Dienstag, Februar 4

Bisher sank die Zinsbelastung vieler Länder trotz immer höherer Verschuldung. Das könnte sich nun ändern.

Würden Sie Ihr eigenes Geld einer Person leihen, die bereits hoch verschuldet ist? Einer Person, die zwar ein gutes Einkommen hat, aber chronisch mehr ausgibt, als sie verdient? Von der Ihr Banker sagt, niemand rechne damit, dass sie ihre Schulden jemals zurückzahlen wird? Würden Sie dieser Person Jahr für Jahr immer mehr zusätzliches Geld leihen – zu immer geringeren Zinsen und mit immer längeren Rückzahlungsfristen?

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Nun, Sie vielleicht nicht, aber die internationale Anlegergemeinschaft tut das sehr wohl. Und damit sind wir bei der Korrelation des Monats, welche sich mit einem der seltsamsten und eigentümlichsten Phänomene der globalen Finanzmärkte beschäftigt: Dem Faktum, dass Länder mit steigender Verschuldung und mithin fallender Bonität immer weniger Zinsen bezahlen müssen.

Schauen Sie sich die folgenden Charts an:

Verschuldung und Schuldzins der USA sind offensichtlich negativ korreliert, für die gewählte Periode mit -0,83, einem enorm signifikanten Wert angesichts einer Skala von -1 bis +1 (-1 bedeutet eine perfekt gegenläufige Entwicklung, +1 steht für absolute Gleichläufigkeit):

Dasselbe gilt für das viel gescholtene Frankreich mit einem noch tieferen, sagenhaften Korrelationswert von -0,89:

Der interessanteste Fall aber ist Japan, ein Land mit einer Verschuldung jenseits von Gut und Böse. Die Korrelation bewegt sich auf ebenfalls schwindelerregend niedrigen -0,87.

Es ist unübersehbar, dass ein epischer Anstieg der Schulden mit einem säkularen Rückgang des Zinsniveaus einhergegangen ist, selbst in Ländern, wo die Bonitätsratings bereits im Sinken begriffen sind.

Würde man nicht erwarten, dass eine fallende Bonität, mindestens ab einem gewissen Schuldenstand, höhere Schuldzinsen bedingen würde statt tiefere? Oder aber, dass solche Staaten überhaupt kein Geld mehr bekommen, ohne einen glaubhaften Plan zur Bonitätsverbesserung vorzulegen?

Es gibt verschiedene Theorien, die diesen eigentlich intuitiv schwer zu fassenden Tatbestand der negativen Korrelation von Bonität und Schuldzins rationalisieren können, mit jeweils klaren Implikationen:

Theorie 1: Die Zinsen sind das Ei, die Schulden das daraus schlüpfende Küken und die Finanzrepression das Chicken-Nugget: Sie erinnern sich vielleicht an meinen Beitrag vom Dezember 2024, in dem ich dargelegt habe, wie das seit 1987 laufende Experiment der Notenbanken («Great Moderation») laufend die Tail-Risiken aufbläht, bis es jeweils mittels Finanzcrash zur Entladung kommt, dessen Trümmer in der Folge mit viel Geld vom Staat beseitigt werden.

Das kostet, und zwar jedes Mal mehr, die Schulden steigen. Integraler Bestandteil dieses Experiments sind dauernd zu tiefe Zinsen, um zukünftiges Wachstum in die Gegenwart zu holen, und diese tiefen Zinsen werden im Zeitablauf immer wichtiger, damit der Kahn wegen der zu hohen Schulden nicht kentert. Der Pot im globalen Notenbankpoker wird dabei immer grösser, die Entladung im Zuge der LTCM-Krise 1998 war schon ein Schlag ins Kontor der Weltwirtschaft, DotCom liess das Blut in den Adern gefrieren, und 2008 schauten wir alle in einen Abgrund.

Gemäss dieser Theorie sind die Notenbanken auf dem Holzweg, der in einen kompletten Systemabsturz des globalen Wirtschafts- und Finanzgefüges münden könnte. Ist es ein Zufall, dass die Staatsschulden speziell im Gefolge des Finanzcrashs 1987, der DotCom-Krise 2000, der Finanzkrise 2008 und Covid besonders schnell gewachsen sind? Was ist die Antwort der Politiker und Funktionäre? Tiefe Zinsen und Inflationierung («Finanzrepression»), wie mein Beitrag vom Januar 2025 darlegt.

