Mittwoch, Oktober 2

Epische Debatten, ein komplizierter Kompromiss und über allem das Beispiel USA: wie ein kleines Gerät die Stadtpolitik in Atem hielt.

Ein elfjähriger Junge liegt auf dem Asphalt, in Handschellen, die Hände hinter dem Rücken. Er trägt Sneakers und einen roten Pulli. Drei Polizisten stehen um ihn herum. Eine Frauenstimme fragt: «Gibt es keine andere Möglichkeit?» Ein Polizist fragt zurück: «Wollen Sie ihn nehmen?»

Die Szene – festgehalten auf einem Handyvideo – spielt sich im vergangenen Sommer ab, in Zürich, nahe dem Bahnhof Stadelhofen. Sie sorgt für harsche Kritik an den Einsatzkräften, aber auch für eine Debatte über die Verbreitung von Videos solcher Einsätze.

«Wir stellen fest, dass unreflektiert und zusammenhangslos Videos und Bilder gepostet werden, die bewusst auf die Sensationslust des Publikums abzielen», schrieb die Stadtpolizei Zürich (Stapo) damals.

Manche Polizisten forderten nach dem Vorfall gar ein Filmverbot bei Einsätzen – andere das Gegenteil, also gleich lange Spiesse für Polizei und kritische Passanten. Das heisst: Videoaufnahmen, auch seitens der Einsatzkräfte.

In einem Wort: Bodycams.

Der Vizepräsident des Stadtzürcher Polizeibeamtenverbandes drückte es so aus: «Die Kameras laufen ohnehin schon – nur nicht unsere.»

Nun, gut ein Jahr später, ist es so weit: Die Stadtpolizei Zürich hat seit Anfang Juli offiziell Bodycams im Einsatz, wie sie am Montag mitteilt. 34 Stück, verteilt auf drei Wachen, vorläufig befristet bis Ende 2026.

Es ist ein Einsatz mit einer langen Vorgeschichte – und einer ungewissen Zukunft.

Wissenschaftlich fundiertes Schulterzucken

Die Grundidee hinter den Kameras ist simpel: mehr Transparenz, dank der Aufzeichnung von Polizeieinsätzen. Doch über die Umsetzung dieser Maxime hat die Zürcher Politik fast acht Jahre lang gestritten.

Auf der einen Seite standen bürgerliche Politiker, die sich von den Kameras einen besseren Schutz der Polizistinnen und Polizisten versprachen und einen flächendeckenden Einsatz forderten. Eine Aufnahme soll demnach tätliche Übergriffe verhindern, falsche Anschuldigungen im Keim ersticken und bei Gewaltvorfällen die Beweisführung erleichtern.

Auf der anderen Seite standen Teile der Linken, die in den Kameras einen Ausbau des Überwachungsstaates sahen – ein repressives Mittel, das Gewalt eher fördere als verhindere. Und das, solange die Kontrolle über die Aufnahmen bei der Polizei liege, ein selektives Bild der Polizeiarbeit zeichnen werde, statt Übergriffe zu dokumentieren.

Wie verworren die politische Lage bei dem Thema ist, zeigt allerdings schon der Urheber des politischen Projekts Bodycams. Es war der linksalternative Stadtrat Richard Wolff, der 2016 ein Pilotprojekt zu dem Thema ankündigte, das ein Jahr später durchgeführt wurde.

Dessen Resultat: ein 99-seitiges, wissenschaftlich fundiertes Schulterzucken. Der Schlussbericht, vorgelegt von einer Forschungsgruppe um den Soziologen Dirk Baier, kam zu dem Schluss, «dass kein starkes wissenschaftlich begründetes Argument gegen den Einsatz von Bodycams vorliegt, wie es auch kein starkes solches Argument dafür gibt».

Zu der Frage, ob die Kameras einen Einfluss auf Gewaltvorfälle haben, war das Resultat ähnlich: Es gebe weder Anzeichen für eine deutliche deeskalierende noch solche für eine eskalierende Wirkung.

Das machte die Entscheidung für oder gegen die Kameras nicht gerade einfacher. Lange wurde im Stadtparlament darüber gefeilscht, bis im Mai 2021 ein Kompromiss zustande kam, der niemanden so richtig glücklich machte.

Und noch eine Evaluation

Die Kürzestfassung: Bodycams ja, aber nur in sehr begrenztem Rahmen. So laufen die Kameras, deren Einsatz nun beginnt, nicht ständig. Vielmehr können Polizistinnen und Polizisten sich entscheiden, diese einzuschalten, wenn es brenzlig wird.

