Das kürzliche Beben am Markt für US-Treasuries erinnert an den Beinahekollaps des Hedge-Fonds LTCM im Sommer 1998. Grund genug, die Parallelen zu damals in einer zweiteiligen Artikelserie zu beleuchten. Im ersten Teil geht es um den Aufstieg von LTCM und dessen Protagonisten.

In den letzten Wochen wurden massive, stark gehebelte Anleihen-Transaktionen aufgelöst und haben am Markt für US-Treasuries kurzzeitig für Verwerfungen gesorgt. Es ging dabei um zwei sehr beliebte, von Hedge-Fonds getätigte Geschäfte auf den Anleihemärkten mit schwindelerregendem Leverage: Swap-Spreads und Basis-Trade. Die Erschütterungen dieser Margin Calls waren spürbar bis in die letzten Winkel der Zins- und Währungsmärkte und liessen sogleich Ängste aufkommen über die Schieflage eines oder mehrerer dieser Hedge-Fonds. Kurzum: Die Parallelen zum spektakulärsten Fall aller Zeiten, dem Hedge-Fonds Long Term Capital Management im Sommer 1998, sind zu augenfällig, um ignoriert werden zu können.

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Bei LTCM kam es zu einer dramatischen Abfolge von Ereignissen, als sich an den globalen Kreditmärkten in einigen wenigen Monaten 1 Bio. $ in Luft auflösten und die gesamte Finanzarchitektur vor dem Abgrund stand. Schuld war eine Todesspirale, die von einem kleinen Unternehmen mit nicht einmal 100 Kunden und 200 Angestellten ausgelöst wurde.

Der Fall LTCM ist einer der seltenen Fälle, in dem die Korrelation der globalen Kreditmärkte auf 1 steigt, der Markt also nicht mehr nach Risiko unterscheidet, sondern alles, aber auch wirklich alles, was nach Risiko stinkt, in Panik abstösst und sich auf den Vermögenswert mit dem geringsten Risiko stürzt.

LTCM ist zu Unrecht eine Fussnote der Geschichte

Heute ist diese Affäre nur noch eine Fussnote der Geschichte, zu Unrecht, wie ich finde, denn LTCM ist der Blueprint eines Hedge-Fonds, der sich auf die Arbitrage von Risiko-Spreads spezialisierte, in vielerlei Hinsicht bis heute aber einzigartig geblieben ist. Dennoch ist der Fall enorm lehrreich. Und es ist fast genau ein Vierteljahrhundert her, dass die Aufarbeitung dieses Finanzkrimis in Form eines spannenden, enorm flüssig geschriebenen Buchs erschienen ist, das ich jedem Leser nur empfehlen kann: «When Genius Failed: The Rise and Fall of Long-Term Capital Management» von Roger Lowenstein. Die im Text eingestreuten Zitate entstammen dem Buch.

LTCM wurde von einer Gruppe hochintelligenter Finanzgenies gegründet, darunter zwei Nobelpreisträger, nutzte riskante, hochgradig gehebelte Strategien, um von kleinsten Marktineffizienzen zu profitieren. Der Fonds erlebte einen kometenhaften Aufstieg, doch als 1998 der russische Finanzcrash und die Asienkrise die Märkte erschütterten, führten unerwartete Marktbewegungen zu massiven Verlusten.

Trotz seines wissenschaftlich fundierten Ansatzes und der scheinbar unfehlbaren Berechnungen scheiterte LTCM aufgrund von Überschuldung und der Unterschätzung von Risiken. Sein Zusammenbruch drohte die gesamte Finanzwelt zu destabilisieren, weshalb die US-Notenbank ein Rettungspaket arrangierte.

Es ist auch die Geschichte des Aufeinandertreffens der grössten Egos der Finanzwelt der letzten fünfzig Jahre, von skrupellosen, arroganten, fehlgeleiteten, aber auch von intelligenten, smarten und charismatischen Charakterköpfen.

Die Protagonisten

Erwähnt seien die folgenden sieben Stars im Cast dieser Geschichte:

John Meriwether: «JM», Jahrgang 1947, wurde im Buch «Liars Poker» von Michael Lewis in einer legendären Szene unsterblich gemacht. Er durchlief eine Tellerwäscherkarriere am Trading Desk von Salomon Brothers, wurde ein charismatischer, von seinen Untergebenen verehrter «Big Swinging Dick» im Epizentrum der Finanzarbitrage und war die treibende Kraft des neu gegründeten Hedge-Fonds LTCM. Dessen Zusammenbruch ist deshalb seine spezifische Tragödie, wie alle grossen Tragödien von epischer Dimension einer einzelnen Person zugeordnet werden können. Kann der Fall «Drexel Burnham Lambert» mit dem Protagonisten Michael Milken verknüpft werden, ist LTCM mit Abstrichen der Fall von John Meriwether.

