Ein umstrittener Artikel eines Modeportals schlägt Wellen. Die Firma dahinter verkauft ausgerechnet Textilien aus baumwollfreiem Polyester. Doch auch die EU verstrickt sich in Widersprüche.
Der Blick ist ernst, das Lächeln süffisant. «Mit ein bisschen Pech werden wir in einigen Jahren unsere Familienangehörigen am Geruch erkennen können», sagt der Betreiber des Wirtschafts-Blogs Kontraste in die Kamera. Ein anderer Youtuber sagt in einem zweiten, über 100 000 Mal aufgerufenen Video: «Schlimmer kann es wirklich nicht mehr kommen.» Der Furor der beiden gründet in einem Wort: Baumwollverbot. Ein solches plane die EU, behaupten sie.
Nur: Stimmt die Aussage denn auch? Nein, sagt die EU-Kommission unmissverständlich. «Diese Information ist nicht korrekt. Es gibt keine EU-Gesetzgebung, die Baumwolle verbietet, und es bestehen auch keine Pläne, Baumwolle in Zukunft zu verbieten», schreibt eine Mediensprecherin.
Die Aufregung beschränkt sich freilich nicht auf die sozialen Netzwerke. Auch klassische Zeitungen, Rundfunkanstalten und Informationsportale haben die Geschichte in den letzten Tagen dankbar aufgenommen, darunter das Schweizer Fernsehen oder die «Kleine Zeitung» in Österreich. Am umtriebigsten zeigte sich «20 Minuten»: Nicht weniger als sechs Artikel hat die Redaktion innerhalb von zwei Tagen zum Thema verfasst, zweimal in Folge wurde damit gar die Titelseite der Gratiszeitung bespielt. «‹Nötig› oder ‹weltfremd›? Streit um Baumwollverbot», lautete etwa die Frontschlagzeile am Dienstag. Der «Plan» der EU spalte die Politiker in Bern, hiess es unter anderem.
Der Text stammt vom «Partner»
Wie also kommt eine solche These in den Umlauf, und warum findet sie derartige Verbreitung? Die Genese der «News» ist erhellend – wobei die EU sich die Verwirrung auch selbst zuzuschreiben hat.
Der erste Artikel zum Thema, auf den sich die nachfolgenden Medien zumeist beziehen, wurde auf einem Modeportal namens «Fashion United» aufgeschaltet. Dieses gibt sich «als unabhängiges Fachmedium für die Modebranche» aus. Der Text selbst stammt allerdings von einem «Partner», wie ohne weiteren Verweis angegeben ist.
Recherchen zeigen, dass dieser «Partner» das Portal «Fashion Power» aus den Niederlanden ist. «Nachhaltigkeit ist unsere DNA», steht auf der Website in Grossbuchstaben. Die Marke hat sich auf den Vertrieb von Produkten aus Kaffeesatz, Spinnfärbung und rezykliertem Polyester spezialisiert. Man wolle damit den Verbrauch von natürlichen Ressourcen vermeiden und das ökologische Gleichgewicht halten, heisst es.
Kurz: Würde Baumwolle in der EU tatsächlich verboten, könnten sich Anbieter wie «Fashion Power», die alternative Produkte vermarkten, auf lukrative Geschäfte freuen.
«Langlebige und recyclingfähige» Textilerzeugnisse
Dem Modeportal einfach EU-Bashing zwecks Eigennutz vorzuwerfen, wäre allerdings zu kurz gegriffen. Der Autor des Artikels stellt zwar Zahlen in den Raum, die sich die EU-Kommission nicht erklären kann, die er auf Nachfrage nicht zu belegen imstande ist – und die in der Folge von verschiedenen Medien übernommen worden sind. Aber er bezieht sich durchaus auf Texte, die von der Union stammen – zum Beispiel die «EU-Strategie für nachhaltige und kreislauffähige Textilien», welche die Kommission im März 2022 präsentierte und das Parlament im Juni 2023 angenommen hat.
Ziel dieser Strategie, so schreibt die Kommission, ist es, einen «kohärenten Rahmen und eine kohärente Vision für den Wandel im Textilsektor zu schaffen». So sollen die Textilerzeugnisse auf dem EU-Markt bis 2030 langlebig und wieder verwendbar sein, grösstenteils aus Recyclingfasern bestehen, keine gefährlichen Stoffe enthalten und unter Einhaltung der sozialen Rechte und im Sinne des Umweltschutzes hergestellt worden sein.
Dies ist die Vision – die allerdings nicht rechtlich bindend ist, wie die EU-Kommission mehrfach betont. Einen Weg dahin, mit verbindlichen Massnahmen und Zwischenschritten, gibt es nicht. Fragt sich also: Warum stellt man ein Ziel auf, wenn man es dann doch nicht allzu energisch umzusetzen gedenkt?
