Dienstag, November 5

Viele Unternehmen optimieren ihre Kapitalstruktur zugunsten des Aktionärs und unterminieren damit die Substanz zulasten des Obligationärs. Ein besonders krasser Fall betrifft einen grossen Flugzeugbauer aus den USA.

Haben Sie in letzter Zeit versucht, eine Obligation aus Emission zu kaufen? Geht es nur mir so, oder fühlen Sie sich auch schlecht behandelt? Etwa so wie am Airport-Security-Check? Wenn Sie beispielsweise eine Firmenanleihe in Franken kaufen wollen («Eidgenossen» zahlen ja Nullkommanichts mehr), dann haben Sie im besten Falle lediglich ein paar Minuten Zeit für den Entscheid.

Für eine Bonitätsanalyse des Emittenten ist das viel zu kurz, und wenn grosse Summen gezeichnet werden, wird das Volumen erhöht – eine Belohnung mittels Kapitalgewinn am Zeichnungstag ist damit aussichtslos; der attraktive «indikative» Zins wird garantiert gekürzt, und wenn alles trotzdem gut läuft, wird Ihre Zeichnung gekürzt. Diese unerfreuliche Übungsanleitung hat sich mit der Bankenkonzentration sicher nicht verbessert.

Streng behandelt von der Wiege bis zur Bahre

Mein Eindruck, dass der Geldgeber – und das sind Sie, wenn Sie eine Obligation kaufen – im Finanzmarkt systematisch schlecht behandelt wird, hat sich in den letzten Jahren verfestigt. Dies beginnt mit dem Kauf, setzt sich aber über die gesamte Laufzeit des Engagements in Firmenanleihen fort.

Betrachten Sie doch einmal meine Korrelation des Monats:

Die Korrelation beschäftigt sich dieses Mal mit einem Unternehmen, das den Gläubiger mit «Financial Engineering» (Erklärung folgt) offensichtlich mies behandelt, weil sein Bonitätsrating laufend nach unten angepasst wird, in diesem Falle von Moody’s, und damit droht, zum grössten «Fallen Angel» der Wirtschaftsgeschichte zu werden.

Mit «Fallen Angel» ist für einmal nicht Luzifer aus dem Buch Hesekiel gemeint, sondern eine Firma, die ihren Investment-Grade-Status verliert und damit von einem Grossteil der Anleger gemäss gängigen Anlagerichtlinien gemieden werden muss. Ich habe gezögert, die Firma «B*****», deren Name ich nicht nennen will, um nicht übler Nachrede angeklagt zu werden, hier als Beispiel heranzuziehen, ist es doch unsportlich, einen Halbtoten weiter zu treten, aber der Fall ist einfach zu aktuell und aufschlussreich. Zu stark korreliert die dysfunktionale Qualitätskontrolle dieses Unternehmens mit ihrer üblen Finanzpolitik.

Nur ein Einzelfall oder eher die Regel?

Was wollen Sie keineswegs, wenn Sie einer Firma Geld geliehen haben? Sie wollen nicht, dass die Firma das Geld verjubelt (Aktien zurückkauft), verschenkt (Dividenden bezahlt, die nicht verdient wurden), damit Schabernack treibt (überbewertete Akquisitionen tätigt und damit wertlosen Akquisitionsgoodwill äufnet) und garantiert nicht, dass sie noch mehr Schulden macht (Gott behüte höherrangige Schulden!) und/oder die Eigenkapitalisierung reduziert.

All dies gefällt aber dem Aktionär. Nennen wir deshalb die Summe dieser Aktivitäten «Financial Engineering» zugunsten des Aktionärs und zuungunsten des Gläubigers. Wenn diese Aktivitäten, verglichen zu den erzielten Gewinnen, überhandnehmen, dann wird der Obligationär schlecht behandelt, übervorteilt.

Wichtig ist dabei: Alle diese Finanzpolitiken (Buybacks, Dividenden, Goodwilläufnung, Finanzleverage) sind aktive Entscheidungen der Geschäftsleitung und weitgehend unabhängig von Konjunktur und Produktion. Mit Financial Engineering entscheidet sich der CFO aktiv, dem Gläubiger zugunsten des Eigners zu schaden.

Wir haben uns je hundert Unternehmen in den USA und Europa mit einem Rating von AAA bis BB-, die regelmässig am Kapitalmarkt auftauchen, angeschaut, und sind zu einem klaren Verdikt gekommen, ob diese Unart der miesen Gläubigerbehandlung bei Firmenbonds weit verbreitet («endemisch») ist oder nicht.

