Donnerstag, Oktober 3

Jens Eskelund, Präsident der Europäischen Handelskammer in China, über Alternativen zum Standort China, die widersprüchliche Wirtschaftspolitik der Regierung und das Risiko einer Eskalation des Taiwan-Konflikts.

Herr Eskelund, Ihre Umfragen zeigen, dass mehr und mehr Unternehmen für China vorgesehene Investitionen in andere Länder umleiten. Was sind die Gründe?

Es stimmt, zwischen 20 und 25 Prozent unserer Mitgliedsfirmen verlegen derzeit ihre Lieferketten oder Teile davon in andere Länder. Der Grund dafür sind vor allem die geopolitischen Spannungen. Die Unternehmen wollen ihre Lieferketten absichern. Und dann gibt es Firmen, die Teile ihrer Aktivitäten aus China weg verlagern, weil der Zugang zum chinesischen Markt immer schwieriger wird und die Arbeitskosten steigen.

Haben die Firmen auch eine mögliche Eskalation des Taiwan-Konflikts im Hinterkopf?

Russlands Invasion in der Ukraine war sicherlich ein Weckruf. Bei vielen europäischen Unternehmen wirbelte der Angriff die Lieferketten durcheinander. Der gedankliche Schritt vom Krieg in der Ukraine zum Konflikt zwischen China und Taiwan ist da nicht sehr gross.

Wie gross ist das Risiko einer Eskalation des Konflikts?

Ich beobachte, dass die Nervosität bei europäischen Firmen in China gar nicht so gross ist. Nervosität herrscht eher in den Unternehmenszentralen in Europa. Wir müssen diese Gedankenspiele aber anstellen, denn wir haben in der jüngsten Vergangenheit viele Black-Swan-Events gesehen.

Welche Länder schauen sich Unternehmen an, die Investitionen aus China abziehen?

Die Firmen nehmen jetzt wieder osteuropäische Länder ins Visier, in Asien vor allem Vietnam. Immer mehr Komponenten gehen von China nach Vietnam und werden dort zu Endprodukten zusammengebaut.

Was ist mit Indien?

In vielerlei Hinsicht befindet sich Indien auf dem Weg, auf dem sich China vor dreissig Jahren befand. Der grosse Unterschied ist allerdings Chinas Beitritt zur WTO im Jahr 2001. Der Beitritt brachte ein Vakuum in der Globalisierung zum Platzen. China füllte dieses, und auf einmal nahm die Globalisierung richtig Fahrt auf. Ein solches Vakuum gibt es heute nicht mehr.

Was ist die grösste Herausforderung für Indien?

Hochkomplexe Lieferketten für Hightech-Produkte aufzubauen, ist eine riesige Herausforderung. Das ist sehr kapitalintensiv und dauert lange. Ja, wir werden jetzt Verlagerungen sehen, aber China ist noch immer die grösste Exportnation, und das wird sich so schnell nicht ändern. In China sind die Produzentenpreise während der vergangenen 23 Monate jeden Monat gefallen. Wer kann da mit China konkurrieren?

Die chinesische Regierung versucht mit allerlei Versprechen und Programmen, ausländische Firmen zu Investitionen zu bewegen. Warum funktioniert das nicht?

Manchmal funktioniert es ja. Behörden auf lokaler Ebene rollen Firmen den roten Teppich aus und unterstützen sie , wo sie nur können. Demgegenüber steht aber die Zentralregierung mit ihren Formeln von der richtigen Balance zwischen Sicherheit und Entwicklung und den vielen neuen Sicherheitsgesetzen. Das hat manchmal etwas Schizophrenes.

Erkennt die Zentralregierung den Ernst der Lage der chinesischen Wirtschaft?

Ich glaube, ja. Die Zahlen sprechen ja für sich. Die ausländischen Direktinvestitionen sinken. Die Regierung weiss sehr genau, was Unternehmen aus dem Ausland in der Vergangenheit zur wirtschaftlichen und zur technologischen Entwicklung beigetragen haben. Das Problem ist, dass die Zentralregierung gleichzeitig ihre immer prononciertere Sicherheits-Agenda verfolgt.

Unternehmen welcher Länder investieren denn noch in China?

Die deutschen Direktinvestitionen in China sind während der ersten sechs Monate gestiegen. Das Geld kam allerdings von einigen wenigen grossen Unternehmen.

Die Europäische Union hat ihre Gangart gegenüber China in den vergangenen Monaten deutlich verschärft. Ist das der richtige Umgang mit dem Land?

Wichtig ist ein Dialog zwischen Europa und China. Ich glaube, die Regierung in Peking versteht, dass Europa eine Deindustrialisierung durch chinesische Billigprodukte, mit denen China die Märkte flutet, nicht akzeptieren kann. Das wäre ja auch nicht in Chinas Interesse. Wenn in Europa Firmen schliessen müssen, verlieren Menschen ihre Jobs und werden keine Produkte aus China mehr kaufen.

Chinas Wirtschaft lahmt deutlich, kaum ein Experte glaubt noch, dass das Wachstumsziel von fünf Prozent erreicht werden kann. Wie stehen die Chancen für eine baldige Kehrtwende?

Schlecht. Es gibt Massnahmen, mit denen die Regierung kurzfristig das Wachstum beleben könnte. Dazu gehören Steuererleichterungen oder eine Anhebung der Renten. Damit hätten die Menschen mehr Geld in der Tasche. Das grundlegende Problem aber ist die extreme Zurückhaltung der Chinesen beim Konsum. Die Menschen haben kein Vertrauen mehr in die Zukunft.

Wie kann die Regierung das Vertrauen wiederherstellen?

Ein Problem ist, dass die Haushalte enorme Kosten zu schultern haben. Junge Paare müssen Eltern und Schwiegereltern versorgen, Schulen und Kindergärten sind extrem teuer, die Gesundheitsversorgung ebenfalls. Das grösste Problem ist aber die Krise im Immobiliensektor. Siebzig Prozent der privaten Vermögen stecken in Häusern und Wohnungen. Wenn die Preise aber um zwanzig oder dreissig Prozent fallen, hat doch niemand mehr Lust, Geld auszugeben.

Die Regierung versucht seit zwei Jahren den Immobilienmarkt zu stabilisieren. Ohne Erfolg.

Eine Lösung ist politisch heikel. Während der Finanzkrise 2008 und 2009 in Europa und den USA haben die Regierungen schnell bestimmt, wer die Zeche für die geplatzten Immobilienblasen zu zahlen hatte. Es waren die privaten Haushalte und öffentliche Institutionen. Viele Menschen waren wütend und wählten ihre Regierungen ab. Aber am Ende hat es funktioniert.

In China können die Menschen ihre Regierung nicht abwählen. Ist das der Grund, warum eine solche Lösung nicht funktionieren kann?

Wer in China loszieht und etwas beginnt, das vielen Menschen weh tut, könnte ein massives Problem heraufbeschwören. Umso mehr als viele Chinesen ihre Wohnungen bezahlt haben, bevor sie überhaupt gebaut wurden. Es wird lange dauern, bis sich der Markt stabilisiert. Die Chancen für eine baldige wirtschaftliche Erholung stehen darum schlecht.

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