Samstag, Februar 22

Die Vorlage für die neue Schutzklausel steht vor dem Abschluss. Geplant ist ein Regelwerk mit vielen Daten und fixen Schwellenwerten. Auch regionale Einschränkungen sollen möglich sein.

Im Kampf um die neuen Verträge mit der EU gibt es viele Konfliktlinien. Beim Lohnschutz konnte der Bundesrat am Mittwoch Fortschritte vermelden, eine Einigung mit den Gewerkschaften rückt überraschend früh in Reichweite. Mindestens so wichtig ist aber, wie sich die Debatte um die Zuwanderung entwickelt.

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Hier ist vor allem eine Frage offen: Wie gedenkt der Bundesrat die Schutzklausel umzusetzen, die seine Unterhändler der EU abgerungen haben? Sie sorgt bereits für heftigen Streit, manche Befürworter sehen darin schier ein Wundermittel, die Gegner aber ein reines Täuschungsmanöver.

Das Ziel ist klar: Die Klausel soll es der Schweiz erlauben, die Personenfreizügigkeit vorübergehend einzuschränken, falls die Einwanderung aus der EU negative Ausmasse annimmt. Die Vereinbarung mit Brüssel ist knapp gehalten: Kann die Schweiz «ernsthafte wirtschaftliche oder soziale Probleme» nachweisen, darf sie die Zuwanderung temporär bremsen.

Das lässt viel Spielraum. Umso wichtiger ist die innerstaatliche Umsetzung der Schutzklausel im Ausländergesetz, über welche die Schweiz autonom entscheidet. Der Justizminister Beat Jans hat dazu ein Konzept erarbeitet, das der Bundesrat am Mittwoch gutgeheissen hat, ohne über den Inhalt zu informieren.

Von Sozialhilfe bis Wohnungsmarkt

Auch auf Nachfrage macht das Staatssekretariat für Migration (SEM) erst vage Angaben: Der Bundesrat soll anhand von «Schwellenwerten und Indikatoren» prüfen, ob die Voraussetzungen erfüllt sind, um die Freizügigkeit zu beschränken. Möglich wäre dies für das ganze Land, einzelne Regionen oder bestimmte Branchen. Wenn der Bundesrat tatsächlich «ernsthafte Probleme» erkennt, kann er die Schutzklausel aktivieren und das Verfahren mit der EU starten. Für diesen Fall wird das Gesetz auch definieren, welche Massnahmen möglich sind. Weiter äussert sich das SEM nicht.

Informationen gut informierter Quellen lassen jedoch weitere Rückschlüsse zu. Demnach will der Bundesrat die Schutzklausel zu einer Art statistischer Alarmanlage ausbauen, die losgeht, wenn die Einwanderung unerwünschte Auswirkungen hat. Bei den «Indikatoren» handelt es sich um ein breites Spektrum von Kennzahlen, mit denen der Bund die Migration und ihre Folgen beobachten will. Dazu zählen neben der Nettozuwanderung die Lohnentwicklung, Arbeitslosenzahlen oder Sozialhilfequoten. Aber auch Daten zum Wohnungsmarkt sowie zu Infrastrukturen sollen Teil des Regelwerks sein. So weit, so unverbindlich.

Aber offenkundig will es der Bundesrat nicht dabei bewenden lassen. Laut den Quellen ist geplant, für besonders wichtige Kennzahlen wie die Zahl der Stellensuchenden Schwellenwerte festzulegen, die verbindlich sind. Allerdings sollen sie keine absoluten Höchstzahlen umfassen, sondern «nur» angeben, wie stark sich ein Indikator in einem bestimmten Zeitraum verändern darf.

Bereits dies hat es in sich. Erstmals müsste der Bundesrat etwa die knifflige Frage beantworten, wie gross die Nettozuwanderung ausfallen darf, um als unproblematisch zu gelten. Mit einem solchen Mechanismus nimmt er sich selbst in die Pflicht. Solange die Migration auf hohem Niveau weitergeht, ist immer mit heftigen Kontroversen zu rechnen, wenn ein Schwellenwert überschritten wird. Der Bundesrat wäre verpflichtet, die Aktivierung der Schutzklausel zu prüfen und seinen Entscheid öffentlich zu begründen. Auch die Kantone könnten ihn zum Handeln auffordern.

