Dienstag, November 26

Weltweit notieren die Börsen im Minus. Nun geht es darum, ob bloss die bis anhin unter Anlegern vorherrschende KI-Euphorie mehr Realismus Platz macht, oder ob sich übermässiges Schwarzsehen durchsetzt.

Mit den Bewegungen an der Börse verhält es sich oft wie mit dem berühmten Flügelschlag des Schmetterlings, der einen Tornado auslösen können soll: Lange wundert sich der Ökonom, dass nichts passiert – und plötzlich führt eine scheinbar sekundäre Nachricht zu einer starken Korrektur oder gar einem Börsencrash.

Herdentrieb, bis sich die Erklärungen ändern

Das hat mit einem Herdentrieb zu tun: Es lohnt sich in der Regel noch recht lange, darauf zu wetten, dass sich eine starke Entwicklung auch am nächsten Tag fortsetzen wird. Aber es sind eben auch nicht die – wie es viele Ökonomen gerne hätten – aufgrund vollständiger Information und perfekter Voraussicht gebildeten Erwartungen, die das Kursgeschehen bestimmen. Die Börsen werden vielmehr stark durch das generelle Narrativ beeinflusst, das gerade vorherrscht.

Bis Mitte Juli haben zwei solche Erklärungen das Geschehen an den Börsen weltweit geprägt.

Erstens herrschte der Glaube vor, dass das Aufkommen von generativer künstlicher Intelligenz wie Chat-GPT die Welt bald revolutionieren wird. Zumindest sollte es die Ertragsaussichten derjenigen Tech-Konzerne schnell und stark verbessern, die Unsummen darin investieren. So hat sich der Wert des technologielastigen Nasdaq-Aktienindexes zwischen Anfang Jahr und dem 10. Juli um 26 Prozent erhöht. Bis zum 2. August verlor der Nasdaq allerdings bereits wieder um 10 Prozent an Wert.

Zweitens dominiert bis anhin ein optimistisches Inflations- und Wachstumsszenario die Stimmung an den Märkten. Die Inflation bildet sich zwar etwas langsamer zurück als ursprünglich erhofft, weshalb sich auch die Erwartungen an Zinssenkungen der Zentralbanken etwas in die Zukunft verschoben haben. Doch die Teuerung scheint wieder im Griff.

Gleichzeitig hat sich die Weltwirtschaft zwar wie für den Rückgang der Inflation nötig abgekühlt. Doch bereits zeigt sich da und dort eine neue Wachstumsdynamik. So ging man bisher mehrheitlich davon aus, dass es in den meisten Industrieländern, allen voran den USA, zu keiner Rezession kommen werde. Der Internationale Währungsfonds prognostizierte jüngst für 2024 ein globales Wachstum von 3,2 Prozent.

Ob sich an diesen Wachstumsaussichten etwas Substanzielles ändert, wird stark davon abhängen, ob sich die bisherigen Korrekturen zu einem eigentlichen Crash auswachsen, oder ob sich die Ansicht durchsetzt, die Börsenbewertungen widerspiegelten nun wieder die realen Aussichten.

Gründe zur Vorsicht gibt es genug

Für weitere Korrekturen gibt es Gründe. Bis heute ist nicht wirklich ersichtlich, wie sich die Tech-Euphorie schnell in Produktivitäts- und Ertragssprüngen von Firmen niederschlagen soll. Und setzt man ganz generell die gegenwärtigen Bewertungen von Firmen ins Verhältnis zu den durchschnittlich erwirtschafteten Erträgen der vergangenen zehn Jahre, so notiert das sogenannte Shiller-Kurs-Gewinn-Verhältnis mit 34 deutlich über dem langjährigen Durchschnitt von 21. Es signalisiert also die Erwartung, dass Firmen künftig noch substanziell mehr verdienen als in den vergangenen zehn Jahren.

Das muss nicht völlig falsch sein. Aber die gegenwärtige geopolitische Lage mit ihrer Tendenz, die Früchte der Globalisierung über Bord zu werfen, mahnt zumindest zur Vorsicht. Und die Schuldenwirtschaft der USA und vieler Länder ist zwar noch finanzierbar, aber nicht nachhaltig.

Überfällig ist somit eine Kurskorrektur der vor allem im Tech-Bereich überschäumenden Euphorie. Auch scheinen eher verhaltene Wachstumsaussichten realistisch. Das heisst jedoch nicht, dass sich das Geschehen deswegen zwingend zu einem eigentlichen Crash auswachsen muss. Das wird davon abhängen, wie stark das unter den Anlegern dominierende Narrativ nun kippt.

Die vielenorts als Auslöser angeführte Interpretation der letzten US-Arbeitsmarktdaten wirkt übersteigert und begründet fundamental keine schwere Eintrübung der Erwartungen. Doch sollte die Mehrheit der Anleger plötzlich davon ausgehen, dass die USA und mit ihr die Weltwirtschaft in eine Rezession kippen werden, könnte das zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung werden. Denn ein drastischer Einbruch der Börsenwerte würde gerade in den USA, wo viele Aktien halten, breite Vermögensverluste mit sich bringen und zu Zurückhaltung beim Konsum und Zuwarten bei den Investitionen von Firmen führen.

Sollten die Wachstumserwartungen rapide sinken, wäre wiederum mit einem schnelleren Rückgang der Leitzinsen zu rechnen. Steigt die Risikoaversion, würde Geld wieder vermehrt in «sichere Werte» flüchten, weg von den Aktien, hin zu den Anleihen und in Liquidität und weg von Schwellenländerwährungen und ausländischen Anlagen, hin zur Heimwährung oder in vermeintlich «sichere Häfen». Das würde dem Franken Auftrieb geben und damit die Wachstumsaussichten der Schweiz verschlechtern.

Doch wie schon der legendäre Schweizer Chansonnier Mani Matter in seinem Lied vom Zündhölzli sang, das beinahe einen Flächenbrand ausgelöst hätte, aber zum Glück wieder vom Teppich aufgehoben wurde: Es muss nicht so schlimm kommen. Noch sieht die Welt nicht grundlegend anders aus als vor einer Woche.

Exit mobile version