Die Welt steht kopf, und die Schweiz sucht ihre Rolle. Bern versucht es in Trumps Washington mit einer Charmeoffensive.
Donald Trumps zweite Präsidentschaft ist für Europa ein Wendepunkt. EU-Staaten und Grossbritannien wollen umfassend aufrüsten. Auch in der Schweiz sehen selbst Bürgerliche die Abhängigkeit von den USA zusehends kritisch. Der Nationalrat verabschiedete eine Erklärung, in der er eine eigenständige europäische Sicherheitspolitik und eine aktive Rolle der Schweiz verlangt. Der Bundesrat schien dagegen umgehend zur politischen Tagesordnung zurückzukehren. Die Aussenpolitik habe sich nicht verändert, hielt Bundespräsident Karin Keller-Sutter unlängst namens der Landesregierung fest.
Am Mittwoch hat sich nun Ignazio Cassis zur Weltlage und zur Rolle der Schweiz geäussert. Der Aussenminister sprach an einem Anlass der Gesellschaft Schweiz-Uno in Bern, wo er Bilanz zum zweijährigen Einsatz der Schweiz im Uno-Sicherheitsrat zog. «Wir befinden uns in einer Phase der globalen Disruption – in einer Übergangszeit zu einer neuen Ära», sagte er. Grossmächte setzten ihre Interessen zunehmend kompromisslos durch. Viele Länder seien auf dieses Spiel nicht vorbereitet. «Alte Gewissheiten schwinden, Freunde werden unberechenbar.»
Die Schweiz muss aufwachen
Europa macht der Wandel besonders zu schaffen. Frieden und Stabilität hätten lange als gegeben gegolten, doch nun brauche es mehr Unabhängigkeit – wirtschaftlich wie sicherheitspolitisch, sagte Cassis. Stabilität und Langsamkeit bewahrten die Schweiz zwar vor manchen Fehlern, doch das Land könne sich den globalen Trends nicht entziehen. «Geopolitik ist kein Spektakel, das wir aus sicherer Distanz betrachten.» Auf die Schweiz würden schwierige Zeiten zukommen, antwortete Cassis auf eine Frage aus dem Publikum. Der Druck, bei der Verteidigung mehr zu tun, werde massiv steigen. Während die Schweiz anstrebe, ein Prozent des BIP für die Armee auszugeben, sprächen andere bereits von fünf Prozent. Das Land müsse aufwachen.
Die Schweiz rechtfertigt ihre Sonderstellung traditionell mit der Neutralität und den Guten Diensten. Doch bei den grossen Konflikten spielt sie diplomatisch zurzeit kaum eine Rolle. Die USA hätten die Macht, um sich für einen Waffenstillstand in der Ukraine einzusetzen, sagte Cassis. Aber in einer späteren Phase brauche es Wissen, das die Schweiz habe. «Es gibt einen Platz für unser Land.» Die Schweiz müsse ihre diplomatische Arbeit gut machen. Nur dann würden die Nachbarländer akzeptieren, dass sie nicht mehr Geld für ihre Armee ausgebe.
Gefragt ist gemäss Cassis jedoch kein Aktionismus, sondern Standhaftigkeit. Als eines der am stärksten globalisierten Länder sei die Schweiz darauf angewiesen, dass Regeln zählten. Deshalb müsse sie ihre Vernetzung mit Europa, den USA und China, den wichtigsten Handelspartnern, gezielt stärken.
Erste Kontakte zur Trump-Administration
Stark im Fokus stehen gegenwärtig die USA, die das Ziel einer Schweizer Charmeoffensive sind. Anfang Woche weilte die Staatssekretärin für Wirtschaft, Helene Budliger, kurzfristig für Gespräche in Washington. Bern hofft, von Trumps Zöllen verschont zu werden. Die Treffen waren zwar eher niederschwellig. Doch es gelang, einen ersten Kontakt zu Vertretern der neuen Administration aufzubauen. Budliger habe dem Stabschef des US-Handelsbeauftragten dargelegt, dass die Schweiz keine unlauteren Handelspraktiken verfolge, hielt das Staatssekretariat für Wirtschaft fest. Das Treffen habe auch dazu gedient, Gespräche auf Ministerebene vorzubereiten. Budliger tauschte sich ferner mit amerikanischen Behördenvertretern über die Beschränkungen beim Export von KI-Chips in die Schweiz aus.
Diese Woche weilen auf Einladung des Aussendepartements (EDA) auch sechs Parlamentarier aus den USA – je drei Republikaner und Demokraten – in Zürich, Bern und Genf. Die Schweiz organisiert jedes Jahr eine derartige Reise. Wenige Monate nach den amerikanischen Wahlen ist aber das Timing gut. Am Mittwoch traf die Delegation Schweizer Parlamentarier, die Bundesräte Cassis und Guy Parmelin, Budliger sowie weitere Staatssekretäre. Es sei darum gegangen, die Schweiz näherzubringen, sagte ein Sprecher des EDA.
Trotz der Gespräche mit den USA gewinnt das Verhältnis zu Europa mit den geopolitischen Umwälzungen an Gewicht. Die Schweiz dürfe sich keine Illusionen machen, sagte Cassis am Mittwoch. «Wenn Verträge keinen Nutzen mehr bringen, setzen gerade die Grossmächte ihre Interessen rücksichtslos durch.» Deshalb brauche die Schweiz eine Europäische Union, die auf Regeln setze, trotz all ihrer Schwächen. Die Bilateralen mit der EU stabil und zukunftsfähig zu verankern, sei nicht nur wirtschaftlich sinnvoll, sondern eine strategische Notwendigkeit. Der Bundesrat will die neuen und revidierten Abkommen mit der EU im kommenden Jahr unterzeichnen.
Cassis kritisiert Uno-Sicherheitsrat
gaf. Von 2023 bis 2024 sass die Schweiz als nichtständiges Mitglied im Uno-Sicherheitsrat. Trotz der schwierigen Rahmenbedingungen habe sie Akzente setzen können, sagte Bundesrat Ignazio Cassis am Mittwoch in Bern. Er verwies etwa auf eine von der Schweiz eingebrachte Resolution, die humanitäre Helfer in Krisengebieten schützen will. «Die Schweiz kann Sicherheitsrat», sagte Cassis. Im Schlussbericht, den der Bundesrat letzte Woche zur Kenntnis genommen hat, zieht das Aussendepartement insgesamt eine positive Bilanz. Die Schweiz habe im Rahmen ihrer Möglichkeiten dazu beigetragen, dass der Rat in vielen Kontexten seine Verantwortung wahrgenommen habe.
Cassis warf am Mittwoch allerdings auch einen kritischen Blick auf das mächtigste Uno-Gremium. Der Sicherheitsrat sei je länger, desto weniger wirksam, sagte er. Dass mit Russland ein ständiges Mitglied die Uno-Charta verletze, stelle die Organisation infrage. «Viele Resolutionen sind bloss Papier und werden nicht mehr wahrgenommen.» Der Sicherheitsrat sei immer weniger in der Lage, Probleme zu lösen. Das Gremium sei zwar bei Friedensmissionen in Afrika und anderswo handlungsfähig geblieben. Diese Dossiers seien aber nicht matchentscheidend.