Mittwoch, Dezember 4

Eine Ausstellung in Paris zeigt Arte Povera. Mit wertlosen Alltagsmaterialien entfaltete sie auch eine politische Wirkung.

Er sieht täuschend echt aus. Und in diesen Wochen kommen Passanten der Pariser Rue du Louvre kaum an dem hier neu gepflanzten, hohen, kahlen Baum vorbei, ohne neugierig zu werden. Stamm, Rinde und Äste, selbst seine kräftigen Wurzeln sind aus Bronze. Die wie Nester im Geäst platzierten Natursteine waren zuvor Geröll in einem Fluss, das im Kontakt mit dem Wasser und seinen Kräften entstanden war.

Giuseppe Penone, der Urheber der Monumentalplastik «Idee di pietra – 1532 kg di luce», schuf damit ein Sinnbild auf das Entstehen von Ideen aus gedanklichen Energien, ähnlich dem Wachstum in der Natur. Damit weist die Pinault Collection in der Bourse de Commerce vom Platz vor dem stattlichen Rundbau ins Innere des Gebäudes, wo weitere Arbeiten des Italieners zu sehen sind.

Penone hat auch mit naturbelassenem oder versteinertem Holz gearbeitet. Seine Werke zählen zu den eindringlichsten Arbeiten einer Gruppe sich unkonventionell gebärdender italienischer Künstler, die unter dem Etikett Arte Povera seit den sechziger Jahren besonders in Turin und Rom in Erscheinung getreten sind.

Sie haben sich kritisch mit der jüngeren Vergangenheit ihres Landes auseinandergesetzt, das den Faschismus noch nicht aufgearbeitet hatte und durch eine rasche Industrialisierung und Kommerzialisierung zerrissen war. Sie reagierten auf den Vietnamkrieg und die Studentenrevolte. Schliesslich bezogen sie Stellung zu den amerikanischen Tendenzen in der zeitgenössischen Kunst vom abstrakten Expressionismus bis zur Minimal Art – diese galten damals in Europa als Vorbild. Und sie setzten sich mit der italienischen Nachkriegsästhetik eines Lucio Fontana mit seinen aufgeschlitzten Leinwänden auseinander.

Der Kritiker Germano Celant, ihr Spiritus Rector, nahm 1967 eine Gruppenausstellung in Genua zum Anlass für einen programmatischen Artikel in der Zeitschrift «Flash Art». Dieser sorgte weltweit für Interesse und wurde als Manifest der Arte Povera verstanden. Dabei gab es unter den dieser Bewegung zugerechneten Künstlern allenfalls Wahlverwandtschaften, jedenfalls waren ihre Lebensläufe und Ansätze so unvereinbar, dass sie keinen Gruppenstil ausbildeten.

Arme Materialien

So hatte mancher in der Werbung, für die Filmindustrie oder das Fernsehen gearbeitet. Andere bewegten sich in den Medien des Zeichnens und Malens, bevor sie Stift, Pinsel und Palette weglegten und sich der Auseinandersetzung mit Materialien wie Kohle, Wolle oder Nylon zuwandten. Giovanni Anselmo setzte Granit und Alighiero Boetti Eternit – ein Faserzement – ein. Pier Paolo Calzolari bediente sich der Matratzen und Kühlaggregate. Michelangelo Pistoletto platzierte den Zementguss einer Venus vor einen Haufen Lumpen. Kollektives Arbeiten kam zwar vor, war aber nicht die Regel.

Die Pariser Bourse de Commerce stellt Arbeiten von dreizehn Protagonisten der Bewegung aus, zu denen Jannis Kounellis, Mario Merz und Marisa Merz gehören. Die Werke stammen aus der Sammlung Pinault oder sind Leihgaben internationaler Museen moderner und zeitgenössischer Kunst. Zu sehen sind über 250 Material gewordene Ideen und Positionen, die jene Spielarten von Konzeptkunst vor Augen führen, die Italien lange nach dem Futurismus und der Pittura Metafisica des frühen 20. Jahrhunderts wieder in den Fokus internationaler Aufmerksamkeit rücken liessen.

