Freitag, Oktober 18

Die Mitte-Bundesrätin redet das Milliardenloch in der Armee klein – selbst die Linke wendet sich nun von ihr ab.

«Mit unseren heutigen Mitteln wäre nach ein paar Wochen Schluss», sagte Thomas Süssli im März vor zwei Jahren. Der Schweizer Chef der Armee (CdA) und die Welt schauten gebannt nach Kiew, wo sich die ukrainischen Streitkräfte dem russischen Angriff in den Weg stellten. Seither hat sich an der Verteidigungsfähigkeit der Schweizer Armee nichts geändert.

Gleichwohl droht den helvetischen Truppen plötzlich ihre grösste Krise in der jüngsten Zeit. Der Armeechef Süssli sagt heute Sätze wie: «Ja, wir verlieren vorübergehend das Heer.» Die schonungslose Bestandesaufnahme ist eine – im wörtlichen Sinn – temporäre Bankrotterklärung für die Landesverteidigung.

Unzimperlicher Umgang mit Beamten

Seit Mittwoch und einem Bericht von Radio SRF ist klar: Der Armee fehlen bis 2027 1,4 Milliarden Franken, um Verpflichtungskredite der vergangenen Jahre bezahlen zu können. Noch dramatischer: Die Armee kann bis 2028 nicht mehr investieren. Eine baldige Entspannung scheint nicht in Sicht zu sein, weil Bundesrat und Parlament die Armeeausgaben nun doch erst bis 2035 auf 1 Prozent des BIP erhöhen wollen und nicht schon bis 2030, wie sie dies zuerst unter dem Eindruck des russischen Angriffs beschlossen haben. «Nein», sagte Süssli jüngst in einem Interview in den TX-Zeitungen, «ich kann diese Situation bei unserer Armee nicht verantworten.» Es ist eine weitere, eigentlich unfassbare Aussage des Armeechefs.

Viola Amherd ist derweil in den kühlen Norden geflogen. Der Austausch mit dem norwegischen König Harald V. oder jener mit der estnischen Regierungschefin Kaja Kallas garantieren der Bundespräsidentin schöne Bilder. Doch statt mit Glamour muss Amherd jetzt, ausgerechnet auf dem Höhepunkt ihrer politischen Karriere, mit dem Schlimmsten rechnen, dem Grounding wichtiger Teile der Armee. Am Rande der Reise versuchte sie erstmals, die Wogen zu glätten. «Die Armee bezahlt sämtliche vertraglich vereinbarten Rechnungen dieses und auch die nächsten Jahre, ohne dass es zu einer Überschreitung des Zahlungsrahmens kommt», teilte sie auf Anfrage der Nachrichtenagentur Keystone-SDA mit. Die Armee sei in den letzten drei Jahrzehnten kaputtgespart worden.

Man kann die Zahlen und die Worte hin und her schieben, wie man will. Am Schluss bleibt die knallharte Kostenrealität, der gegenwärtige Umstand, dass man weniger hat, als man ausgeben müsste. Auf die Dauer wegducken wird für Amherd schwierig, die Flucht nach vorn ebenso. Die Mitte-Bundesrätin könnte, wenn sich die Gemüter im Lauf des Jahres wieder beruhigen, ihren frühzeitigen Rücktritt bekanntgeben. Wahrscheinlicher ist, dass sie versuchen wird, den Druck weiterzugeben. Keine guten Nachrichten für den Armeechef Süssli.

Dass Amherd nicht zimperlich ist im Umgang mit ihrem Personal, hat sie schon mehrfach bewiesen. Nach nur zwei Jahren im Amt stellte sie Jean-Philippe Gaudin, den damaligen Chef des Nachrichtendienstes, auf die Strasse. Die beiden hatten sich nie wirklich gefunden. Nach Bekanntwerden der Crypto-Affäre stand zudem der Vorwurf im Raum, Gaudin habe seine Chefin zu spät über die manipulierten Chiffriergeräte der Zuger Firma Crypto AG in Kenntnis gesetzt. Der langjährige Berufsmilitär musste seinen Dienst nach über dreissig Jahren quittieren. In der offiziellen Medienmitteilung hiess es, dass das Arbeitsverhältnis «einvernehmlich» aufgelöst worden sei.

