die Bewegungen – er verschiebt Phrasen und Bilder nur leicht, lässt da und dort etwas in Schieflage geraten. Damit bricht er die schöne Linie und stört jeden bloss nostalgischen Blick der Zuschauenden auf die Balletttradition. Das kann durchaus provozieren.

Und Schläpfer hat in Wien offenbar provoziert. Zumindest die Medien, die von Anfang an manches an seiner Arbeit auszusetzen fanden. «Wir hatten mitten in der Pandemie einen schwierigen Start. Wir haben immer geprobt, mit zweimal testen pro Tag, haben aber trotzdem fast keine Vorstellungen spielen können», erinnert er sich im Gespräch. Zudem erbte er als Ballettdirektor bei seinem Amtsantritt eine Ballettschule, die neu aufgestellt und auch baulich saniert werden musste.

Trotz allen Widerständen hat Martin Schläpfer in Wien sein Publikum gefunden. Das Ballett hat inzwischen traumhafte Auslastungszahlen. «Zunehmend haben wir auch ein jüngeres, durchmischtes Publikum und vor allem ein begeistertes Publikum. So, dass man jetzt eigentlich bleiben müsste.» Doch fünf Jahre seien genug. «Pathétique» ist nicht nur seine letzte Arbeit für Wien – es soll auch seine letzte Arbeit überhaupt sein.

Zumindest vorläufig. «Nach dreissig Jahren nonstop als Ballettdirektor will ich nicht nur ein Sabbatical nehmen, sondern einmal innehalten und eine Seite von mir ausleben, nach der ich mich auch sehne.» Hoch in die Berge zieht es ihn, ins Tessin, wo Schläpfer ein Rustico hat. «Da will ich einfach sein, sitzen und lesen und denken und herausfinden, was ich noch machen will. Man geht als Tänzer und auch als Choreograf einfach so durch die Jahre und hat das Gefühl, man müsse immer weiter und weiter gehen.»

Die Tanzwelt kann nur hoffen, dass er irgendwann wieder von seinem Berg heruntersteigt und in einen Ballettsaal tanzt. Einen Choreografen, der so versiert mit dem klassischen Vokabular zu spielen weiss, findet man nicht so schnell wieder. Weltweit nicht. Seine Nachfolge in Wien übernimmt im Sommer die italienische Primaballerina Alessandra Ferri. Sie choreografiert nicht. Und hat nächste Spielzeit auch kein Werk von Schläpfer auf dem Programm.

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