Riesiger Kohleverbrauch, starkes Wirtschaftswachstum: Dieses Szenario dominierte lange Zeit Klimastudien und Klimapolitik. Doch jetzt wendet sich die Fachwelt davon ab. Gut so!
Die Erderwärmung schreitet fort – der Januar war laut Klimaforschern der wärmste seit Messbeginn. Lösungen sind dringend gefragt. Man will wissen, wie viel eine entschlossene globale Klimapolitik bringen würde. Und zum Vergleich wollen wir auch wissen, was passieren würde, wenn wir zu wenig für das Klima tun.
Diese Fragen sind schwer zu beantworten. Im Idealfall versucht man, die Antworten mit plausiblen Zahlen zu belegen, aber in der Vergangenheit ist das zu selten passiert. Stattdessen hat man sich oft auf spekulative Extremszenarien gestützt, die zu emotionalisierten Worst-Case-Schilderungen einluden. Dadurch wurde der Klimapolitik in der Öffentlichkeit eine Last aufgebürdet, die sie gar nicht schultern muss.
Doch jetzt ändert sich endlich etwas – die Extremszenarien werden allmählich ausrangiert. Es wird auch höchste Zeit.
Klimavorhersagen hängen von vielen Faktoren ab
Um abschätzen zu können, wie wirksam entschlossene Klimapolitik wäre, fertigen Wissenschafter Vorhersagen der Temperatur, des Niederschlags und anderer klimatologischer Messgrössen an. Sie starten diese Vorhersagen unter verschiedenen Voraussetzungen: Einmal stösst die Menschheit sehr viele Treibhausgase aus, einmal eine mittelgrosse Menge, einmal ganz wenig.
Je nach Höhe des Treibhausgasausstosses fällt der Klimawandel bis zum Jahr 2100 unterschiedlich stark aus. In den Berichten des Uno-Klimarats ist zum Beispiel zu lesen: Bei entschlossener Klimapolitik bleibt die Erderwärmung unter 1,5 Grad. Bei mittelmässigem Klimaschutz wird es knapp 3 Grad wärmer. Bei besonders hohen Emissionen, ohne nennenswerten Klimaschutz, könnte die Temperatur um 5 Grad steigen. Das zöge einen extremen Anstieg des Meeresspiegels und andere gravierende Folgen nach sich.
Das Problem ist nur: Die Vorhersagen sind teilweise extrem, und das liegt an ihrer Datengrundlage. Die Vorhersagen hängen von Szenarien ab, die beschreiben, wie viele Treibhausgase in Zukunft ausgestossen werden. Dieser Ausstoss wird von vielen Faktoren bestimmt: vom Bevölkerungswachstum ebenso wie von den Energiequellen und vom Wirtschaftswachstum. Teilweise wurden in den Szenarien für diese Faktoren äusserst unrealistische Annahmen gemacht.
Problematisch ist das Szenario mit den höchsten Emissionen
Laut dem höchsten Szenario würden nach 2060 pro Jahr mehr als 100 Milliarden Tonnen CO2 emittiert – das wäre mehr als doppelt so viel wie heute. Macht man Vorhersagen mit diesem extremen Szenario, kommt die eingangs erwähnte Erwärmung um 5 Grad heraus.
Doch das höchste Szenario basiert auf Voraussetzungen, die heute nicht mehr als realistisch angesehen werden. Viele Wissenschafter sagen, sie seien es nie gewesen.
Eine dieser Voraussetzungen lautet, dass der Kohleverbrauch bis 2100 deutlich wächst – er müsste sich mindestens verdoppeln, vielleicht sogar noch viel stärker zunehmen. Das war immer sehr spekulativ gedacht und ist heute keine plausible Annahme mehr. Laut der International Energy Agency wird der weltweite Kohleverbrauch in den kommenden Jahren stagnieren. Viele Länder wollen sich von der Kohle lösen.
Gleichzeitig müsste der Zuwachs erneuerbarer Energiequellen sehr schwach sein, was den neusten Zahlen völlig widerspricht. Es ist vielmehr so, dass der Ausbau in den vergangenen Jahren die Prognosen jeweils weit übertraf. Die Solarenergie zum Beispiel erlebt derzeit einen Boom, der seinesgleichen sucht.
Ferner geht das höchste Emissionsszenario von einem viel zu hohen Wirtschaftswachstum aus. In den vergangenen Jahren hat sich das Wachstum aber abgeschwächt. Auch das Bevölkerungswachstum, das für das Szenario vorausgesetzt wird, ist nicht realistisch. Mehrere Institutionen haben ihre Prognosen nach unten revidiert, etwa das Department of Economic and Social Affairs der Vereinten Nationen.