Auch Brigitte Beck ging auf eigenen Wunsch, zumindest wenn man der offiziellen Erklärung von Ruag glauben will. Die Geschäftsleiterin des staatlichen Rüstungskonzerns hatte bei öffentlichen Auftritten das gesagt, was Amherd denkt, nämlich dass die Schweiz sich bei Waffenexporten in Sachen Neutralität nicht päpstlicher verhalten solle als nötig. Die daraus resultierenden Kontroversen in der Öffentlichkeit seien «nur über einen Führungswechsel zu beenden», teilte Ruag im Namen des Verwaltungsratspräsidenten mit. Dieser wiederum ist der Schwager von Brigitte Hauser-Süess, Amherds engster Vertrauter.

Sein Amt erst gar nicht angetreten hat Jean-Daniel Ruch. Der langjährige Botschafter hätte Amherds neuer Staatssekretär für Sicherheitspolitik werden sollen. Doch nach dessen Ernennung stellte sich heraus, dass er aufgrund seines Lebenswandels ein Sicherheitsrisiko hätte sein können – für die Schweiz, aber auch für Amherds Karriere. Zur selben Zeit hat die Mitte-Bundesrätin ihren langjährigen Generalsekretär ausgewechselt. Toni Eder bekam einen goldenen Fallschirm und die Aussicht auf ein Beratermandat für die Räumung des Munitionslagers in Mitholz.

Glättli: Keller-Sutter soll VBS übernehmen

Nicht ganz so hart traf es Pälvi Pulli. Die lange Zeit enge Mitarbeiterin von Amherd wurde etwas zur Seite geschoben. Die Nato-Offenheit der gebürtigen Finnin war ein gefundenes Fressen für die Kritiker bei der SVP. Amherd hat Pulli nun als Stellvertreterin des neuen Staatssekretärs Markus Mäder ernannt. Ihr Nummer-zwei-Dasein wird der selbstbewussten Beamtin mit der Verleihung des Botschaftertitels kompensiert. Amherd hat das Prinzip der Gegenseitigkeit im CVP-geprägten Oberwallis früh gelernt. Aber geben kann man nur, wenn man hat. Umso schwieriger gestaltet sich nun der Umgang mit dem Milliardenloch bei der Armee.

Süssli, den Amherd 2019 kurz nach ihrer Wahl ernannt hat, ist mit den genannten Personalien nicht vergleichbar. Dem einstigen Banker droht nun, zwischen Amherd, seiner Chefin, und den Parlamentariern, seinen Kontrolleuren, aufgerieben zu werden. Der Schwerpunkt der Kritik liegt im Moment auf der Bundesrätin. Sogar die Ratslinken, die Amherds Politik zwar oft, ihre Person aber nie angegriffen haben, zeigen sich unversöhnlich. Balthasar Glättli, Parteipräsident der Grünen, schlug in der Sendung «Sonntalk» vor, das VBS vorübergehend unter die Vormundschaft von Finanzministerin Karin Keller-Sutter zu stellen, bis wieder Ordnung eingekehrt sei. Die FDP-Bundesrätin als Erziehungsberechtigte der Mitte-Magistratin – damit trifft Glättli den wunden Punkt im bürgerlichen Lager.

Die Linke hat es verstanden, die Covid-Pandemie zu nutzen, um den Staat immer weiter auszubauen. Die Bürgerlichen ihrerseits haben es nicht einmal geschafft, mit der Dringlichkeit des Kriegs in der Ukraine die Armeeausgaben so rasch wie möglich auf 1 Prozent des Bruttoinlandprodukts zu fixieren. Und jetzt?

Viola Amherd lächelte in die Kameras und schickte Thomas Süssli allein auf den medialen Spiessrutenlauf. Prompt drohte sich dieser in Widersprüche zu verwickeln. In der Samstag-«Rundschau» von Radio SRF wollte Süssli nicht genau sagen, ob und wie sehr die Armeespitze die VBS-Chefin vor finanziellen Engpässen gewarnt hatte. Er selbst habe im ganzen Prozess lediglich eine Stimme, sagte Süssli. Der Armeechef macht sich medial zum einfachen Soldaten. Und es stellt sich in diesen Tagen für seine Person die gleiche Frage wie für die Schweizer Armee: Wie lange kann sie sich im Ernstfall selbst verteidigen?

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