Der Kanton Zürich hat die Förderklasseninitiative angenommen. Besuch an einem Ort, der deren Ziele längst umsetzt.

Der Junge trägt Spider-Man-Socken, grüne Adiletten, und ins Gesicht geschrieben steht ihm jene Verzweiflung, die nur eine unmögliche Mathe-Aufgabe auslösen kann.

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«Acht», sagt er und blickt auf die Holzfigürchen, die vor ihm stehen. «Minus vier. Gleich . . .»

Er schielt hoch zu seinem Lehrer. Wieder hinunter, zu den Figürchen, von denen vier stehen, vier liegen. Und sagt dann: «Eins.»

Falsch. Seine Hand landet im Gesicht, dann auf den Figuren, die er quer über den Boden wischt. «Zu schwer!», sagt er, springt auf und rennt einmal im Kreis um den Klassenkameraden, der ihm gegenübersitzt.

«Denk an die Smarties», sagt Fabian Künzi, 32, sein Lehrer, und das Gesicht des Jungen wird weich, wehmütig. Die Smarties! Mit ihnen hat er das Minusrechnen nur wenige Minuten zuvor geübt, nur leicht behindert durch die ultimative Subtraktion: gelegentliches Naschen.

«Zuerst hast du alle Smarties, dann isst du vier, und es bleiben . . .» Spider-Man bleibt stehen, blickt zur Decke, wieder zu den Figürchen, beginnt zu zählen. «Ah, Sie!», sagt er dann, «ich weiss! Es sind vier.»

Neidische Blicke, ein bisschen Anerkennung. Acht Kinder – vier Buben, vier Mädchen – sitzen über das Schulzimmer verteilt am Boden. Alle sind sechs Jahre alt und ringen mit den farbigen Figürchen, denen sie Rechnungen abtrotzen sollen. Und ein bisschen auch ihre Zukunft.

Regensdorf in der Zürcher Agglomeration. Baukräne, Wohnblöcke, leere Industriegebäude. Hier liegt, an der Schulhausstrasse, das Schulhaus, in dem Spider-Man und seine Kameraden rechnen lernen. Sie tun das in einem Setting, das speziell für lernschwache und verhaltensauffällige Kinder geschaffen wurde: in der Kleinklasse.

Vor wenigen Jahrzehnten gab es solche Klassen noch in so gut wie jeder Gemeinde. Unterdessen sind sie – obwohl weiterhin erlaubt – aus dem Zürcher, ja dem Schweizer Schulsystem fast verschwunden. Abgelöst von einem System der integrativen Förderung, in dem schwierige Schüler in regulären Klassen unterrichtet werden, unterstützt von Heilpädagogen.

Regensdorf hat diesem Trend getrotzt. Und wird damit zum Vorbild. Denn: Die Kleinklassen stehen vor einem bemerkenswerten Comeback. Kürzlich hat das Zürcher Kantonsparlament beschlossen, sie wieder einzuführen. Es hat eine entsprechende Volksinitiative der FDP und der GLP, die Förderklasseninitiative, für angenommen erklärt.

Gemäss ihr müssen künftig «alle Kinder im Kanton Zürich bei Bedarf Zugang zu heilpädagogisch geführten Förderklassen haben». Wie das in der Praxis funktionieren soll, ist noch offen. Die Zürcher Bildungsdirektion muss dafür nun einen Vorschlag erarbeiten.

Damit liegt die Zukunft der Volksschule plötzlich in der vergessenen Agglo-Gemeinde Regensdorf – in Klassenzimmern wie dem von Fabian Künzi.

Stühle aus glühenden Kohlen

Hier haben manche Kinder eine Spracherwerbsstörung, andere können Ziffern nicht richtig erkennen. Es gibt Introvertierte, die in der Regelklasse zu kurz kämen. Und solche, die als verhaltensauffällig gelten. «Sie haben einen riesigen Spiel- und Bewegungstrieb», sagt Künzi. «Ich kann sie keine Minute aus den Augen lassen.»

Deshalb verbringen sie ihr erstes Schuljahr bei ihm, bevor sie – idealerweise – in eine reguläre Klasse kommen. Es ist ein Modell der temporären Separation, das Regensdorf auch auf ältere Schüler anwendet, in einer Kleinklasse für Viert- bis Sechstklässler, also Neun- bis Zwölfjährige.

