Mittwoch, Oktober 2

Am Dienstag treffen sich der kosovarische Ministerpräsident Kurti und der serbische Präsident Vucic voraussichtlich in Brüssel. Schweizer Armeeangehörige der Swisscoy helfen derweil, die Lage in Kosovo zu stabilisieren.

Donnerstag, 12. September. Eine Gruppe von Schweizer Soldaten ist unterwegs durch die Strassen Mitrovicas. Der weisse Kastenwagen mit aufgemalter Schweizer Fahne ist von weitem als Fahrzeug der Nato-Friedensmission erkennbar. Am Strassenrand stehen zwei kleine Knaben. Als sie das Militärfahrzeug entdecken, machen sie zum Gruss den Doppeladler – als Symbol für das Albanertum in Kosovo.

«Doppeladler sieht man im Norden der Stadt in letzter Zeit wieder häufiger», sagt Ana Marija Ivcovic. Die Geste sei unnötig, findet sie. «Es macht den Anschein einer Eroberung.» Ivcovic gehört zur serbisch-kosovarischen Minderheit und spricht hier als Privatperson. Beruflich schreibt sie für das Portal «Alternativna» und engagiert sich gegen Desinformation. Gerade kommt sie vom Platz der Brüder Milic.

Dort hat sie eine Demonstration verfolgt. Bereits in den vergangenen Tagen haben Angehörige der serbischen Minderheit gegen die kosovarische Regierung demonstriert. Albin Kurti hat die Stimmung zusätzlich aufgeheizt. Am Montag ist der kosovarische Ministerpräsident im Norden Mitrovicas aufgetaucht. Er kehrte in ein Restaurant ein, das kurz zuvor noch von Serben geführt wurde, jetzt ist es in der Hand von Albanern. Kurti hat das Recht dazu, er ist Ministerpräsident des ganzen Landes. Doch die Aktion ist klar eine Machtdemonstration.

Noch vor einem Jahr wäre das undenkbar gewesen. Serbische Milizen hätten mit Gewalt und Strassensperren reagiert. Nun sorgen die kosovarischen Sicherheitskräfte für Ruhe. Gleichzeitig sind auf der «Neuen Brücke» über den Ibar-Fluss, der den mehrheitlich serbisch bevölkerten Norden vom albanisch dominierten Süden trennt, rund um die Uhr italienische Carabinieri der Internationalen Kosovo-Schutztruppe (Kosovo Stabilization Force, Kfor) postiert. Sie verhindern bis jetzt, dass Kurti die Brücke für den Autoverkehr öffnet. Sie verbindet den Norden mit dem Süden und ist symbolisch aufgeladen. Die Anspannung ist hoch.

Erhöhte Bereitschaft

Das merken auch die Schweizer Soldaten. Im Camp Novo Selo südlich von Mitrovica steht Hauptmann Andrin Kälin vor einem weissen Lastwagen der Swisscoy. Er hat einen militärgrünen finnischen Radlader geladen. Kälin und sein Team haben ihn an diesem Morgen auf der Ladefläche festgemacht.

Der Grund: Die finnischen Truppen haben ihre Bereitschaft aufgrund der Spannungen erhöht. Innerhalb von zwei Stunden müssen sie einsatzbereit sein. Doch das ist schwierig, am Eingang des Camps ist eine Baustelle. Mit ihrem eigenen Lastwagen kommen die Finnen nicht durch. Also haben sie die Schweizer um Hilfe gebeten. «Unser Fahrzeug ist agiler», erklärt Kälin.

Die Schweizer Transportkompanie transportiert Militärangehörige und Material anderer Nationen. Ausserdem räumt sie zusammen mit den Pionieren (Hoch- und Tiefbauspezialisten) Strassensperren von Unruhestiftern weg. Wenn es hart auf hart kommt, sind die Schweizer Pioniere ganz vorne dabei. Im Frühling hat die Schweiz das Kommando der Transportkompanie übernommen.

