Sonntag, März 16

Während europäische und amerikanische Mitbewerber auftrumpfen, ist der Pharmariese Roche seit zwei Jahren an der Börse auf Talfahrt. Der einstige Branchenprimus muss dringend aus dem Tiefschlaf finden.

Kein anderer Konzern trägt so viel zur Schweizer Wirtschaftsleistung bei wie der Medikamentenhersteller Roche. Im vergangenen Jahr wiesen der Rohstoffhändler Glencore und der Nahrungsmittelriese Nestlé zwar noch höhere Umsätze aus als das Basler Unternehmen, doch erbringen diese beiden Firmen ihre Wertschöpfung zum überwiegenden Teil im Ausland.

Top-Dividendenzahler

Nicht so Roche: 2023 exportierte das Unternehmen laut eigenen Angaben für rund 33 Milliarden Franken Medikamente sowie Produkte für die Diagnostik. Dies entspricht einem Anteil von über 10 Prozent an den gesamten Schweizer Warenausfuhren.

Der Exportriese Roche spielt hierzulande auch als Steuer- und Dividendenzahler eine herausragende Rolle. Das Unternehmen erwirtschaftete im vergangenen Jahr ein Konzernergebnis von 12,4 Milliarden Franken. Davon schüttet es gegen 8 Milliarden Franken an die Anteilseigner aus.

Roche ist damit eine Topadresse schlechthin. Doch ganz und gar nicht zu diesem Bild passt, wie sich das Unternehmen seit zwei Jahren an der Börse schlägt. Roche hinterlässt dort nicht den Eindruck von Stärke, sondern eher von Schwindsucht.

Seit dem Frühling vor zwei Jahren, als die Roche-Genussscheine ein Allzeithoch von 400 Franken erreicht hatten, ist der Kurs um rund 40 Prozent gefallen. Die Marktkapitalisierung der Firma wurde dadurch um über 100 auf unter 200 Milliarden Franken dezimiert.

Schwindsucht statt Stärke

Kurs Roche-Genussscheine in Franken

Zwar hat Roche auch dieses Jahr – zum 37. Mal in Folge – die Dividende erhöht, doch die schwache Kursentwicklung lässt sich nicht mehr wegdiskutieren. An der Generalversammlung im März sah sich die sonst so selbstbewusste Konzernführung gezwungen, das Problem offen anzusprechen. «Natürlich sind auch wir nicht zufrieden», gestand Thomas Schinecker ein. Der Konzernchef hatte seinen Posten ein Jahr zuvor angetreten – als Nachfolger von Severin Schwan, der seither als Verwaltungsratspräsident amtiert.

Pharmabranche ist sonst in bester Verfassung

Das schwache Abschneiden ist für den einstigen europäischen Branchenprimus umso schmerzhafter, als sich die Pharmaindustrie in Hochform befindet. Die wachsende Zahl von älteren Personen, Fortschritte vorab bei der Bekämpfung von Krebserkrankungen, aber auch bei bisher medikamentös kaum therapierbaren Leiden wie Fettleibigkeit verhelfen Pharmafirmen zu zweistellig steigenden Einnahmen.

Die Aktien vieler Medikamentenanbieter stossen vor diesem Hintergrund denn auch auf eine rege Nachfrage. So sind die Papiere von Novartis aus einer mehrjährigen Seitwärtsbewegung ausgebrochen. Mit knapp über 200 Milliarden Franken Börsenkapitalisierung hat der Basler Lokalrivale Roche überholt, obschon er mit 45 Milliarden Dollar vom Umsatz her fast ein Drittel kleiner ist.

Führungsrolle in der Onkologie verloren

Erst recht verblasst die Wertentwicklung von Roche im Vergleich mit jener von ausländischen Konkurrenten. Die dänische Firma Novo Nordisk, die zusammen mit dem US-Konzern Eli Lilly das Geschäft mit den neuen Spritzen zum Abnehmen beherrscht, hat es geschafft, mit einer Marktkapitalisierung von umgerechnet 400 Milliarden Franken Roche regelrecht zu deklassieren. Auch der britische Mitbewerber AstraZeneca ist dank eindrücklichen Erfolgen in der Entwicklung neuer Krebsmittel mittlerweile mehr wert als die Basler, von den amerikanischen Schwergewichten Eli Lilly, Johnson & Johnson sowie Merck & Co. ganz zu schweigen.

Roche war zusammen mit der US-Tochterfirma Genentech einst der unangefochtene Marktführer im Geschäft mit Krebstherapien. Doch in der Onkologie macht der Konzern schon länger kaum mehr von sich reden – und wenn, dann überwiegend mit negativen Schlagzeilen. So enttäuschte das Unternehmen 2022, im letzten Amtsjahr von Schwan als CEO, mit einem potenziellen neuen Medikament gegen Lungenkrebs. Im selben Jahr floppte auch ein wichtiger Kandidat in einem anderen zukunftsträchtigen Therapiegebiet, der Behandlung von Alzheimer.

Wo bleiben neue Umsatzträger?

Angesichts solcher Rückschläge kann die Führung von Roche noch so oft betonen, man besitze branchenweit eine der besten Pipelines in der Forschung und Entwicklung. Tatsächlich hat das Unternehmen seinen Fokus in jüngerer Zeit sogar noch ausgeweitet und arbeitet nun auch an potenziellen Therapien gegen Fettleibigkeit oder Bluthochdruck. Doch für die Kursentwicklung am Aktienmarkt ist in erster Linie entscheidend, welche Produkte ein Medikamentenhersteller kurz vor der Markteinführung hat. Und da macht Roche keine gute Figur.