Genau da haken «Fashion Power» und andere Akteure der Textilbranche ein. Ihre Argumentationskette lautet: Das Ziel ist derart ambitioniert, dass es ohne ein Verbot von Baumwolle unmöglich zu erreichen ist. Auch «20 Minuten» erklärt damit seine extensive Berichterstattung.
Schlechte Umweltbilanz von Baumwolle
Der Hintergrund der Debatte ist, dass Baumwolle zwar ein Naturprodukt ist, seine Umweltbilanz aber dürftig. Für den Anbau sind – oftmals in trockenen Weltgegenden – enorme Mengen an Wasser vonnöten. Zudem werden Chemikalien eingesetzt, welche die Böden übermässig belasten. Für Greenpeace ist die Baumwolle schlicht die «Königin der Pestizide», weil diese derart flächendeckend verwendet werden. Auch die Arbeitsbedingungen auf den Plantagen lassen zu wünschen übrig.
Für die von der EU angestrebte Kreislaufwirtschaft, bei der bereits vorhandene Produkte oder Materialien wiederverwendet werden sollen, ist Baumwolle zudem schlecht geeignet. Ihre Fasern sind zu kurz und zu schwach, um zirkulär eingesetzt werden zu können.
Kurz: Wenn es der EU ernst ist mit der Umsetzung ihrer Textilstrategie, wird sie sich etwas einfallen lassen müssen – denn noch ist man meilenweit von den Zielen entfernt, so unverbindlich diese auch sein mögen. Immerhin wurde ein erster Schritt soeben eingeführt: Seit Anfang Jahr müssen alle Mitgliedstaaten separate Textilsammlungen anbieten. Zudem sei gesetzliche Arbeit im Gang, um die Produzenten stärker in die Verantwortung zu nehmen, schreibt die Kommission.
83 Prozent sind gegen ein Verbot
All dies ändert allerdings nichts an der Tatsache, dass es in der EU kein Baumwollverbot gibt und es aller Voraussicht nach auch nie eines geben wird. Viel zu gross wäre der Aufschrei in der Bevölkerung. Dies zeigt, wenn auch in einem Nichtmitgliedsland, alleine schon eine der verschiedenen «20 Minuten»-Umfragen zum Thema: Satte 83 Prozent von über 60 000 Teilnehmern sagen: «Ich bin gegen ein mögliches Verbot von Baumwolle, weil sie unverzichtbar ist.»
Hinzu kommt, dass in der EU das Parlament, die Kommission und der Rat seit der Verabschiedung der fragwürdigen Textilstrategie nach rechts gerückt sind. Das Thema der Stunde ist, neben der Sicherheit, der Bürokratieabbau – und nicht der Umweltschutz. Es wäre nicht das erste Mal, dass die EU im Sinne der Nachhaltigkeit hochtrabende Vorstellungen präsentiert, die sich bei genauerer Betrachtung als zu ambitioniert entpuppen. Ähnlich ist es der Entwaldungsverordnung ergangen, und auch das vielzitierte Verbrennerverbot steht auf der Kippe.
Dennoch sind Schlagzeilen à la «Baumwollverbot» oder «Baumwoll-Aus» zum jetzigen Zeitpunkt zumindest unpräzise. Auch ist nicht ersichtlich, weshalb das Thema gerade jetzt aufkocht – und warum fast ausschliesslich in deutschsprachigen Medien. «Neu», wie in verschiedenen Texten suggeriert wird, ist an den EU-Strategien nämlich nichts. Haben allenfalls der deutsche Wahlkampf, das österreichische Machtvakuum und die Schweizer Diskussionen rund um die bilateralen Verträge damit zu tun?
«20 Minuten» ändert Titel
Für politische und publizistische Kreise, die gegenüber der EU kritisch bis feindselig eingestellt sind, ist die Baumwolldebatte jedenfalls Wasser auf die Mühlen. Für Harald Vilimsky, FPÖ-Europaparlamentarier und Vizedelegationsleiter der «Patrioten für Europa», bedeuten die Buchstaben EU nur mehr «Europäischer Unsinn», wie er auf X schreibt. Für Hans-Jörg Bertschi, Unternehmer und Co-Präsident von Autonomiesuisse, geht «der Regulierungswahn der EU weiter». Ähnliche Voten sind in den sozialen Netzwerken und Kommentarspalten zu Tausenden zu finden.
«20 Minuten», das die EU-Kommission nicht kontaktiert hatte, hat mit seiner Berichterstattung «die Debatte um ein mögliches Baumwollverbot aus unterschiedlichsten Blickwinkeln beleuchten wollen», schreibt die Chefredaktorin auf Anfrage. Dafür habe man mit Vertretern der Textilbranche, der Politik, der Wissenschaft, des deutschen Umweltbundesamtes und von Greenpeace gesprochen. Alles würde man im Nachhinein aber auch an der Werdstrasse nicht mehr gleich machen: «Wir haben inzwischen jene Titel der Artikelserie angepasst, die isoliert betrachtet den Eindruck erwecken konnten, die EU hätte bereits ein explizites Baumwollverbot beschlossen», heisst es.