Freitag, November 29

Noch vor wenigen Monaten erwarteten die Marktteilnehmer, dass das Fed die Leitzinsen 2024 deutlich senken würde. Diese Erwartung hat sich als falsch erwiesen. Jetzt stellen sich Investoren besorgt die Frage nach weiteren Zinserhöhungen.

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Könnte die US-Notenbank (Fed) die Leitzinsen 2024 weiter anheben? Da die Inflation in den USA hartnäckig hoch bleibt, stellen sich die Teilnehmer an den Finanzmärkten zunehmend diese Frage. Die Antwort liegt auf der Hand: Natürlich kann sie das. Es erscheint seltsam, ja töricht, zu behaupten, dass eine Zinserhöhung in den kommenden Monaten ausgeschlossen werden kann.

Erinnern wir uns zunächst daran, dass nur wenige Kommentatoren 2008 erwartet hatten, dass das Fed die Zinsen während des Ausbruchs der globalen Finanzkrise von 4,25% auf null senken würde – oder von 1,5% auf null im ersten Covid-Schock vor vier Jahren. Und auch wenn Beobachter im Allgemeinen mit einer Straffung der Geldpolitik im Frühjahr 2022 gerechnet hatten: Wer hätte gedacht, dass das Fed den Leitzins im Zeitraum von weniger als achtzehn Monaten um mehr als 5 Prozentpunkte in die Höhe reissen würde?

Schocks können nicht modelliert werden

Wie diese Beispiele zeigen, wird die Geldpolitik in der Regel von zwei Faktoren dominiert. Der erste Faktor ist die Rückkehr zur «Normalität». Wenn die Zinsen hoch sind, wie es derzeit der Fall ist, gehen die Marktteilnehmer davon aus, dass sie gesenkt werden. Und wenn sie niedrig sind, wie in der Zeit unmittelbar nach der heissen Phase der Covid-Pandemie, gehen sie davon aus, dass sie erhöht werden.

Diese Art von Zinsänderungen wird von den Märkten erwartet und eingepreist. Aber sie erfolgen nicht automatisch. Der zweite Faktor, der in der Regel nicht eingepreist ist, betrifft grosse und unerwartete Schocks, die regelmässig auftreten und die Währungshüter zwingen, die Zinsen signifikant und schnell zu ändern, oft weit weg von einem «normalen» Niveau.

Jeder dieser Schocks mag einzigartig sein – der Zusammenbruch von Lehman Brothers im September 2008, die erste Pandemie seit 1918, der stärkste Inflationsanstieg seit fünf Jahrzehnten im Jahr 2021 sind Beispiele dafür – und für sich betrachtet als ausserordentlich unwahrscheinlich angesehen werden. Aber insgesamt ereignen sich immer wieder derartige Schocks, woraus sich regelmässig die Notwendigkeit, die Leitzinsen auf unerwartete Weise drastisch zu verändern.

Bei ihren Überlegungen zu den Aussichten für die Zinsen ignorieren die Marktkommentatoren diese Möglichkeit jedoch häufig. Sie gehen davon aus, dass sich die Zinsen allmählich normalisieren werden, verkennen aber, dass neue Schocks auftreten können, die die Zinsen von ihrem normalen Niveau wegbringen. Sie unterschätzen das Risiko einer starken Abweichung der Zinsen von ihrem normalen Niveau.

Wirtschaft leidet kaum unter höheren Zinsen

Es ist nicht schwierig, sich ein Szenario vorzustellen, in dem das Fed in den kommenden Monaten die Notwendigkeit sieht, den Leitzins nochmals zu erhöhen. Trotz der massiven Straffung der Geldpolitik ab März 2022, die viele Investoren zu der Befürchtung veranlasste, die US-Wirtschaft könnte in eine Rezession abgleiten, ist das Wirtschaftswachstum in Amerika nach wie vor stark. Schlimmer noch, der Inflationsdruck ist in den ersten Monaten dieses Jahres robust hoch geblieben. Die US-Wirtschaft scheint weniger zinsempfindlich, wenn nicht sogar fast unempfindlich gegenüber höheren Zinsen geworden zu sein.