Dies soll vor allem bei Personenkontrollen erfolgen, bei denen Dialog nichts mehr bringt. «Im Falle einer Eskalation kann die Kamera eingeschaltet werden, was meistens schon zu einer Deeskalation führt», schreibt die Stadtpolizei.

Auch die Kontrollierten können das Einschalten der Kamera verlangen, sie müssen dafür jedoch selbst um diese Möglichkeit wissen. Denn aktiv darüber informieren werden die Stadtpolizisten nicht. Das heisst für Betroffene konkret: das «Video»-Schildchen auf dem Revers der mit Bodycam ausgestatteten Polizistin erkennen, eine Aufnahme verlangen und dann darauf vertrauen, dass diese auch erfolgt.

Dazu kommt, dass bei sogenannten Ordnungseinsätzen, also beispielsweise bei Fussballspielen oder Demonstrationen, keine Bodycams zum Einsatz kommen. Dort setzt die Polizei seit längerem auf andere Kamera-Typen.

Auch die geringe Anzahl Kameras – eine auf 62 Polizistinnen und Polizisten – ist politisch gewollt, ebenso wie das Ablaufdatum des Einsatzes. Laut der Stapo-Sprecherin Judith Hödl wird wiederum ein Team um den Soziologen Baier den Einsatz wissenschaftlich evaluieren.

Inwiefern die erneute Evaluation Neues in Erfahrung bringen soll, bleibt ebenso schleierhaft wie die Frage, wie viel der stark redimensionierte Einsatz der Kameras überhaupt noch bewirken kann.

Auch Beliebtheit im Korps ist den Geräten keineswegs sicher, trotz allen Hoffnungen des Polizeibeamtenverbandes. Das erste Pilotprojekt jedenfalls hat bei den betroffenen Polizisten die Skepsis gegenüber den Kameras nicht gesenkt, sondern erhöht. Das ergab eine Befragung im Rahmen der wissenschaftlichen Evaluation.

Verkehrte Welt

Optimistisch bleibt FDP-Gemeinderat Andreas Egli. Die Bodycams ermöglichten einen «Kontakt auf Augenhöhe» zwischen Polizei und Kontrollierten und schüfen objektivere Grundlagen bei Disputen nach Personenkontrollen. Beide Seiten könnten eine Aufnahme einfordern. Das schütze Polizisten vor falschen Anschuldigungen und nehme polizeikritischen Kontrollierten die Angst vor einem Übergriff.

«Wir hätten gerne alle Polizisten mit Bodycams ausgerüstet», räumt Egli ein. Doch mehr als die 34 Kameras, die nun im Einsatz stehen, sei politisch schlicht nicht möglich gewesen.

Der grüne Gemeinderat Luca Maggi, ein Kritiker des Bodycam-Einsatzes, bleibt dagegen skeptisch. Der Gemeinderat habe sich zwar bemüht, dass die Kameras nicht nur den Polizisten, sondern auch den Kontrollierten etwas brächten. Er glaube jedoch nicht, dass die Bodycams beispielsweise Fälle von Racial Profiling – also polizeilichen Kontrollen allein aufgrund der Hautfarbe – verhindern könnten.

Er sei jedoch auch bereit, sich vom Gegenteil überzeugen zu lassen, so Maggi. «In der Ratsdebatte haben Bodycams viele Vorschusslorbeeren erhalten – jetzt werden wir sehen, was tatsächlich stimmt.»

Beide Gemeinderäte räumen die Eigentümlichkeit der Zürcher Bodycam-Debatte ein. Bekannt sind die Geräte schliesslich vor allem aus den USA. Dort verlangten Progressive deren Einsatz als Mittel gegen rassistische Praktiken der Polizei. Konservative und Polizeigewerkschaften bekämpften die Kameras dagegen.

Verglichen damit kommen Kritik und Zustimmung in Zürich von unerwarteter Seite. Auch die Unterschiede bei den Einsatzmodalitäten sind gross: Während Bodycams in den USA von der Idee her ständig laufen und die Polizei kontrollieren sollen, dienen sie der hiesigen Stadtpolizei eher als gezieltes Einsatzmittel, das die Kontrollierten zu mehr Disziplin animieren soll.

Immerhin in einem Punkt ist Zürich vielen amerikanischen Städten jedoch voraus: Dort verbleiben die Bodycam-Aufnahmen oftmals im Einflussbereich der Polizei, was ihre unabhängige Auswertung erschwert. In Zürich dagegen werden die Filme an einem von der Stadtpolizei unabhängigen Ort gespeichert.

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