Die Swisscoy

afo. Die Friedensmission steht unter der Leitung der Nato. Im Jahr 1999 hat das nordatlantische Militärbündnis Serbien ohne Uno-Mandat bombardiert und den Krieg und das brutale Vorgehen der serbischen Sicherheitskräfte gewaltsam beendet. Danach gab der Uno-Sicherheitsrat grünes Licht für den Aufbau der Kfor. Diese hat den Auftrag, für Sicherheit und Stabilität in der volatilen Region zu sorgen.

Die Schweiz war von Anfang an dabei. Sie stützt sich dabei auf die Uno-Resolution 1244. Die gegenwärtig 202 entsandten Schweizer Soldatinnen und Soldaten tragen meistens nur eine Pistole zum Selbstschutz. Die Durchsetzung der Sicherheit bei gewalttätigen Auseinandersetzungen gehört aufgrund der Neutralität nicht zu ihrem Aufgabenbereich. Das Swisscoy-Budget 2024 beträgt rund 45 Millionen Franken.

Die Schweizer Angehörigen der Liaison and Monitoring Teams sind dagegen mitten in den Gemeinden stationiert. Sie führen Gespräche mit einheimischen Organisationen. Dabei fühlen sie der Bevölkerung den Puls und leiten sicherheitsrelevante Informationen an die Kfor weiter. Diese kann sich so ein umfassendes Bild der Lage machen und negative Entwicklungen antizipieren.

Die Mitglieder der Liaison and Monitoring Teams würden von der Armee sorgfältig ausgewählt, erklärt Hauptmann Dominik*, Kommandant des Beobachterteams in Mitrovica. Wichtig sei ein Bewusstsein für kulturelle Feinheiten, «damit man in der aufgeladenen Stimmung niemandem auf die Füsse tritt». Dabei hülfen auch die Neutralität und die fehlende koloniale Vergangenheit der Schweiz: «Wir werden fast immer freundlich begrüsst.»

Eigentlich wollte die NZZ ihre Arbeit in Mitrovica miterleben. Doch Hauptmann Dominik sagte letzte Woche aufgrund der Demonstrationen eine geplante Fusspatrouille in Begleitung von Journalistinnen in letzter Minute ab: «Die Sicherheitslage lässt es nicht zu.»

Europäische Integration gefährdet

Mitrovica wird häufig «geteilte Stadt» genannt. Der Fluss Ibar bildet die Grenze zwischen dem albanischen Süden und dem serbischen Norden. Zwar leben im Quartier «Little Bosnia», wie die Friedenstruppen die bosnische Mahala nennen, mittlerweile auch Albaner. Ihre Fahnen hängen neben serbischen Flaggen und zeigen an, welches Geschäft von welcher Ethnie geführt wird.

Doch ein grosser Teil der Serben im Norden anerkennen die Unabhängigkeit Kosovos bis heute nicht. Sie arbeiten in von Belgrad aus gesteuerten Institutionen und erhalten Löhne und Renten in der serbischen Währung Dinar. Ausserdem boykottieren die Kosovo-Serben auf Druck Belgrads die Wahlen in die kommunalen Regierungen.

Dieses Machtvakuum nutzt der kosovarische Ministerpräsident Kurti aus. Er hat den Euro durchgesetzt und serbische Verwaltungsstellen aufgehoben. Ausserdem hat er neue Checkpoints der kosovarischen Sicherheitskräfte eingerichtet und die Einfuhr serbischer Güter verboten, was gegen das Mitteleuropäische Freihandelsabkommen verstösst.

Damit riskiert Kurti die Integration Kosovos in Europa, auf die der wirtschaftlich am Boden liegende Staat so dringend angewiesen wäre. Er ist verpflichtet, die Minderheiten zu schützen und ihnen Teilautonomie zu gewähren. Die USA und die EU haben daher bereits letztes Jahr Sanktionen verhängt. Am Dienstag treffen sich Kurti und der serbische Präsident Aleksandar Vucic voraussichtlich in Brüssel zu einer Aussprache.