Theorie 2: Ein Wachstumsmanko ist das Ei, Schulden das daraus schlüpfende Hühnchen, die tiefen Zinsen sind das Chicken-Curry: Gemäss dieser Theorie besteht das Grundproblem in einer ungenügenden Nachfrage und entsprechend lustlosem Wirtschaftswachstum, sei es infolge negativer Demografie (Überalterung) oder einem Ungleichgewicht zwischen hohem Angebot und tiefer Nachfrage nach Kapital («Savings Glut»), weswegen es die Aufgabe des Staates und der Notenbank sei, für entsprechendes Wachstum zu sorgen. Die Schulden sind als Kollateralschaden anzusehen, beziehungsweise sie sind kein Problem, denn die Zinsen sind ja tief.

Diese Theorie hat in den letzten Jahren beträchtlich an Einfluss gewonnen, zusammen mit der zunehmenden Staatsgläubigkeit und der Kritik an Marktwirtschaft und Preissignalen. Auch hier ist ein tiefer Zins integraler Teil der Gleichung, um flottant zu bleiben. Allerdings: Es gibt klare Zeichen, dass der Grenznutzen von zusätzlichen Schulden bereits kräftig abnimmt. So bringen Fiskaldefizite in den USA, Japan, China und Europa immer weniger zusätzliches Wachstum, ein klares Indiz, dass diese Logik immer weniger verfängt, denn: Die Behebung des fallenden Potenzialwachstums durch einen Staat auf Steroiden und willfährigen Notenbanken bringt zwar tiefe Zinsen, aber immer schneller wachsende Schulden.

Wie gesagt, das ist für einige Anhänger dieser Denkrichtung kein Problem, quasi ein Feature und nicht ein Bug, denn Schulden sind für sie stets die Lösung von Problemen jeglicher Art. In diesem Umfeld darf man Schulden denn auch als Sondervermögen bezeichnen.

Theorie 3: Schulden sind das Ei, schwaches Wachstum das Küken, tiefe Zinsen der Coq au Vin: Am Anfang der Erklärungskette steht hier meist der ausgabenfreudige Politiker (Pleonasmus?), der für steigende Schulden sorgt, die ab einem bestimmten Verschuldungsgrad irgendwann das Wachstum drücken. Es wird in der Presse oft in diese Richtung argumentiert, ohne aber schlüssige Erklärungen mitzuliefern («Crowding Out»?), wie die Wirkungsweise zwischen Schulden und Wachstum funktioniert, weshalb ein abschliessendes Plazet für diese Theorie schwierig bleibt, auch wenn sie, mindestens für mich, intuitiv nachvollziehbar ist.

Die tiefen Zinsen sind dann Ausdruck reduzierter Wachstumspotenziale («Schulden sind der Wachstumskiller»). Die Implikation ist klar: Fiskaldefizite von heute sind die fehlende Nachfrage von morgen. Es gibt eine wachsende empirische Literatur, die den negativen Zusammenhang von Schulden und Wachstum dokumentiert, genannt sei hier das 2010 erschienene Paper «Growth in a Time of Debt» von Carmen Reinhart und Kenneth Rogoff, das Wachstumsprobleme ab einer Staatsverschuldung von rund 90% des Bruttoinlandprodukts verortet.

Was ist von diesen Theorien zu halten?

Fall USA: Die Evolution der amerikanischen Staatsschulden ist dermassen offensichtlich an das «Grosse Experiment» von Greenspan und Konsorten geknüpft, dass Theorie 1 wohl als der Geburtshelfer der heutigen Problematik gelten dürfte. Die Schuldensprünge nach den Finanzcrashs springen ins Auge. Allerdings: Die seit geraumer Zeit grassierenden Fiskaldefizite in Zeiten robuster Konjunktur sind nicht durch diese Theorie zu erklären, sondern erinnern eher an Theorie 3. Bedenkenswert ist die These, dass die regionalen Unterschiede von Sparen und Konsumieren, zusammen mit dem «exorbitanten Privileg» der USA, die Weltreservewährung zu stellen, zwingend zu steigenden Schulden in den USA führen müssen.

Fall Japan: Ganze Bibliotheken sind über die «Great Japanese Asset Bubble» (バブル景気) geschrieben worden, die wie jede Finanzblase durch dauerhaft zu tiefe Zinsen ermöglicht wurde. Somit steht auch der einzigartige Aufbau der japanischen Staatsschulden mit zu billigem Geld und damit mit Theorie 1 in Verbindung. 1989 platzte die Blase, Japan fiel in eine Bilanzrezession, die zunächst mit Geldpolitik und später zusätzlich mit expansiver Fiskalpolitik angegangen wurde.