Robert C. Merton und Myron S. Scholes waren das akademische Feigenblatt von LTCM, aber nicht nur. Für immer unsterblich sind die Mitschöpfer der Black&Scholes-Formel für das Pricing von Optionskontrakten, beide dazumal die absolute Avantgarde und «Crop of the Cream» der US-Finanzlehre, von unschätzbarem Wert für Marketing, Geldbeschaffung und Aussenwirkung von LTCM und dessen modellbasiertem Business Case. Mit ihnen verfügte LTCM über die intellektuellen «Michael Jordans und Muhammad Alis» der Wirtschaftswissenschaften. Damit hatte LTCM nicht einen, sondern gleich zwei potenzielle Anwärter auf den Nobelpreis in seinem Board.

Lawrence Hilibrand und Victor Haghani: «H&H» setzten als Händler das um, was sie und ihre Research-Abteilung mit ihren Modellen als Dislokationen in den «Spreads» von Finanzkontrakten identifizierten. Mit ihrer enormen Disziplin, Hartnäckigkeit, Sturheit, maximaler Introspektion und ungemeiner Härte den Handelspartnern gegenüber waren sie die Verkörperung des unaufhaltsam wachsenden, schlechten Karmas und der absolut miserablen Governance des Hedge-Fonds.

Unermüdlich auf der Jagd nach noch mehr Leverage, noch mehr Finanzierung, noch grösseren Positionen und noch exotischeren Märkten waren sie schlussendlich der Grund für das Scheitern von LTCM und um ein Haar verantwortlich für eine Finanzkatastrophe in den Ausmassen des Schwarzen Freitags 1929.

Mit anderem Worten: Sie sind die Bösewichte im Plot. Trotzdem wird ihre Rolle bei Nachbehandlungen in der Regel übergangen, komplett zu Unrecht, wie ich meine.

«If the firm could have been distilled into a single person, it would have been Hilibrand.»

Alan Greenspan

Keine Finanzkrise ohne Notenbanken: Alan Greenspan ist für den Fall LTCM mitverantwortlich. Denn er steht für das Laisser-faire der US-Notenbank im Bereich Derivative. Diese wurden von Hedge-Fonds eingesetzt, um Regulierungen zu umgehen, die mit dem Handel von Aktien und Obligationen einhergehen.

Und, zentral für diesen Fall, Derivative sind ungemein gut geeignet, um kostengünstig Leverage aufzubauen. Das Fed wurde bereits als Hauptschuldige für die Katastrophe von 1929 ausgemacht, weil es der Spekulation auf Marge nicht Einhalt geboten hatte. Während seiner Regentschaft wurde Greenspan als der GOAT («Greatest of All Time») der Fed-Chefs betrachtet, heute ist sein Ruf beschädigt bis ruiniert, hat er doch die Zeit der «Great Moderation» eingeläutet, in der die Wirtschaft mit permanent zu tiefen Zinsen und regelmässigen Liquiditätsspritzen aufgedopt wurde.

Nur führte dieses permanente Doping mit steigender Kadenz zu Risiko-Eruptionen und zerrte die Weltwirtschaft während des Crashs der DotCom-Blase zur Jahrtausendwende und des US-Immobilienmarkts 2008 an den Rand des Abgrunds. Dieses fatale Experiment geht nunmehr ins 38. Jahr.

Das Phänomen LTCM ist nur unter dem Aspekt der zu tiefen Zinsen erklär- und fassbar. Wir werden dies im zweiten Teil der Artikelserie genauer betrachten. Greenspan war ein Gambler, kein Watchdog, ein Taschenspieler, kein Magier, ein One-Trick-Pony, kein «Maestro», unbeirrbar, bis es fast zu spät war.

«Incredibly, rather than trying to extend some form of margin rule to the derivative world, Greenspan proposed to eliminate the margin rules entirely.»

Warren Buffett

Wie immer war er der Erwachsene am Pokertisch. Von ihm wird im zweiten Teil die Rede sein. Nur so viel: LTCM war eine seiner grössten Sternstunden.

Der Aufstieg von LTCM

Der Prototyp des Trades, den LTCM unter dem Einsatz von massiven Derivativpositionen in jeglicher Spielart immer und immer wieder einging, war die Wette auf die Einebnung von Spreads, also der Risikoprämie beispielsweise einer GM-Anleihe gegenüber den Papieren eines anderen Schuldners, oft von US-Treasuries. Dazu kauften die Trader von LTCM die GM-Anleihe und verkauften den Treasury leer, um die reine Marktschwankung, in diesem Falle eine Veränderung des Zinsniveaus an den Anleihenmärkten, aus der Gleichung zu nehmen. Maximal gehebelt versprach der Rückgang dieses Spreads auf normale Niveaus («Return to the mean») hohe Gewinne.

