Freitag, September 27

Die Ukraine übte offenbar Druck auf das Festival aus. Es handle sich bei dem Film um russische Propaganda. Tatsächlich ist kaum vorstellbar, dass die Regisseurin freie Hand hatte. Gleichzeitig zeigt «Russians at War» wahrlich kein vorteilhaftes Bild der russischen Truppen.

«Russians at War» wird doch nicht gezeigt. Wie das Zurich Film Festival (ZFF) am Donnerstag verlautete, entfallen alle Vorführungen der kontroversen Kriegsdokumentation. Viermal hätte der Film, der russische Soldaten an der Front im Ukraine-Krieg begleitet, zwischen dem 7. und dem 12. Oktober präsentiert werden sollen. Geplant war auch ein Podium mit der kanadisch-russischen Regisseurin Anastasia Trofimova. Trotz der Absage bleibt der Film Teil des Dokumentarfilm-Wettbewerbs; die Jury wird ihn unter Ausschluss der Öffentlichkeit sichten.

Das ZFF hat den Entscheid wegen Sicherheitsbedenken gefällt. «Die Sicherheit unseres Publikums, der Gäste, Partner und Mitarbeitenden steht für das ZFF an oberster Stelle», schreibt das Festival in einem kurzen Communiqué. Weitere Informationen könnten keine gegeben werden.

Laut Informationen der NZZ wirkten proukrainische Aktivisten, aber auch Vertreter der ukrainischen Regierung auf das ZFF ein, den Film aus dem Programm zu nehmen. Das Festival musste mit Störaktionen rechnen. In den sozialen Netzwerken gingen auch Drohungen gegen Exponenten des ZFF ein. Auf eine Anfrage der NZZ reagierte die ukrainische Botschaft in Bern nicht.

Bereits beim Filmfestival in Toronto (Tiff) mussten Aufführungen von «Russians at War» abgesagt werden. Erst unter schärfsten Sicherheitsvorkehrungen fanden nach Abschluss des Festivals zwei Vorstellungen statt. Der CEO des Tiff, Cameron Bailey, berichtete vor Ort von Hunderten Attacken gegen Festivalmitarbeiter in Anrufen und E-Mails: «Unsere Mitarbeiter haben Gewaltandrohungen erhalten, inklusive Androhung von sexueller Gewalt.»

«Bedrohung der nationalen Sicherheit»

Zunächst hatte der ukrainische Generalkonsul in Toronto gegen den Film protestiert. Da es sich bei «Russians at War» um eine kanadisch-französische Koproduktion handelt, äusserte sich auch die kanadische Vizepremierministerin Chrystia Freeland, die ukrainische Wurzeln hat. Sie räumte ein, den Film nicht gesehen zu haben, teilte aber dessen ungeachtet die kritische Auffassung des Generalkonsuls in Toronto.

In der Ukraine scheint die Opposition gegen den Film von höchster Stelle zu kommen. Das ukrainische Kulturministerium (MSCS) erklärte Trofimova vergangene Woche zu einer «Bedrohung für die nationale Sicherheit». Sie sei die 233. Person auf dieser Liste. Unlängst forderte ausserdem das ukrainische Aussenministerium auf X das Zurich Film Festival (das der NZZ gehört) dazu auf, «den Ruf des Festivals nicht durch die Vorführung von ‹Russians at War› zu ruinieren». Der Film sei Propaganda und beschönige Kriegsverbrechen.

«Russians at War» ist zu einer Staatsaffäre geworden. Man kann sich nicht erinnern, wann zuletzt ein Film vergleichbar vehement bekämpft wurde. Was aber ist das für ein Film, den niemand sehen soll?

Augenschein von der Front

Eigentlich war eine Dokumentation über Antikriegsproteste in Russland geplant. So erzählt es in Venedig bei der Pressekonferenz die Oscar-nominierte kanadische Produzentin Cornelia Principe. Sie sei mit ihrer Idee auf die russisch-kanadische Filmemacherin Anastasia Trofimova zugegangen. Dann traf Trofimova offenbar zufällig in der Moskauer Metro auf einen Soldaten, der ihr vorschlug, sich selber ein Bild von den Kämpfen zu machen. Sie folgte seiner Einladung. «Russians at War» wurde zum Augenschein von der Front.

Als russische Bürgerin sei es kein Problem gewesen, in die besetzten Gebiete einzureisen, behauptet Trofimova. Drehgenehmigung habe sie keine gehabt. Ob das stimmt, ist zweifelhaft. Russland ist ein Überwachungsstaat.

Man sieht Trofimova in «Russians at War» weitgehend mit einer kleinen Gruppe von Sanitätern, die sich etwas abseits der Kampfeinheiten bewegen. Solange sie sich nicht zu nahe bei Offizieren aufgehalten habe, sei alles unproblematisch gewesen, betont Trofimova im Gespräch mit der NZZ. Niemand habe sie am Filmen gehindert.

