Freitag, Oktober 18

Das Regime in Kabul stellt den Westen vor ein Dilemma. Die Strategie der Isolation ist gescheitert. Der Westen sollte sich jetzt auf gemeinsame Interessen fokussieren – in der Drogenpolitik etwa.

Sobald in den Ebenen am Fusse des Hindukusch der Frühling begann, blühte auf den Feldern weiss der Mohn. So war es seit den achtziger Jahren – Jahr für Jahr. Über 80 Prozent des Opiums und Heroins in der Welt stammten zeitweise aus Afghanistan. Damit ist es nun vorbei. Denn die Taliban haben im April 2022 ein vollständiges Verbot von Drogen verhängt und setzen dieses auch rigoros durch. Laut dem Uno-Büro für Drogenbekämpfung ist der Mohnanbau in Afghanistan im vergangenen Jahr um 95 Prozent zurückgegangen.

Unter dem Druck der Taliban pflanzen die Bauern nun vorwiegend Getreide statt Mohn an. Auch dieses Frühjahr dürfte in den Ebenen von Helmand, Kandahar und Farah wieder grün der Weizen spriessen – und das, obwohl Getreide den Bauern weit weniger Geld einbringt als Mohn. Die Opiumproduktion ist eingebrochen. Im Dezember meldete die Uno gar, Myanmar habe erstmals seit Jahrzehnten Afghanistan als grössten Opiumexporteur abgelöst.

Den Taliban ist damit gelungen, woran alle prowestlichen Regierungen in Kabul nach 2001 gescheitert waren. Trotz langjährigen Bemühungen war es ihnen nicht gelungen, den Mohnanbau einzudämmen. In den Jahren vor ihrem Sturz, als die Regierung zunehmend die Kontrolle über das Land verloren hatte, erreichte der Mohnanbau gar Rekordwerte. Die Folge war ein dramatischer Anstieg des Drogenkonsums entlang der gesamten Handelsroute von Helmand bis Hamburg.

Die meisten Drogentoten sterben an einer Überdosis Heroin

Das Drogenverbot der Taliban bietet nun die Chance, die Heroin- und Opiumepidemie einzudämmen. Doch den Westen stürzt dies in ein Dilemma: Er hat zwar ein Interesse daran, dass der Heroinschmuggel aus Afghanistan dauerhaft ausgetrocknet wird. Das Opioid ist in Europa noch immer für die meisten Drogentoten verantwortlich. Doch eine Kooperation mit den Islamisten kommt für den Westen nicht infrage, solange diese bei den Frauenrechten und anderen Streitfragen auf ihrer starren Haltung beharren.

Nun stellt sich das Problem, dass die Taliban ohne Hilfe des Auslands Mühe haben dürften, das Anbauverbot auf Dauer durchzusetzen. Sie setzen bis jetzt vorwiegend auf Zwang. Hilfen für die Bauern bei der Umstellung auf andere Feldfrüchte bieten sie kaum. Viele Kleinbauern, die am Rande des Existenzminimums leben, bringt dies in grosse Not. Um zu überleben, könnten viele gezwungen sein, zum Mohnanbau zurückzukehren.

Kleine Hilfsprojekte etwa zur Bereitstellung von Saatgut werden kaum genügen, um die Umstellung der Landwirtschaft zu schaffen. Für einen Wechsel zu anderen Feldfrüchten wie Weintrauben, Zitrusfrüchten oder Rosenöl ist der Aufbau von Bewässerungs- und Vertriebssystemen notwendig. Dafür braucht es einen langfristigen, umfassenden Entwicklungsplan. Hier könnte der Westen helfen, doch müsste er dafür zur Kooperation mit der Regierung der Taliban bereit sein.

Der Westen hat nur wenig Druckmittel gegen die Taliban

Kooperieren oder nicht kooperieren? Im Westen herrscht Konsens, dass eine formelle Anerkennung der Taliban-Regierung derzeit ausser Frage steht. Dafür müssten die Taliban die Frauen wieder an die Oberschulen und Universitäten lassen und ihnen die Arbeit für staatliche Behörden erlauben. Darüber hinaus wären Verbesserungen bei der Meinungs-, Versammlungs- und Religionsfreiheit und die Beteiligung anderer politischer Parteien an der Regierung nötig. Allerdings wird im Westen zunehmend diskutiert, ob es unterhalb der Schwelle der Anerkennung Möglichkeiten der Kooperation gibt.

Europäern und Amerikanern ist klar, dass sie wenig Druckmittel haben, um die Taliban zum Kurswechsel zu zwingen. Sanktionen beeindrucken die Islamisten wenig und treffen oft das Volk härter als das Regime. Die Bereitschaft im Westen, nach dem Scheitern der jahrelangen Bemühungen zum Aufbau eines demokratischen Staates erneut in Afghanistan zu intervenieren, ist nahe null. Die Taliban sitzen fest im Sattel, es gibt niemanden, der ihnen gefährlich werden könnte.

Der Widerstand gegen die Taliban ist nach ihrer Machtübernahme im August 2021 rasch kollabiert. Die alten Kriegsherren, Milizenführer und Parteichefs leben heute im Exil oder haben sich mit dem neuen Regime arrangiert. Abgesehen von Anschlägen des lokalen Ablegers des Islamischen Staats auf Angehörige der schiitischen Minderheit und vereinzelten Morden gibt es kaum noch politische Gewalt. Erstmals seit 1978 herrscht weitgehend Frieden in Afghanistan.

