Montag, Oktober 7

In Belgien dauert es oft Monate und auch schon über ein Jahr, bis eine neue Regierung steht – so auch jetzt. Und dennoch trifft das Land in dieser Übergangszeit auch weitreichende Entscheidungen.

Es gibt Rekorde, die kein Land haben will – zum Beispiel jenen für die längste Zeit ohne Regierung. Viele Jahre war Belgien der Spitzenreiter, dauerte es 2010/11 doch satte 541 Tage, bis nach den Wahlen die neue Koalition ihr Amt antreten konnte. Nordirland hat ihm zwar mittlerweile den Rang abgelaufen und auch andere Staaten tun sich mit der Regierungsbildung manchmal schwer, aktuell etwa Frankreich oder Bulgarien. Aber Belgien bleibt aufgrund der komplizierten Machtstrukturen ein demokratischer Sonderfall.

Das zeigt sich gerade dieser Tage wieder. Nach den nationalen Wahlen vom 9. Juni beauftragte König Philippe den Vorsitzenden der Siegerpartei Neue Flämische Allianz (NR-V) mit der Bildung einer neuen Regierung. Ende letzter Woche warf dieser jedoch entnervt das Handtuch. Es war ihm in den wochenlangen Verhandlungen nicht gelungen, mit den vier designierten Koalitionspartnern ein gemeinsames Programm auszuarbeiten.

Wallonien tickt linker

Belgien ist also wieder zurück auf Feld eins – und damit zum wiederholten Mal ohne demokratisch legitimierte Regierung. Ein ähnliches Machtvakuum gab es allein in den letzten fünfzehn Jahren vier Mal, rund ein Viertel der Zeit dämmerte das Land in diesem Zustand dahin. Über die Jahrzehnte verschärfte sich das Problem, weil die Sprachregionen politisch auseinanderdrifteten. Der wallonische, französischsprachige Landesteil wählt deutlich linker als das niederländischsprachige Flandern. Die Regierungsbildung wird damit erschwert, zumal es praktisch keine nationalen Parteien gibt.

Die belgischen Regionen geniessen eine verhältnismässig grosse Autonomie. Bildung und Strassenbau etwa sind in ihrer Hand – und die Kompetenzen haben sich, anders als in der Schweiz, jüngst zugunsten der Regionen und Gemeinden verschoben. Weil es nur indirekte Finanzausgleiche gibt, beispielsweise über Sozialleistungen, sind gerade bei der öffentlichen Infrastruktur die Unterschiede zwischen den verschiedenen Landesteilen zuweilen von blossem Auge sichtbar. Diese föderale Struktur erklärt auch, weshalb viele Belgierinnen und Belgier in ihrem Alltag kaum bemerken, ob in Brüssel nun gerade eine nationale Regierung waltet oder nicht.

Kein «Government Shutdown»

Zentrale Staatsaufgaben wie Verteidigung, soziale Sicherheit oder Justiz bleiben jedoch eine nationale Kompetenz. Wie kann ein Staat, mit elf Millionen Einwohnern immerhin eines der mittelgrossen EU-Mitgliedsländer, dennoch ohne Regierung funktionieren?

So viel vorneweg: Gänzlich führungslos ist Belgien in diesen Wochen und Monaten nicht – das wäre innen- wie aussenpolitisch viel zu gefährlich. Vielmehr führt jetzt die eigentlich zurückgetretene Regierung die Geschäfte weiterhin. «Affaires courantes» (laufende Geschäfte) nennt sich in Belgien diese Übergangsphase, die lediglich auf dem Gewohnheitsrecht fusst. Weder die Verfassung noch das Gesetz kennen den Begriff, einzig der Staatsrat erwähnt ihn in seiner Rechtsprechung.