Präsentiert werden vielgestaltige Objekte, Assemblagen, Interventionen und Installationen aus unterschiedlichsten «wertlosen, armen», oft im Alltag gefundenen Materialien. Wer die grosszügigen Räume der von der Pinault Collection bespielten Rotunde kennt, ahnt, was es bedeutet, dass das ganze Haus auf allen Ebenen jetzt einzig der Arte Povera in all ihren Ausprägungen gilt: ihrer Vorgeschichte, ihrer Blütezeit in den späten sechziger und frühen siebziger Jahren und ihren Fortsetzungen bis zur Gegenwart.

Viele der vor Jahrzehnten entstandenen Werke haben Kunstgeschichte geschrieben und sind – entgegen den ursprünglichen Absichten – zu Ikonen geworden. Sie haben das Zeug zu einer qualitätsvollen Retrospektive. Die Schau strebt aber mehr als nur einen Rückblick auf eine abgeschlossene Zeit an. Erweitert wurde sie um einen Dialog mit Werken von zwölf jüngeren Künstlern, die an Prinzipien der Arte-Povera-Meister anknüpfen. Zu ihnen gehören David Hammons, Renato Leotta und Agniezska Kurant.

Flüchtige Kunst

Einer der Arte-Povera-Künstler, die durch Ausstellungen und Museumspräsentationen dem Publikum am besten vor Augen geblieben sind, ist allerdings Mario Merz. Er ist bekannt für seine Iglus und die Verwendung von schlanken Neonröhren, die Schrift und Zeichen bilden. Für seine Nachahmungen arktischer Hütten benutzte er Neon ebenso wie für die Installationen mit den Fibonacci-Zahlenfolgen. Mit solchen Arbeiten würdigte Merz die Erkenntnisse des mittelalterlichen Pisaner Mathematikers Leonardo Fibonacci. Eine davon leuchtet jetzt in Paris von der Traufe des Gebäudedachs.

Arte povera erinnert indes immer auch ein bisschen an Marcel Duchamp, den Erfinder des Ready-made. Berühmt wurde er mit seinem Flaschenständer und dem weissen Urinal. Duchamp ist auch ein Pionier des Happening, wie es später in New York, aber auch bei Arte-Povera-Künstlern aufkam. Mit Happenings oder Performances, oft mit Publikumsbeteiligung, wurde «Raum aktiviert» und die Ausstellungsfläche zur Bühne eines Schauspiels. Die Besucher konnten dabei selber zu Akteuren werden. Es waren punktuelle Interaktionen zwischen Künstler, Werk, Raum, Fläche und Publikum.

Dies führt heute unweigerlich zu der Frage, was davon übrig bleibt, wenn man nicht daran teilgenommen hat. Jetzt damit konfrontiert zu werden, macht den ephemeren Charakter solcher Arbeiten deutlich und erinnert an Franz Grillparzers Bonmot «beschriebene Musik ist halt wie ein erzähltes Mittagessen».

Fotografien mögen flüchtige Momente ausschnitthaft spiegeln – die Bourse de Commerce zeigt davon eine ganze Reihe. Und historische Videos sind zum Verständnis noch besser. Doch Haltung, Bewegungen, Stimme, Blick der jeweiligen Künstlerpersönlichkeit, die Atmosphäre des Moments sowie die unmittelbar geäusserten Reaktionen der Teilnehmer haben sich unweigerlich verflüchtigt.

Im Dschungel unserer zunehmend dematerialisierten, digitalisierten Welt erscheint der Ruf nach der Rückkehr zum Wesentlichen und Begreifbaren verlockend. Anziehend ist das Nachdenken über Kunst und die Bedingungen ihrer Entstehung, über Materialität und Prozess, Objekt und Bedeutung und den Seh- oder Erfahrungsakt. Und damit immer auch über die Condition humaine. Damit hat sich diese italienische Bewegung besonders auseinandergesetzt, das zeichnet die Arte Povera bis heute aus.

«Arte povera», Bourse de commerce – Pinault Collection, Paris, bis 20. Januar 2025. Katalog € 49.–.

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