Im Land von Zwingli und Calvin ist nur noch jeder Fünfte protestantisch. Das hat auch mit der Zuwanderung aus Deutschland zu tun.
Den Bischöfen läuft das Volk davon: 67 000 Personen sind 2023 aus der katholischen Kirche ausgetreten, das waren fast doppelt so viele wie im Vorjahr. Die Zahlen waren bereits bekannt, das Schweizerische Pastoralsoziologische Institut (SPI) hatte sie im letzten November veröffentlicht. Nun zeigen die neuen Daten des Bundesamts für Statistik (BfS), wie sich die Austrittswelle auf die konfessionelle Zusammensetzung der Bevölkerung auswirkt.
Nur noch 30,7 Prozent der rund 7,4 Millionen Menschen über 15 Jahren in der Schweiz gehörten Ende 2023 der katholischen Kirche an. Das sind 1,4 Prozentpunkte weniger als 2022. Ein wesentlicher Faktor dürfte die im Herbst 2023 veröffentlichte Pilotstudie zu den Missbrauchsfällen in der Kirche oder in den Orden sein, die für grosse Empörung sorgte – gerade auch bei den engagierten Kirchenmitgliedern.
Zum Schrumpfen der Kirche tragen aber nicht nur die Austritte bei, sondern auch die Todesfälle der Mitglieder, die durch die immer geringere Zahl von Taufen nicht kompensiert werden können. Und auch die Zuwanderung aus Südeuropa, dank der die katholische Bevölkerung in den 20 Jahren relativ stabil blieb, reicht nicht mehr aus, um die Abgänge wettzumachen.
Überalterung auch bei den Katholiken
Der Theologe Arnd Bünker, der das SPI leitet, geht davon aus, dass die Zahl der Austritte bei den Katholiken mit grösserer Distanz zum «Schock» der Missbrauchsstudie wieder etwas zurückgeht. Dennoch könnte die Zahl der Kirchenmitglieder in den kommenden Jahren noch stärker schwinden.
Denn bis jetzt profitiert die katholische Kirche davon, dass sie dank der Migration eine Altersstruktur hat, die weitgehend jener der Gesamtbevölkerung entspricht. «Weil aber immer weniger Junge nachkommen, wird es zu einer Überalterung kommen», sagt Bünker. Und wenn die treuen Kirchgänger der älteren Generationen sterben, macht sich das statistisch umso stärker bemerkbar.
Noch schneller verläuft der Niedergang bei den Reformierten. 1970 stellten sie noch 49 Prozent der Bevölkerung und waren die grösste Konfession des Landes. Nun fällt ihr Anteil erstmals auf unter 20 Prozent, er liegt noch bei 19,5 Prozent.
Rita Famos, Präsidentin der Evangelisch-reformierten Kirche Schweiz (EKS), sagte im November, viele Mitglieder seien institutionell nur noch lose mit der Kirche verbunden. «Die mediale Präsenz des Missbrauchsthemas hat sie an ihre Kirchenmitgliedschaft erinnert und den längst beschlossenen Austritt umsetzen lassen» – dies erklärt den Umstand, dass auch bei den Reformierten die Zahl der Abgänge 2023 nach oben schoss.
Kirchenferne Deutsche und Franzosen
Leicht zulegen konnten andere christliche Glaubensgemeinschaften und die Muslime. Am schnellsten wächst indes die Gruppe der Konfessionslosen, die 2022 zur grössten weltanschaulichen Fraktion wurde. Nun sind bereits 35,6 Prozent der Erwachsenen ohne Religionszugehörigkeit. Besonders weit fortgeschritten ist die Säkularisierung in den Städten. In Basel sind 57 Prozent konfessionslos, in Genf und in Zürich auch bereits fast die Hälfte.
Eine wichtige Rolle spielen dabei auch die Zuwanderer aus dem Norden und dem Westen. Bei den Franzosen, die in der Schweiz leben, liegt die Quote der Konfessionslosen bei 63 Prozent, bei den Deutschen bei 55 Prozent. Der hohe Anteil unter den Franzosen könnte laut Bünker auch damit zusammenhängen, dass sie es in ihrem laizistischen Heimatland nicht gewohnt sind, nach ihrer Konfession gefragt zu werden – und entsprechend aus Irritation teilweise «konfessionslos» angeben, auch wenn sie eigentlich katholisch sind.
Dass eine Mehrheit der Einwohner mit deutschem Pass keiner Kirche angehört, hat verschiedene Gründe. So ist auch in Deutschland der Anteil der Konfessionslosen mit 46 Prozent schon deutlich höher als in der Schweiz, unter anderem wegen der religionsfeindlichen Politik der DDR, die in Ostdeutschland bis heute deutliche Spuren hinterlassen hat.
Hinzu kommt, dass die deutschen Zuwanderer relativ jung und gut ausgebildet sind. Diese beiden Faktoren korrelieren laut der religionswissenschaftlichen Forschung stark mit einer erhöhten Distanz zu den Kirchen. Und für manche Lutheraner mag es auch schwierig sein, Anschluss bei einer reformierten Kirche in der Schweiz zu finden.
Betrachtet man nur die Schweizer Staatsbürger, zeigt sich, dass dort die Katholiken (34 Prozent) noch deutlich an der Spitze stehen. Und die Reformierten liegen mit 28 Prozent nur knapp hinter den Konfessionslosen (29 Prozent).
Auch wenn die Mitgliederzahlen der Kirchen rapide sinken, ist die religiöse Praxis in der Schweiz durchaus noch lebendig. Zwei Drittel der Einwohner besuchen laut BfS mindestens einmal pro Jahr einen Gottesdienst. Und jene, die gar nie beten, sind immer noch in der Minderheit. An einen «einzigen Gott» glauben 40 Prozent, an irgendeine höhere Macht 25 Prozent. 18 Prozent wissen nicht, ob es Gott gibt, 15 Prozent bezeichnen sich als Atheisten.