Beat Hartmann verantwortet dieses Modell. Er ist 48, von Beruf Jugendarbeiter und der gewählte Schulpräsident der Gemeinde. Eigentlich sei er ein Freund der schulischen Integration, sagt Hartmann. «Trotz allen Unterschieden miteinander auskommen – wo sollen wir das lernen, wenn nicht in der Schule?»

Und doch: «Die Bedürfnisse der Kinder sind am Ende wichtiger als der integrative Grundsatz.» Und diese Bedürfnisse liessen sich manchmal eben nur in einer separaten Klasse erfüllen.

Die hitzige Debatte um Kleinklassen, die die Schweizer Bildungspolitik in den vergangenen Jahren erfasst hat, beobachtet Hartmann distanziert. Sie komme ihm abstrakt vor, geprägt von einem falschen Gegensatz.

Kleinklasse oder Integration? Alle zusammen oder alle getrennt? Regensdorf hat auf dieses Entweder-oder eine überraschende Antwort: Das eine schliesst das andere nicht aus. Die beiden Modelle können in derselben Schule nebeneinander Platz finden.

Nur ein Schulhaus von der Kleinklasse entfernt führt die Gemeinde beispielsweise eine «Schulinsel» – ein klassisches Instrument aus dem integrativen Unterricht. Ein Raum, betreut von einer Heilpädagogin, in den schwierige Schüler für kurze Time-outs geschickt werden.

Dort landen die Kinder, die temporäre Aussetzer haben und sich rasch beruhigen. In die Kleinklasse kommen dagegen jene, die ständig mehr Betreuung brauchen.

Kinder wie Spider-Man und seine Kameraden, die an diesem Dienstagvormittag mit dem Minusrechnen kämpfen. Die Klasse sitzt unterdessen im Kreis, soll zuhören. Doch es ist, als ob die Stühlchen aus glühenden Kohlen bestünden – die Schüler hüpfen, rutschen, schlängeln die Füsse um die Stuhlbeine.

Nur ein Mädchen sitzt still und pausbäckig da. Nickt oft, als habe sie verstanden. Zuvor, in der Pause, hat sie selbstgebastelte Laubblätter aus grünem Papier verschenkt.

Nun fragt ihr Lehrer sie, was 1–1 ergebe. Sie blickt zu ihrer Nachbarin, nach unten, schlägt die Hände vor den Mund. Dann ruft sie: «Oyoyoy!» Und schweigt.

Ein Ventil für ein überlastetes System

Die Kleinklassen verfolgen in Regensdorf ein doppeltes Ziel: zum einen Kinder erreichen, die anderswo zu kurz kämen – etwa weil sie nicht um Hilfe bitten oder sich nicht allein konzentrieren können. Und zum anderen: die Regelklassen entlasten.

Dort sind die Niveaus mit der schulischen Integration tendenziell auseinandergedriftet. Während die Kleinklässler verschwanden, stieg die Sonderschulquote rasant an. Die Anzahl Kinder mit Förderbedarf steigt im ganzen Kanton – und mit ihnen die Zahl der Hilfskräfte im Schulzimmer. Gleichzeitig fehlen Hunderte schulische Heilpädagogen.

Als Folge kommen auf der einen Seite viele reguläre Lehrpersonen an ihre Belastungsgrenze. Auf der anderen Seite werden Sonderschulen – auch private – von Anfragen überhäuft.

In einer solchen Situation könne eine Kleinklasse wie ein Ventil wirken, sagt Hartmann – eines, das den betroffenen Kindern helfe und gleichzeitig das System entlaste.

Der Zürcher Lehrerverband warnt davor, dass es schwierig sei, Lehrpersonen für separierte Klassen zu gewinnen. Die Arbeit sei schwierig und unattraktiv. In Regensdorf hat man diesbezüglich andere Erfahrungen gemacht.

Als schulischer Heilpädagoge kurz vor dem Masterabschluss könnte Fabian Künzi problemlos eine Stelle im integrativen Bereich finden. Doch er habe lieber seine eigene Klasse, sagt er. «So bin ich immer da, kenne die Kinder, habe die Übersicht.»