Aufgrund der mangelnden demokratischen Legitimation sind die Kompetenzen einer solchen Regierung eingeschränkt. Drei Handlungsfelder haben sich über die Jahre hinweg etabliert: Das für die Bevölkerung wichtigste Element sind Alltagserlasse, deren Fortführung keine politischen Entscheide bedingt – etwa die Entlöhnung von staatlichen Angestellten. Dies erscheint selbstverständlich, in den USA allerdings ist diese Kontinuität während eines «Government Shutdown» nicht sichergestellt.

Die zweite Funktion einer Regierung der «laufenden Geschäfte» ist die Anwendung von Gesetzen, die von der Vorgängerregierung und dem Parlament bereits beschlossen waren. Eine Formalität also.

Was aber heisst «dringlich»?

Heikler – weil demokratisch fragwürdiger – ist die dritte Kompetenz einer Übergangsregierung: Was passiert, wenn der Staat während einer Koalitionskrise in einer dringlichen Lage handeln muss? Gerade internationale Entwicklungen halten sich nicht an den Kalender der belgischen Innenpolitik.

In solch dringenden Fällen ist die Interimsregierung ebenfalls befugt, entsprechende Beschlüsse zu fassen. Beispiele dafür gibt es zuhauf: Gleich zwei EU-Verträge – Maastricht (1992) und Lissabon (2007) – wurden von belgischen Regierungen unterzeichnet, die eigentlich schon seit Monaten nicht mehr im Amt hätten sein sollen. Das 541-Tage-Kabinett von 2010/11 hatte während jener Zeit den halbjährigen EU-Rats-Vorsitz inne und beschloss gar die Teilnahme Belgiens am Militäreinsatz der Nato im März 2011 in Libyen. Auch während der ersten Monate der Covid-Krise 2020 hatte Belgien keine vollumfängliche Regierung. Aktuell gilt es, einen Kandidaten für den EU-Kommissionsposten zu bestimmen.

Was aber heisst «dringlich»? Die Definition davon liegt naturgemäss im Auge des Betrachters. «Wenn man genügend lang zuwartet, wird alles dringlich», sagt Caroline Sägesser, eine schweizerisch-belgische Politikwissenschafterin am Institut Crisp in Brüssel.

Das Parlament kann nicht abstrafen

Dauere die Übergangszeit Monate oder gar Jahre, sei dies ein echtes demokratiepolitisches Problem, sagt sie – schliesslich kann das Parlament eine Regierung, die eigentlich längst abgedankt hat, nicht durch ein Misstrauensvotum «abstrafen». Die fehlende Rechenschaftspflicht manifestiert sich zuweilen in Arroganz: Zwischen Herbst 2010 und Frühling 2011 beantworteten die belgischen Minister nur gerade die Hälfte aller schriftlichen Fragen aus dem Parlament.

An neue politische Impulse, welche die Wählerinnen und Wähler an der Urne ja eigentlich zum Ausdruck gebracht hatten, ist in einer solchen Situation nicht zu denken. Die Regierung der laufenden Geschäfte habe im frisch zusammengewürfelten Parlament ja keine Mehrheit, gibt Sägesser zu bedenken. Und: Hochrangige Beamte werden während einer Übergangszeit nicht ernannt, während gleichzeitig jene Kabinettsmitarbeiter einen neuen Job suchen, die von der folgenden Departementsführung mutmasslich nicht mehr erwünscht sein werden. Der Machtapparat erodiert so nach und nach.

All dies ist eigentlich nicht im Sinn der belgischen Bevölkerung, wie 2019 eine repräsentative Umfrage der Zeitung «Le Soir» ergab. Vier von fünf Befragten sagten, dass der regierungslose Zustand «eine Schande» und «beunruhigend» sei. Doch solange sich die beiden grossen Sprachregionen so antagonistisch gegenüberstehen, lässt sich der Stillstand so schnell nicht beheben. Gegenwärtig wird darum in Belgien wieder einmal «sondiert», der König hat für die Koalitionsgespräche einen neuen Verhandlungsführer ernannt. Am 2. September will er erste Resultate sehen.

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