Kein Business as usual mehr
Trotz seinen unplausiblen Voraussetzungen war das Szenario mit den höchsten Emissionen noch vor wenigen Jahren dasjenige, das in Studien zu den Auswirkungen des Klimawandels mit Abstand am häufigsten verwendet wurde. Oft wurde es fälschlich als «Business-as-usual-Szenario» bezeichnet. Dabei trifft dieses Label gar nicht zu: Selbst wenn wir weiter wirtschafteten wie bisher, wären die künftigen Emissionen viel geringer.
Inzwischen nimmt die Verwendung des Maximalszenarios in der Wissenschaft ab. Doch viele Medien stürzen sich nach wie vor begierig auf Studien, die aufgrund dieses Szenarios heftige Folgen des Klimawandels herausgefunden haben. Für emotionalisierte Schreckensschilderungen finden sie darin viel Nahrung.
Es wäre allerdings unangebracht, pauschal auf allen Studien herumzuhacken, die das Maximalszenario verwendet haben. Rein wissenschaftlich betrachtet kann es Sinn ergeben, hohe Emissionen vorauszusetzen, denn dann ist die klimatische Reaktion besonders klar erkennbar. Doch die Bezeichnung des Szenarios und die Kommunikation in Medienmitteilungen müssen stimmen. Und Medien sollten die Ergebnisse von Studien, die darauf basieren, richtig einordnen.
Dieses Problem ist kein rein semantisches; es hat auch Auswirkungen auf die Politik und die Ökonomie.
Der Einfluss der Emissionsszenarien könne kaum überschätzt werden, schrieben Matthew Burgess und Ashley Dancer Anfang Jahr im Fachblatt «Nature Climate Change». Auf diesen Szenarien basierten nicht nur Vorhersagen des Klimas, sondern auch die Beratungen der Vereinten Nationen darüber, wie viel reiche Länder ärmeren Ländern für Klimaschäden zu zahlen hätten. Informationen, die Banken und Versicherungen bei Entscheidungen über den Klimaschutz und die Anpassung an den Klimawandel unterstützten, gründeten ebenfalls darauf.
Sollte die Wirksamkeit entschlossener Klimapolitik veranschaulicht werden, wurde in der Vergangenheit oft ein Vergleich angestellt. Dabei spielte das höchste Szenario eine wichtige Rolle: Verglichen wurde üblicherweise das Szenario mit den höchsten Treibhausgasemissionen mit einem Szenario mit den geringsten Emissionen. Der Unterschied in der Erwärmung (5 Grad contra 1, 5 Grad) war dann sehr gross – so gross, dass der Eindruck entstand, Klimapolitik sei geradezu in der Lage, den Unterschied zwischen Hölle und Paradies auszumachen.
Um Klimapolitik zu prüfen, braucht es plausible Zahlen
Nun soll hier keineswegs in Abrede gestellt werden, dass Klimapolitik sinnvoll ist, sofern man Nutzen und Kosten der Massnahmen klug abwägt und andere politische Ziele in die Einschätzung einbezieht – zum Beispiel das Ziel, armen Ländern kostengünstige Energiequellen zu erschliessen. Übertreibungen sind aber nicht angebracht, um den Nutzen klimapolitischer Massnahmen herauszustreichen. Die Effektivität sollte anhand plausibler Zahlen demonstriert werden, sonst werden aus den Informationen falsche Entscheide abgeleitet. Ausserdem leidet die Glaubwürdigkeit.
Die Rufe aus der Wissenschaft, bei der Nutzung und der Kommunikation der Szenarien genauer hinzusehen, werden zum Glück immer lauter. Burgess und Dancer haben zum Beispiel vorgeschlagen, das höchste Szenario als «emissions world avoided» zu bezeichnen – also als eine fiktive Zukunft mit extrem hohen Treibhausgasemissionen, die vermieden werden konnte.
Ein realistischer Blick auf die Klimapolitik zeigt: Eine Erwärmung um 1,5 Grad ist praktisch unabwendbar. Es wird eine gewaltige Herausforderung sein, die 2-Grad-Marke nicht zu überschreiten. Versucht die Menschheit nur mit mässigem Ehrgeiz, die Emissionen zu senken – handelt sie also so ähnlich, wie sie das in den vergangenen Jahrzehnten getan hat –, landen wir womöglich bei 3 Grad Erwärmung. Das ist problematisch genug, vor allem für Afrika und Südasien, die gegenüber dem Klimawandel besonders verletzlich sind. Es ist aber weit entfernt von einer 5 Grad wärmeren Welt.
1,5 Grad contra 3 Grad: Dieser Vergleich zeichnet ein wesentlich plausibleres Bild davon, wovor Klimaschutz uns zu bewahren vermag. Es ist ein gutes Zeichen, dass Fachleute für mehr Realismus bei den Szenarien eintreten. Dieser Schritt war überfällig; theoretisch hätte man ihn schon vor Jahren gehen können. Aber besser spät als nie.