Es fehle dem Konzern an potenziellen neuen Umsatzträgern, bemängeln Analysten der UBS stellvertretend für viele Marktbeobachter. Der mangelnde Nachschub ist für Roche besonders kritisch, da zugleich wichtige Produkte wie das Krebsmedikament Perjeta oder der Entzündungshemmer Actemra im Begriff sind, durch günstigere Generika herausgefordert zu werden.

Geblendet von früheren Verkaufserfolgen

Von zehn potenziellen neuen Wirkstoffen, die es bis in die klinische Erprobung am Menschen schaffen, gelangt erfahrungsgemäss nur einer auf den Markt. So gesehen spielt immer auch ein Stück weit Glück bei der Medikamentenentwicklung mit. Roche hatte obendrein schon früher mit Durststrecken zu kämpfen. So scheiterten vor rund zehn Jahren mehrere Kandidaten der Firma unter anderem zur Behandlung von Diabetes.

Doch Roche muss sich auch den Vorwurf gefallen lassen, neue Trends im Markt entweder nicht rechtzeitig erkannt zu haben oder ihnen zu wenig konsequent gefolgt zu sein. Als Severin Schwan 2008 sein Amt als CEO antrat, profitierte der Konzern stark von drei damals überaus umsatzträchtigen Krebsmedikamenten. Das Trio, bestehend aus Avastin, Herceptin und Mabthera, brachte zeitweise über 20 Milliarden Franken pro Jahr ein.

2014 kam mit Keytruda indes ein Medikament aus der neuen Kategorie der Immuntherapien auf den Markt, das sich zu einem Verkaufsschlager par excellence entwickelte. Letztes Jahr erreichte dieses Präparat von Merck & Co. allein einen Umsatz von 25 Milliarden Dollar. Die Antwort von Roche darauf, das Präparat Tecentriq, verzeichnete 2023 Verkäufe von 3,8 Milliarden Franken.

Wenig später nach der Keytruda-Lancierung stellten auch Novo Nordisk und Eli Lilly die Weichen für ihren nun durchschlagenden Erfolg mit den Abnehmspritzen. Roche hatte nach schlechten Erfahrungen mit einem früheren Schlankmacher lange Zeit einen weiten Bogen um das Therapiegebiet der Fettleibigkeit gemacht. Das Unternehmen wagte sich erst im vergangenen Jahr via eine Akquisition in diesen Bereich zurück. Vorletzte Woche wurden vielversprechende Daten aus einer Phase-I-Studie bekannt. Noch liegt aber viel Arbeit vor Roche. Mit einer Markteinführung ist bestenfalls gegen Ende dieses Jahrzehnts zu rechnen.

Hoffnungen ruhen auf neuem Konzernchef

Schwan durchlief für einen CEO eines Grosskonzerns mit 15 Jahren eine ausserordentlich lange Amtszeit. Dennoch wurde er vor einem Jahr nahtlos in das Präsidium gewählt und übernahm damit auch die Beaufsichtigung seines Nachfolgers Thomas Schinecker. Vertreter der Erbenfamilien, die bei Roche die Mehrheit der Aktionärsstimmen halten, wollten es so. Kontinuität wird beim traditionell konservativ geführten Pharmakonzern auch in den Leitungsgremien grossgeschrieben.

Schinecker, einem blitzgescheiten Molekularbiologen, ist es gleichwohl zuzutrauen, neue Akzente zu setzen und Dinge anzupacken, die in der Vergangenheit unter Schwan versäumt wurden. Der Manager, der vor seinem Wechsel an die Konzernspitze während vier Jahren bereits die Diagnostiksparte mit Erfolg geführt hatte, besitzt die nötige Autorität, um sich von seinem Vorgänger abzugrenzen. So hat sich Schinecker bereits darangemacht, die Pipeline, die unter Schwan übermässig viele Projekte umfasste, zu entrümpeln. Roche soll sich auf weniger, dafür auf besonders aussichtsreiche Forschungsvorhaben konzentrieren.

Zugleich fordert der CEO beim Koloss mit weltweit über 100 000 Mitarbeitern ein höheres Tempo ein. Betriebliche Prozesse sollen, wie dies unter seiner damaligen Führung in der Diagnostik vorexerziert wurde, auch im Pharmabereich vereinfacht, Strukturen verschlankt werden.

Umbau braucht Zeit

All diese Schritte sind überfällig. Doch ihre Umsetzung braucht Zeit. Hinzu kommt: Selbst in der Konzernleitung räumt man offen ein, dass vor 2025 kaum mit substanziellen Neuigkeiten zu Produkten zu rechnen sei, die sich in der Spätphase der klinischen Entwicklung und damit kurz vor einer möglichen Markteinführung befänden.

Damit dürfte es Roche zumindest in der kurzen Frist an Impulsen fehlen, um an der Börse Vertrauen zurückzugewinnen. Der einstige Champion muss erst neues Selbstvertrauen tanken. Im Rückstand zu liegen, kann aber auch ungeahnte Kräfte freisetzen. Die Aktionäre erwarten vom Pharmariesen zu Recht, dass er möglichst rasch wieder in die Gänge kommt. Das Trauerspiel der letzten zwei Jahre muss ein baldiges Ende finden.

Exit mobile version