Drei Überlegungen könnten dies erklären.

  • Erstens bleibt die Fiskalpolitik der Biden-Regierung viel zu expansiv. Das überparteiliche Congressional Budget Office prognostizierte kürzlich ein Defizit von 1,6 Bio. $ im Jahr 2024. Das entspricht 5,6% des Bruttoinlandproduktes.
  • Zweitens sind die Aktienkurse in den USA in den vergangenen sechs Monaten rund 20% gestiegen. Da viele Haushalte direkt oder indirekt über ihre Pensionspläne Aktien halten, ist der Vermögenseffekt der Kurssteigerungen beachtlich. Diese beiden Faktoren haben die Nachfrage nach Waren und Dienstleistungen gestützt und die Inflation angekurbelt.
  • Drittens haben viele Haushalte ihre Hypotheken während der Phase der Niedrigzinsen auf tiefem Niveau für zehn oder sogar dreissig Jahre fixiert. Folglich wirken sich höhere Zinsen nur auf die wenigen Haushalte aus, die bereit sind, Kredite zu den derzeitigen Zinsen aufzunehmen oder die eine fällige Hypothek refinanzieren müssen. Höhere Zinsen wirken daher weniger bremsend auf die US-Wirtschaft als früher.

In dieser Situation ist es leicht vorstellbar, dass das Fed beschliesst, die Geldpolitik nochmals zu straffen. Die PCE-Kerninflation, das vom Fed bevorzugte Mass für die Inflation, fiel im Dezember 2023 unter 3% und erreichte im März 2,8%. Sollte sie allerdings wieder über 3% steigen, was durchaus möglich ist, könnte die Fed-Führung eine Zinserhöhung für notwendig halten.

Zwar gehen die meisten Marktbeobachter davon aus, dass der Inflationsdruck weiter abnehmen wird. Aber das ist selten ein reibungsloser Prozess. Häufiger fällt die Inflation für einige Monate, steigt dann ein wenig an, bevor sie wieder zu sinken beginnt. Die Tatsache, dass die US-Notenbank den Leitzins bis anhin noch nicht gesenkt hat, zeigt, dass sie der Meinung ist, dass der Rückgang der Inflation weder garantiert ist noch schnell erfolgen wird.

In dieser Situation könnte die Versuchung gross sein, die Zinsen nochmals zu erhöhen und den Disinflationsprozess zu beschleunigen, zumal die Gefahr eines Abgleitens der Wirtschaft in eine Rezession inzwischen gering erscheint. Ausserdem wird es für die Fed-Verantwortlichen angesichts des sich im Herbst anbahnenden Wahlkampfs in den USA immer schwieriger, den Leitzins in die eine oder andere Richtung zu ändern, da sie politisch neutral erscheinen müssen.

Es ist daher wahrscheinlich, dass die Fed-Führung an ihrer nächsten Sitzung vom 1. Mai die Zinsen unverändert lässt und im Sommer oder im Frühherbst mit Senkungen beginnt. Aber wetten Sie Ihr Vermögen nicht darauf.

Stefan Gerlach

Stefan Gerlach ist Chefökonom bei der EFG Bank in Zürich und war 2011 bis 2015 stellvertretender Gouverneur der Irischen Zentralbank. Seit seiner Promotion 1983 in Genf hat er in seiner Karriere eine Brücke zwischen Wissenschaft und Geldpolitik geschlagen. Er war Professor für Volkswirtschaftslehre an der Goethe-Universität in Frankfurt, externes Mitglied des geldpolitischen Ausschusses der Bank von Mauritius und Chefökonom der Hongkonger Währungsbehörde. Bevor er 1992 als Stabsökonom zur BIZ kam, war er als Akademiker in den USA tätig.

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