Ausser Ordnung haben die Taliban wenig zu bieten

Heute können sich die Afghanen ohne Angst vor Anschlägen, Überfällen und Entführungen im Land bewegen. Dank der verbesserten Sicherheitslage besuchen auch mehr Kinder die Grundschule – auch Mädchen. Anders als ihre Vorgänger kontrollieren die Islamisten nicht nur die grossen Städte, sondern auch die Dörfer auf dem Land. Das ist auch der Grund, warum es ihnen gelungen ist, ihr Verbot des Mohnanbaus durchzusetzen und die Labore für Opium, Heroin und Crystal Meth zu schliessen.

Doch die Taliban herrschen mit Zwang und Gewalt. Ihre Vorstellung der Scharia setzen sie rücksichtslos durch – Stockhiebe inklusive. Wer sich nicht an ihre strengen Regeln hält, dem drohen Festnahme, Folter und drakonische Strafen. Frauen, die ohne Kopftuch oder männlichen Vormund auf die Strasse gehen, riskieren Geldbussen und Gewahrsam. Besonders bedrohlich ist die Lage für Journalisten, Frauenrechtlerinnen und Vertreter der Zivilgesellschaft.

Ausser einer repressiven Form von Ordnung haben die Islamisten der Bevölkerung wenig zu bieten. Unter ihrer Herrschaft haben Hunger, Armut und Arbeitslosigkeit dramatisch zugenommen. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung ist auf Hilfe angewiesen. International isoliert und mit strengen Sanktionen belegt, hat das Regime keinen Zugang zu ausländischen Krediten. Selbst die Devisenreserven der Zentralbank bleiben eingefroren. Ausländische Investitionen sind weiter rar, die meisten Entwicklungsprojekte liegen auf Eis.

Einbindung ja, Anerkennung nein

Nicht einmal Pakistan, Russland oder China haben bis jetzt die Taliban als rechtmässige Vertreter Afghanistans anerkannt. Zugleich ist immer offensichtlicher, dass die Strategie der Isolation gescheitert ist. Gerade in den Nachbarländern wächst das Interesse an Kooperation – bei der Regulierung der Migration etwa oder beim Kampf gegen den Klimawandel, den Terrorismus und den Drogenhandel. Auch den westlichen Staaten ist zunehmend klar, dass es neue Ansätze braucht, um aus der Sackgasse zu kommen.

Unter Diplomaten wird daher über Wege diskutiert, wie man die Taliban stärker einbinden kann, ohne ihre Regierung anzuerkennen. Im März 2023 beauftragte der Uno-Sicherheitsrat den früheren türkischen Aussenminister Feridun Sinirlioglu damit, Vorschläge für die Einbindung der Taliban auszuarbeiten. Im November legte Sinirlioglu in einem Bericht dar, wie ein verstärktes, besser koordiniertes Engagement in Afghanistan aussehen könnte.

Im Februar organisierte die Uno zudem zum zweiten Mal eine Konferenz in Katar, um über ein verstärktes Engagement zu diskutieren. Dabei ging es auch um die Ernennung eines Sondergesandten für Afghanistan. Dieser soll sich für einen Dialog zwischen den Taliban und anderen politischen Parteien einsetzen. Allerdings sperren sich die Taliban gegen einen solchen Sondergesandten. Eine Einladung zu der Konferenz in Katar schlugen sie aus.

Eine Kooperation auf Arbeitsebene sollte kein Tabu sein

Darüber, wie es nun weitergehen soll, gehen die Ansichten auseinander. Deutschland, das sich einer wertebasierten, feministischen Aussenpolitik verschrieben hat, ist besonders entschieden dagegen, ohne vorherige Zugeständnisse Schritte in Richtung Anerkennung zu tun. Andere Länder wie Grossbritannien, Norwegen oder Japan sind eher bereit, zumindest auf Arbeitsebene Kontakte zu pflegen. Einige können sich gar eine Wiederöffnung ihrer Botschaft in Kabul vorstellen.

Ein Patentrezept für den Umgang mit den Taliban gibt es nicht. Von alleine lösen wird sich das Problem nicht. Es ist daher richtig, wenn die westlichen Staaten neue Wege gehen und auch eine verstärkte Kooperation mit den Taliban in Bereichen testen, wo dies ihren eigenen Interessen dient und auch im Sinne des afghanischen Volkes ist. Dabei ist es wichtig, dass sie koordiniert vorgehen und sich nicht von den Taliban gegeneinander ausspielen lassen.

Eine Kooperation mit den Taliban auf Arbeitsebene sollte kein Tabu sein. Um aus der Krise zu kommen, braucht Afghanistan mehr als kurzfristige Nothilfe. Eine nachhaltige Umstellung vom Mohnanbau auf Obst oder Trauben ist nur im Rahmen einer langfristigen Entwicklungsstrategie möglich. Wunder sollte man sich nicht erwarten. Die Umstellung der Landwirtschaft ist eine höchst komplexe Aufgabe. Doch nichts tun ist keine Option, wenn man vermeiden will, dass in zwei Jahren in den Ebenen von Helmand wieder weiss der Mohn blüht.

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