Doch Russlandkenner halten das für unglaubwürdig. In den sieben Monaten, die sich die Filmemacherin laut eigener Aussage an der Front befunden habe, sei sie garantiert überwacht worden. Vielleicht rechnete das Regime jedoch mit einem anderen Film.

Vor der Kamera scheinen die Soldaten sehr offen zu sprechen. Die Männer sind müde. Manch einer weiss kaum noch, was er in diesem Krieg verloren hat. Andere plappern die Phrasen von Putin nach. Geld sei die Motivation gewesen, sich für den Einsatz zu melden, erklären die Dritten. Doch die Verträge der Soldaten sind teilweise längst ausgelaufen. Nicht wenige warten offenbar auf ihren Sold. Von Kampfeslust kann kaum die Rede sein. Militärisch macht die unkoordiniert wirkende Einheit auch wenig Eindruck. Wenn es nicht so ernst wäre, würde man sagen: Anastasia Trofimova zeigt eine Gurkentruppe.

Die Frage der Kriegsverbrechen

Trotzdem wird dem Film vorgehalten, russische Propaganda zu verbreiten. Viel diskutiert wird eine Szene, in der die Filmemacherin einen jungen Soldaten auf die russischen Kriegsverbrechen anspricht. Er könne sich nicht vorstellen, dass es solche gebe, erwidert er. Undenkbar. Kann nicht sein. Trofimova lässt das so stehen.

Für die Kritiker des Films hat sie sich damit entlarvt. Anastasia Trofimova verharmlose und «vermenschliche» die russischen Kriegsverbrecher, urteilt etwa die kremlkritische «Moscow Times». Indem sie die Soldaten als einfache Leute, als minderbemittelte Mitläufer darstelle, entlasse sie die Verbrecher aus der Verantwortung, findet der «Kyiv Independent».

Mehr noch wird der Filmemacherin unterstellt, eine Marionette des Regimes zu sein. «Propaganda, die auf die Subversion der Empathie zielt», urteilt eine freie Mitarbeiterin bei SRF. In ihrem Beitrag wird sogar die Möglichkeit aufgeworfen, dass die Soldaten in Wahrheit Schauspieler sein könnten. Hinterfragt wird die Filmemacherin vor allem auch, weil sie mehrere Jahre für den russischen Propagandasender «Russia Today» gearbeitet hat.

Laut eigener Darstellung war Trofimova für eine nicht ganz so ideologisierte Dokumentarfilmsparte des Senders tätig. Dort sei die Atmosphäre zunächst «relativ liberal» gewesen, rechtfertigt sie sich gegenüber der kanadischen Zeitung «The Globe and Mail». Das habe sich dann geändert, und 2020 habe sie die Zusammenarbeit beendet. Ohnehin sei ihr Themengebiet – der Mittlere Osten und der IS – fernab von Russland gewesen. In Venedig erklärte sie der Presse zudem, für die «New York Times» und die «Washington Post» als freie Mitarbeiterin tätig gewesen zu sein. Die «Washington Post» bestätigt einen Übersetzungsauftrag.

Kritiker haben den Film nicht gesehen

Für wen Anastasia Trofimova was genau gemacht hat, ist schwer überprüfbar. Doch sollte man sich nicht vorschnell eine Meinung machen. Das Zurich Film Festival präsentiere «russische Kriegspropaganda», kritisierte etwa ein Autor von «Watson»: «Das darf nicht unwidersprochen bleiben.» Allerdings hat der Autor, wie er auf Anfrage der NZZ erklärt, den Film gar nicht gesehen. Er dürfte nicht der Einzige sein. Ausser in Venedig und Toronto wurde «Russians at War» noch nicht gezeigt.

Die erste Vorführung in Venedig war wenig beachtet. Sie fand in einem Nebensaal statt, der bei weitem nicht ausgebucht war. Bei der anschliessenden Pressekonferenz fanden sich neben dem NZZ-Journalisten nur fünf oder sechs Medienvertreter ein. Rückblickend scheint es, als habe der «Kyiv Independent» die internationale Presse auf den Plan gerufen.

Eine Autorin der angesehenen Publikation knöpfte sich den Film vor. Ihr Bericht zog unzählige Artikel nach sich, in den sozialen Netzwerken braute sich der Sturm zusammen, der nach Toronto nun auch eine Schneise in Zürich zog. Dass sich das ZFF mithin gezwungen sah, die Filmvorführung zu streichen, ist erschreckend. Wichtig wäre es, den Film zugänglich zu machen und zu diskutieren. Die Autorin des «Kyiv Independent» hat nach eigener Aussage auch nur den Trailer gesehen.

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