Beat Jans will eine scharfe Schutzklausel

Bundesrat Jans hat hohe Erwartungen geweckt. Er scheint entschlossen zu sein, die Schutzklausel relativ scharf umzusetzen. Aus seiner Sicht müsste es möglich sein, sie auch in Zeiten wie heute zu aktivieren, in denen zwar die Einwanderung hoch ist, nicht aber die Zahl der Arbeitslosen und der Sozialhilfebezüger. Vergangene Woche sagte Jans im Interview mit der NZZ: «Wenn wir weiterhin eine so hohe Zuwanderung haben, gehe ich fest davon aus, dass die Schweiz die Schutzklausel aktivieren wird. Alles andere würde die Bevölkerung nicht akzeptieren.»

Eine andere Frage ist, welche konkreten Massnahmen der Bundesrat ergreifen könnte, um die Einwanderung zu drosseln. Das Gesetz soll ihm grossen Spielraum geben, damit er möglichst präzis auf die Probleme reagieren kann. Je «logischer» die Eingriffe sind, desto eher werden sie wohl auch von der EU akzeptiert. Strömen zum Beispiel wegen einer Krise in einem Nachbarland viele Arbeitslose ins Land, könnte der Bund die Stellensuche für EU-Bürger beschränken.

Angedacht sind auch Eingriffe zulasten der Wirtschaft: Der Bund könnte wieder vorgängige Lohnkontrollen vorschreiben, wenn eine Firma einen EU-Bürger einstellen will. Möglich wären auch finanzielle Abgaben oder eine Ausweitung des Inländervorrangs. Doch auch der «Holzhammer» soll Teil des Arsenals sein: Kontingente für das ganze Land.

Kein Vetorecht mehr für Brüssel

Bleibt noch die schwierigste Frage: Wie wird sich die EU verhalten? Unabhängig davon, was im Schweizer Gesetz steht, kann Brüssel ein gewichtiges Wort mitreden. Allerdings dürfte sich die Dynamik im bilateralen Verhältnis mit den neuen Verträgen gerade auch bei der Zuwanderung verändern.

Heute hat die EU faktisch ein Vetorecht: Es gibt zwar schon eine Schutzklausel, aber diese ist «konsensual» ausgestaltet. Die Schweiz könnte sie nur anwenden, wenn die EU damit einverstanden wäre. Das entspricht dem heutigen Stand der bilateralen Beziehung: So wie die Schweiz bis dato zum Beispiel eine Lockerung ihres Lohnschutzes politisch schlicht und einfach verweigern kann, so kann auch die EU Eingriffe in die Freizügigkeit verhindern. Es genügt, wenn ihre Vertreter im Gemischten Ausschuss Schweiz – EU Nein sagen. Damit ist die Sache erledigt.

Künftig würde das Verfahren weitergehen. Mit der neuen Schutzklausel kann die Schweiz den Fall vor ein paritätisches Schiedsgericht bringen. Damit ändern sich die Vorzeichen für die Diskussion auf politischer Ebene: Wenn die EU weiss, dass die Schweiz die Sache weiterziehen kann, sollte dies – so hofft man in Bern – die Kompromissbereitschaft erhöhen.

Kommt dennoch das Schiedsgericht zum Zug, geht es dort um eine einzige Frage: Bestehen in der Schweiz tatsächlich ernsthafte Probleme, die eine Begrenzung der Freizügigkeit erlauben? Zu den konkreten Massnahmen, welche die Schweiz vorsieht, hat das Gericht im Schutzklausel-Verfahren nichts zu sagen. Gerade weil die Materie so eng umrissen ist, geht Bern davon aus, dass der Europäische Gerichtshof hier nicht mitreden kann.

Eine Regel für den Regelbruch

Einen Freipass wird die Schweiz trotzdem nicht erhalten. Schränkt sie die Zuwanderung ein, sind zwei Varianten möglich: Handelt sie mit dem Segen der EU oder des Schiedsgerichts, darf Brüssel dieselbe Einschränkung der Freizügigkeit gegenüber Schweizern anwenden. Agiert die Schweiz hingegen ohne Zustimmung, kann die EU auch in anderen Binnenmarktverträgen Gegenmassnahmen ergreifen (ausser bei der Landwirtschaft). Möglich sind etwa Nachteile beim Export, indem die EU die Anerkennung von Zertifizierungen einschränkt.

Fazit: Die Schutzklausel regelt den Regelbruch. Würde die Schweiz heute temporär einen Inländervorrang oder Einwanderungsabgaben einführen, drohte eine Eskalation mit willkürlichen Nadelstichen der EU. Künftig könnte Bern auf dem Rechtsweg einen Entscheid erzwingen. Es gäbe immer noch eine Gegenreaktion, aber sie müsste verhältnismässig sein und sollte sich besser antizipieren lassen.

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