Sie sind die zwei grossen Umweltkrisen der Gegenwart: der Verlust der Biodiversität und die Klimaerwärmung. Beide stellen eine Gefahr für die Menschheit dar. Doch an gewissen Orten stehen sich ihre Lösungen im Weg. Zum Beispiel im Norden von Basel.

Früher flatterte der Alexis-Bläuling über viele warme Wiesen in unserer Umgebung. Heute ist der kleine, bläuliche Schmetterling nur noch sehr selten anzutreffen. In unserer aufgeräumten Landschaft findet er kaum mehr Platz. Ähnlich geht es der Schlingnatter, einer kleinen, harmlosen Schlange. Sie ist auf der Roten Liste der Reptilien in der Schweiz des Bundesamts für Umwelt neu als stark gefährdet aufgeführt. Und auch der Sand-Wegerich, eine stengelige Pflanze mit abstehenden, schmalen Blättern, kommt in der Schweiz kaum vor. Nur hier.

Hier, das ist der Badische Bahnhof im Norden Basels. Hier fliesst der Rhein aus der Schweiz nach Deutschland und Frankreich. Hier verkehren Güterzüge zwischen Rotterdam und Genua. Hier kommen Schifffahrt, Zuggleise und Autobahn zu einem Verkehrsknotenpunkt zusammen. Gleichzeitig ist der Ort ein Lebensraum für Tiere und Pflanzen, die im Norden und im Süden, im Osten und im Westen zu Hause sind. Es ist auch der Knotenpunkt ihres Vernetzungskorridors.

Bis anhin kommen der ökologische und der menschliche Verkehrsstrom aneinander vorbei. Doch das ist vielleicht bald anders: Mit dem Gateway Basel Nord soll an der Grenze zu Deutschland und Frankreich ein neues Umschlagsterminal entstehen, das den Güterverkehr effizient von Strasse und Fluss auf die Schiene verlagert. Die verantwortliche Gateway Basel Nord AG rechnet vor, dass der Warenumschlag vom Schiff auf die Schiene von heute 10 auf künftig 50 Prozent erhöht werden könnte und damit über 100 000 Lkw-Fahrten pro Jahr eingespart würden.

Der Handel sagt Ja zum neuen Terminal, die Politik sagt Ja, die Basler Bevölkerung hat im Jahr 2020 dem Ausbau des Hafens zugestimmt. Jon Pult, der Bündner SP-Nationalrat und Präsident der Alpeninitiative, die die Alpen vor Transitverkehr schützen will, sagte 2023 im Dokumentarfilm «Bahnhof der Schmetterlinge» über das Areal: «Der Status quo des Güterumschlags in Basel ist katastrophal aus Sicht der Verlagerungspolitik.» Der Ausbau wäre gut fürs Klima – doch er bedroht den letzten Lebensraum des Alexis-Bläulings und anderer Pflanzen- und Tierarten.

An Orten wie dem Badischen Bahnhof stellt sich deshalb die Frage: Schützen wir das Klima, oder schützen wir die Artenvielfalt? Unsere Lösungen für die beiden grössten Umweltkrisen der Gegenwart – Klimaerwärmung und Verlust der Biodiversität – konkurrieren sich. Dabei sind beide allein eine Gefahr für unsere Existenz. Gemeinsam verstärken sie sich, und sie sind enger miteinander verknüpft, als wir denken.

Zwischen Autobahn und Zuggleis, zwischen Industrie und Deutschland liegt beim Badischen Bahnhof einer der bedeutendsten Trockenlebensräume der Schweiz. Das «Bundesinventar der Trockenwiesen und -weiden von nationaler Bedeutung Tww» listet die fast zwanzig Hektaren grosse Fläche auf und bezeichnet sie als Singularität, was sie besonders schützenswert macht. Es ist das Areal des ehemaligen Rangierbahnhofs der Deutschen Bahn. Seit es nicht mehr befahren wird, weist es einen grossen Artenreichtum auf: rund 600 Insekten- und 400 Pflanzenarten, davon etwa 100, die auf verschiedenen Roten Listen der gefährdeten Arten stehen. Der Alexis-Bläuling eben, die Schlingnatter, der Sand-Wegerich.

«Ein Gebiet von diesem Wert ist nicht ersetzbar», sagt Daniel Rüetschi, Biologe und wissenschaftlicher Mitarbeiter von Pro Natura Basel: «Es ist nicht so, dass wir gerne vor Gericht ziehen. Doch wollen wir Anwälte der Natur sein, dann sind wir hier zu einem Rechtsverfahren gezwungen.»