Sie können das Verdikt in dieser Kurzstudie nachlesen. Hier die Zusammenfassung:

Das durchschnittliche Unternehmen in den USA und in Europa führt den überwiegenden Teil seiner Gewinne an den Aktionär ab, unterminiert kräftig die Substanz (mit der Bilanzierung von Akquisitionsgoodwill) und finanziert das Wachstum vorwiegend mit neuen Schulden. Die Bandbreite ist gross, klar ist aber: Der Eigner von Firmenbonds wird systematisch benachteiligt, verschaukelt, der Substanz beraubt, geschwächt und enteignet. Schon klar, nicht alle Firmen handeln so, aber doch so viele, dass das Median-Unternehmen in unserer Betrachtung den Gläubiger eher als Prügelknabe denn als Stakeholder begreift.

Den Gläubiger muss insbesondere beschäftigen, dass fast ein Drittel der Firmen im Sample in den letzten zwanzig Jahren mehr an die Aktionäre abgeführt hat, als Gewinne eingefahren worden sind, wenn wir Buybacks und Dividenden zusammenzählen.

Das kontrastiert enorm mit dem weitverbreiteten Topos in der Finanzpresse, dass die Bonität von Investment-Grade-Unternehmen in den letzten Jahren zugenommen habe. Wir haben in diesem Artikel gezeigt, dass dies wohl eher damit zusammenhängt, dass mit einem falschen Bonitätsmass gearbeitet wird («Net Debt/Ebitda»), mit dem findige CFOs ihre Finanzpolitik optimieren. Wollen Sie wirklich Ihren Schuldner wählen basierend auf einem Mass, das versagt, wenn es zu einer Rezession kommt (der Ebitda bricht weg, die Schulden bleiben)?

Aber warum bestrafen die Firmen ihre eigenen Geldgeber?

Meine These:

  1. Weil sie es können: Die Gläubiger sind wahlweise stumm/nicht interessiert/falsch informiert (Net Debt/Ebitda)/resigniert/sadomasochistisch veranlagt
  2. Weil sie es müssen: Erstes und einziges Ziel des CFO ist: «Don’t leave money on the table». Er muss für den Eigentümer optimieren, der Gläubiger ist Manövriermasse
  3. Weil sie es dürfen: Die Rating-Agenturen interessiert das Thema «Akquisitionsgoodwill» beispielsweise überhaupt nicht. So führt Moody’s in der eigenen Bilanz Goodwill in der Höhe von 150% des ausgewiesenen Eigenkapitals…

Financial Engineering ist nur ein Aspekt der Bonität, aber ein wichtiger

Neben Financial Engineering sollte der Investor auch auf Cashflows, Margen und Anzeichen einer Zombifizierung achten. Das sind samt und sonders Aspekte, die eher von der Strategie, der Konjunktur und dem Markt vorgegeben werden und weniger von der relativen Behandlung und dem gegenseitigen Ausspielen von Aktionär und Obligationär.

Aber in vielen (negativen) Fällen ist das aktive Financial Engineering ein Vorläufer für die Gesamtbonität. Denn wie wir im Falle der Korrelation des Monats sehen, ist irgendwann der Bogen überspannt, und die Rating-Agenturen müssen handeln. Aber der offensichtliche Handlungsspielraum der Unternehmen bleibt für mich doch erstaunlich gross.

Was machen?

Statt Firmenobligationen Staatsanleihen kaufen? Angesichts der explodierenden Staatsverschuldung kommen Sie hier vom Regen in die Traufe. Dann doch eher Firmenbonds, aber Vorsicht:

Die Chance, dass eine Firma, die mit der Finanzpolitik aktiv gegen den Gläubiger arbeitet, auf unserer Empfehlungsliste landet, ist gering. Andererseits ist die Chance hoch, mit dieser Analyse Rating-Gewinner zu identifizieren. Mit anderen Worten: Selektionieren, selektionieren, selektionieren. Meiden Sie Leute und Firmen, die es nicht gut mit Ihnen meinen. Das Leben ist zu kurz.

P.S. Zürich – Reykjavik – Zürich

Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich mich bei einem Flug bei der Crew nach dem Fabrikat des Flugzeugs erkundigt. Ich hatte einen entspannten Hinflug, dafür dann aber einen umso angespannteren Rückflug. Danke B*****, danke für nichts.

Jürg Lutz

Jürg Lutz ist Anleihenspezialist beim Schweizer Vermögensverwalter PK Assets, der auf die Anlage von Pensionskassengeldern spezialisiert ist. Er bezeichnet sich selbst als alten Hasen im Bondmarkt, was angesichts seiner dreissigjährigen Erfahrung in der Verwaltung von Anleihenportfolios nicht ganz abwegig ist. Vor geraumer Zeit hat er – gemäss eigenen Worten – nach einem dreijährigen Martyrium den CFA-Charterholder erworben. Der Bündner ist Vater von zwei Kindern und beseelt von der Vorstellung, bis zu seinem Ableben die Via Spluga, die entlang des alten Säumerpfades von Thusis ins italienische Chiavenna führt, mindestens hundert Mal zu wandern. Viel fehlt ihm bis zu diesem Ziel nicht mehr.

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