Das Jahr bei ihm vergleiche er oft mit einem Zwischenjahr. «Manche Eltern finden es im ersten Moment schlimm, dass ihr Kind zu mir kommt», sagt er. «Ich finde, es ist eine Chance.»

Im Unterricht ist gerade die schwierigste Zeit des Tages: die, wenn die Kinder ein Arbeitsblatt lösen müssen. Allein und still. Nur für sich.

Ein Junge mit Traktor-Socken und Traktor-Pulli ist besonders schnell. Ein paar Minuten, und er hat alle Aufgaben gelöst – nur leider, indem er zufällige Zahlen in die Lösungsfelder schreibt. «Fertig!» – «Verbessern!» – «Wieder fertig!» – «Nochmals verbessern!»

Das Problem ist das Geld

Regensdorf ist nicht die einzige Gemeinde im Kanton Zürich, die mit Kleinklassen gute Erfahrungen macht. In sechs anderen gibt es sogenannte Einschulungsklassen wie die von Fabian Künzi. In vier weiteren gibt es Kleinklassen für ältere Primar- oder Sekundarschüler.

Es sind vor allem Orte mit tieferen Einkommen, hoher Sozialhilfequote und vielen Nichtmuttersprachlern, wo solche Klassen geführt werden. Etwa Dietikon, wo der Ausländeranteil kantonsweit am höchsten ist. Winterthur, Spitzenreiter bei der Sozialhilfequote. Oder Schlieren, Platz zwei beim Anteil fremdsprachiger Schulkinder.

Die Schwerpunkte sind dabei sehr unterschiedlich: In Dietikon stehen Kinder mit schwierigen Familienverhältnissen im Zentrum, in Schlieren und Weiningen die Lernschwachen und Introvertierten. In Winterthur richtet man sich eher an solche mit Verhaltensproblemen und psychischen Leiden. Hombrechtikon war nicht in der Lage, Fragen zum Thema zu beantworten.

Bemerkenswert ist, dass keine der angefragten Kleinklassengemeinden der schulischen Integration den Kampf angesagt hat. Im Gegenteil: Überall ist man überzeugt davon, dass Kleinklassen ihr langfristig nützen – weil Schüler dort auf die Rückkehr in den regulären Unterricht vorbereitet würden.

Das grösste Problem mit dem Modell ist demnach kein pädagogisches, sondern ein finanzielles.

Ein Schüler in einer Kleinklasse koste gut doppelt so viel wie ein Regelschüler, sagt Hartmann. Eine andere Gemeindevertreterin spricht von einer «Luxuslösung», die auf Kosten der anderen Kinder gehe.

Denn: Was die Schulen für Kleinklassen ausgeben, müssen sie wiederum beim Regelunterricht sparen. Das heisst: grössere Klassen, weniger integrative Heilpädagogen. Diese Abwägung ist mit ein Grund dafür, weshalb derzeit so wenige Zürcher Gemeinden Kleinklassen anbieten.

Das Preisschild wird entsprechend auch bei der Umsetzung der Förderklasseninitiative ein zentrales Thema sein. Die Kleinklassenbefürworter, die im Kantonsparlament obsiegten, gaben sich überzeugt, dass es damit keine Mehrkosten, ja gar Einsparungen geben werde. Gemeindevertreter mit solchen Klassen sind diesbezüglich jedoch skeptisch.

In Regensdorf, beim Lehrer Fabian Künzi, fehlen derweil nur noch wenige Minuten bis zur Mittagspause. Die Klasse sitzt ein letztes Mal im Kreis zusammen. «Schliesst die Augen», sagt Künzi. «Und zeigt mit Daumen hoch, Daumen runter, wie schwierig diese Stunde für euch war.»

Ein Drittel streckt den Daumen hoch, ein Drittel streckt ihn nach unten, der Rest hält ihn in der Mitte. Und alle, wirklich alle öffnen die Augen einen Spalt weit und schielen zu den Händen der anderen.

Dann läutet die Schulglocke, und es ist kein Halten mehr. Kurz nur geben Spider-Man und seine Freunde ihrem Lehrer die Hand. Dann rennen sie zur Garderobe, ringen mit ihren Schuhen, vergessen ihre Turnsäcke. Und verteilen die Smarties, aus denen sie eben noch Rechnungen pressen mussten, fröhlich auf dem ganzen Pausenplatz.

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