Im vergangenen September hat das Bundesamt für Verkehr dem Gateway Basel Nord die Baubewilligung für die erste Ausbaustufe erteilt. Diese beinhaltet das Umladen von internationalen auf nationale Güterzüge sowie von der Bahn auf die Strasse. Der Ausbau des Hafens, der grösste Eingriff vor Ort, gehört nicht in diese erste Ausbaustufe und ist noch nicht bewilligt. Im vorangegangenen Genehmigungsverfahren ging es vor allem um die Frage, welche Ersatzflächen die Überbauung der Trockenwiese kompensieren. Nach Vorschlag der Gateway Basel Nord AG kämen diese neu in Form von kleineren Flächen über die Region verteilt zu liegen, die zusammengezählt eine grössere Fläche als bisher ergeben.

Pro Natura und andere Umweltorganisationen haben gegen diese Plangenehmigung Beschwerde eingereicht. Das Hauptargument: Ohne den Hafen ist das neue Terminal nicht an diesen Standort gebunden, es könnte irgendwo stehen und muss nicht die Existenz einer geschützten Trockenwiese von nationaler Bedeutung bedrohen. Nun muss das Bundesverwaltungsgericht über die Frage «Klimaschutz oder Naturschutz?» entscheiden.

Klima und Biodiversität beeinflussen sich gegenseitig

Klima und Natur werden immer wieder gegeneinander ausgespielt. Nicht nur beim Badischen Bahnhof in Basel. Das geschieht beispielsweise auch beim Bau neuer Wasser-, Wind- oder Solarkraftwerke in den Bergen. Die Frage, was wichtiger ist, lässt sich nicht beantworten. Und doch hat meist die Natur das Nachsehen. Darum sehen sich Umweltorganisationen wie Pro Natura gezwungen, sich für diese Seite einzusetzen. Doch eigentlich sagt der Biologe Daniel Rüetschi: «Die eine Krise ohne die andere zu lösen, geht nicht. Es sind Zwillingskrisen, die sich gegenseitig verursachen, bedingen und zur Folge haben. Auch wenn wir die Lösung für eine Krise finden, hat die andere noch immer das Potenzial, die menschliche Zivilisation auszulöschen. Wir brauchen Massnahmen für beide gleichzeitig.»

Eine der grössten Bedrohungen für die Biodiversität ist der menschengemachte Klimawandel. Wird es schnell wärmer, verschwinden kälteliebende Tiere und Pflanzen – eine von zehn Arten dürfte bei einer globalen Erwärmung von zwei Grad aussterben. Doch umgekehrt besteht ebenso ein Zusammenhang: Der Verlust der Artenvielfalt verstärkt den Klimawandel. Je einfältiger Wälder und andere Ökosysteme werden, desto mehr verlieren sie ihre Fähigkeit, sich selbst zu schützen, desto eher fallen sie grossen Bränden zum Opfer, was das Klima zusätzlich erhitzt. Oder je mehr diversen Regenwald wir für Viehweiden und Sojaplantagen abholzen, desto mehr nimmt seine Fähigkeit ab, als Temperatur- und Feuchteregulator zu wirken. Was die Klimasysteme der ganzen Welt beeinflusst.

Es geht bei dem Versuch, den Verlust der Biodiversität zu reduzieren, also um die Rettung unserer Lebensgrundlage. Dass der Naturschutz im Vergleich mit dem Klimaschutz meist Zweiter macht, hat damit zu tun, dass sein Wert auf den ersten Blick kaum sichtbar ist. «Dass es heisser wird, hat bald jeder gemerkt», sagt der Pro-Natura-Biologe Daniel Rüetschi, «dass das Autofenster nicht mehr voller Mücken ist wie früher, ist ein schleichender Prozess – und eigentlich ganz praktisch.»

Rüetschi vergleicht den Verlust der Biodiversität mit dem Geschicklichkeitsspiel Jenga: Aus dem Turm aus Holzklötzchen ziehen wir Bausteine. Übertragen auf die Biodiversität, ist jedes entfernte Holzklötzchen eine Tier- oder Pflanzenart, die ausstirbt. Das geht lange gut. Doch irgendwann ziehen wir das eine Klötzchen zu viel aus dem Jenga-Turm – so können ganze Lebensräume zusammenbrechen, und zwar sehr schnell. In der Natur nennt man diese relevanten Bausteine «keystone species», Schlüsselarten. Ihr Verlust verändert alles.

Ist der Alexis-Bläuling, der kleine, blaue Schmetterling, eine Schlüsselart? Kann er einen Güterzug stoppen? Den Klimaschutz gegen den Biodiversitätsschutz auszuspielen, kann nicht im Sinne der Gesellschaft sein. Und doch ist es im Beispiel Badischer Bahnhof das Gericht, das Gewinner und Verlierer bestimmen muss. Das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts wird spätestens im nächsten Jahr erwartet. Beide Parteien – die Gateway Basel Nord AG und Pro Natura Basel – gehen davon aus, dass jeweils ihre Argumente überzeugen.

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