Und LTCM war von Beginn an spektakulär erfolgreich, scheinbar ohne Risiko.

«For four years, LTCM had been the envy of Wall Street. The fund had racked up returns of more than 40 percent a year, with no losing stretches, no volatility, seemingly no risk at all.»

Und LTCM wurde zu einem «Whale».

«This one obscure arbitrage fund had amassed an amazing $ 100 billion in assets, virtually all of it borrowed (..) had entered into thousands of derivative contracts, (..) covered an astronomical sum – more than $ 1 trillion worth of exposure.»

Nicht weniger als fünfzig Banken finanzierten den Fonds. Alle, wissend oder nicht, waren durch die eingegangenen Derivatkontrakte miteinander verknüpft, ohne Übersicht über den aufgestauten Leverage, blind für die systemische Gefahr, indem bis dato voneinander unabhängige Risikomärkte durch die Derivate miteinander verknüpft wurden. Dazu kamen immer grössere Positionen, «Truckloads» von Leverage, minimale oder gar keine Haircuts bei den Finanzierungen und schliesslich Gigawetten in Märkten, für die LTCM kein «cachet», keinen intellektuellen Vorteil besass. Dies gepaart mit der Hybris der grössten Egos im Markt.

Der Fonds war im April 1998, vier Jahre nach der Lancierung im Mai 1994, auf seinem Zenit angelangt. In lediglich vier Jahren hatte sich 1 eingesetzter Dollar auf 4 Dollar erhöht. Alles mit Rang und Namen war im Fonds investiert.

Besonders pikant: die Rolle der UBS

Die UBS ist Gegenstand der zweiten grossen Tragödie in dieser Affäre: Hatten sowohl der Bankverein (SBV/SBC) wie die Bankgesellen (SBG/UBS) bei der Lancierung dem Fonds die kalte Schulter gezeigt, wurde die UBS im Gefolge des Erfolgs des Fonds schwach und sicherte sich ein umfangreiches Beteiligungspaket durch das Schreiben eines fatalen Warrants an die LTCM-Partner. Diese waren seit geraumer Zeit auf der Suche nach einem Dummen, der diesen angesichts der Illiquidität des Underlyings nicht absicherbaren Warrant eingehen würde, und fanden ihn in Mathis Cabiallavetta.

Die ultimative Ironie: Weil die UBS faktisch vom Verein geschluckt wurde, kam die zu UBS umfirmierte Fusionsgewinnerin SBC doch noch zu einem – beinahe tödlichen – Anteil an LTCM.

Und damit nicht genug: Auf dem Höhepunkt der Hybris zahlte LTCM einen Grossteil seiner Kunden gegen deren Willen und unter deren lautem Protest aus. Im Fonds verblieb als einzige Bank die UBS, und das zum Höchstpreis, während alle anderen Klienten auf eben demselben Höchstpreis aussteigen konnten/mussten. UBS war jetzt der grösste Kunde von LTCM.

Just in diesem Moment wurde bekannt, dass Robert Merton und Myron Scholes den Nobelpreis gewonnen haben.

Ein erstes leises Donnergrollen: Von der breiten Finanzwelt weitgehend unbeachtet stufte S&P die Bonität von Russland herab.

In der kurzen Zeit zwischen Bekanntgabe des Nobelpreises für Merton und Scholes und der Feier in Stockholm kollabierte LTCM; der Nettoinventarwert fiel von über 4 $ auf 30 Cents. Das ist Thema des zweiten Teils Anfang Juni.

Jürg Lutz

Jürg Lutz ist Anleihenspezialist beim Schweizer Vermögensverwalter PK Assets, der auf die Anlage von Pensionskassengeldern spezialisiert ist. Er bezeichnet sich selbst als alten Hasen im Bondmarkt, was angesichts seiner dreissigjährigen Erfahrung in der Verwaltung von Anleihenportfolios nicht ganz abwegig ist. Vor geraumer Zeit hat er – gemäss eigenen Worten – nach einem dreijährigen Martyrium den CFA-Charterholder erworben. Der Bündner ist verheiratet und Vater von zwei Kindern. Er ist beseelt von der Vorstellung, bis zu seinem Ableben die Via Spluga, die entlang des alten Säumerpfades von Thusis ins italienische Chiavenna führt, mindestens hundert Mal zu wandern. Viel fehlt ihm bis zu diesem Ziel nicht mehr.

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