Resultat ist ein Schuldenniveau, welches das Finanzgefüge jeder anderen Nation zugrunde gerichtet hätte, die nicht wie Japan erstens sozial ausserordentlich homogen ist, zweitens netto viel mehr im Ausland investiert als Ausländer in Japan, drittens fast die gesamte Staatsschuld (und ein guter Teil der Aktien) verstaatlicht hat und viertens willens ist, seine Währung auf realer Basis über Jahrzehnte abwerten zu lassen und so seine Sparer zu enteignen. Hinzu kommt eine brutale Überalterung, die Wachstum, Teuerung und Zinsen buchstäblich abwürgt und Gesundheitskosten produziert, die jede Sanierungshoffnung der Schulden ausser Frage stellt.

Fall Europa: Europa ist Täter und Opfer insofern, als hier in einzelnen Ländern deutlich mehr produziert als konsumiert wird (Theorie 2), ungehemmt Geld ausgegeben wird (Theorie 3) und schliesslich die Region sich nicht beliebig von den geld- und fiskalpolitischen Kapriolen und Experimenten ihres Leitmarkts USA abkoppeln kann, also nach jeder geplatzten Finanzblase ebenfalls enorme Aufräumarbeiten leisten muss (Theorie 1).

Hohe Schulden und tiefe Zinsen sind kein «Privileg» der entwickelten Länder. Auch China weist eine für seinen Entwicklungsstand präzedenzlos hohe Verschuldung auf, und die Zinsen implodieren geradezu und streben gegen null. Ein Bonmot lautet: Japan ist reich geworden, bevor es alt wurde, China ist alt geworden, bevor es reich wurde. Sollte es sich um eine Bilanzrezession handeln, heisst die Handlungsmaxime Fiskaldefizite und damit noch mehr Schulden.

Was allen drei Fällen eigen ist und hier am Beispiel der USA dokumentiert werden soll, ist die für den internationalen Gläubiger pitoyable Situation, dass die Zinsen strukturell unter die Teuerung und das Nominalwachstum gefallen sind, ein Zustand, der auch als Finanzrepression bekannt ist:

Das galt bis vor kurzem. Jetzt scheint eine Gegenbewegung im Gange zu sein.

The inmates taking over?

Hat die grosse Abrechnung der internationalen Anleger mit den Regierungen und Notenbanken begonnen? Muckt der Prügelknabe, also der Bondmarkt, auf? Fakt ist: Die Verschuldung der Staaten ist aktuell das am meisten diskutierte Thema im Finanzmarkt. Die Zinsen haben angezogen, nicht nur nominal, sondern auch real. Die Zeitprämie, also die Kompensation der Obligationäre für längere Laufzeiten, steigt. Die Investoren wollen Rendite für das Risiko, es heisst nicht mehr: Vogel friss oder stirb. Wo dies nicht geschieht, bleibt die Währung als Druckventil.

P.S. Japan ist in der Überalterung weiter fortgeschritten als die anderen entwickelten Länder. Gilt der Yen als Blaupause für den Westen? Nach Herausrechnung der relativen Inflationsraten hat der reale effektive Wechselkurs Japans gegenüber seinen Handelspartnern seit 1990 die Hälfte seines Werts verloren. Renditelose Risiken zerstören die Währung.

Jürg Lutz

Jürg Lutz ist Anleihenspezialist beim Schweizer Vermögensverwalter PK Assets, der auf die Anlage von Pensionskassengeldern spezialisiert ist. Er bezeichnet sich selbst als alten Hasen im Bondmarkt, was angesichts seiner dreissigjährigen Erfahrung in der Verwaltung von Anleihenportfolios nicht ganz abwegig ist. Vor geraumer Zeit hat er – gemäss eigenen Worten – nach einem dreijährigen Martyrium den CFA-Charterholder erworben. Der Bündner ist verheiratet und Vater von zwei Kindern. Er ist beseelt von der Vorstellung, bis zu seinem Ableben die Via Spluga, die entlang des alten Säumerpfades von Thusis ins italienische Chiavenna führt, mindestens hundert Mal zu wandern. Viel fehlt ihm bis zu diesem Ziel nicht mehr.

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