Auch Vucic will in die EU, hält sich aber nicht an die Abmachung – der Präsident bekämpft die internationale Anerkennung des Staates Kosovo. Damit lenkt der Präsident unter anderem wohl von innerserbischen Problemen ab. Kurti seinerseits hat wahrscheinlich vor allem die Wahlen im Februar im Blick.

Angst vor «schleichender Albanisierung»

Bei vielen Vertretern der albanischen Mehrheit kommt seine harte Hand gut an. Beispielsweise bei Idaije Ukiqi. Die 63-Jährige sitzt mit Freundinnen in einem Café im Süden Mitrovicas. Sie ist hier aufgewachsen. Vor dem Krieg wanderte sie mit ihrem Mann nach Australien aus. Sie wohnt immer noch dort, doch «mein Leben ist hier». Kurtis Politik begrüsst Ukiqi: «Natürlich ist das gut. Die serbischen Parallelstrukturen waren illegal.» Sie versteht nicht, warum die Serben sich nicht einfach in Kosovo integrieren.

Im Norden fürchtet man sich dagegen vor einer «schleichenden Albanisierung». «Wo sollen wir jetzt unsere serbischen Identitätskarten machen lassen?», fragt Ana Marija Ivcovic. Ohne Ausweis kann man sich nicht in den serbischen Spitälern in Kosovo behandeln lassen, diese sind besser als die kosovarischen und für Serben gratis. Pensionierte müssen nun nach Serbien reisen, um ihre Renten abzuholen, und Angestellte der serbischen Parallelstrukturen sind arbeitslos.

Theoretisch könnten sie auch in den kosovarischen Institutionen arbeiten. Doch sie stehen unter Druck. Integrieren sie sich in Kosovo, gelten sie in Belgrad als Verräter und drohen den Zugang zum Gesundheits- und Rentensystem oder zu den Schulen zu verlieren.

Die Kosovo-Serbin Ivcovic fühlt sich «im Limbo»: «Ich kann weder Kosovo noch Serbien als mein Land bezeichnen. Beide Regierungen haben uns im Stich gelassen.» Viele Angehörige der serbischen Minderheit sind daher froh über die Präsenz der Kfor. Nach dem Krieg seien die Truppen nicht gerne gesehen worden, sagt Ivcovic: «Doch mittlerweile haben wir mehr Vertrauen in die Kfor als in die kosovarische Polizei.»

Eigentlich wäre das Ziel, dass Kosovo irgendwann ohne fremde Truppen friedlich bleibt. Tatsächlich hat sich die Sicherheitslage seit dem Krieg 1999 merklich verbessert. Letztes Jahr aber gab es diverse Rückschläge. Im Mai 2023 kamen Kfor-Truppen im nördlichen Dorf Zvecan zwischen die Fronten von serbischen Demonstranten und der kosovarischen Polizei. Italienische und ungarische Soldaten wurden verletzt. Im September 2023 griffen serbische Milizen kosovarische Polizisten an und flohen daraufhin nach Serbien. Als Folge erhöhte die Kfor ihre Truppen auf rund 4500 Soldaten.

Das Schweizer Mandat läuft Ende 2026 ab. Das Parlament entscheidet, ob es verlängert wird. Der Widerstand ist vorprogrammiert: Es gibt politische Parteien, die jegliche Zusammenarbeit mit der Nato bekämpfen. Die SVP argumentiert dabei mit der Neutralität, Teile der Linken würden lieber mehr Ressourcen in die unbewaffnete Friedensförderung stecken.

Hauptmann Dominik hat Frau und Kinder in der Schweiz. Er vermisst sie, doch bereut er seinen Einsatz in Kosovo nicht. «Die Führung im internationalen Rahmen ist eine wertvolle Erfahrung», sagt er. In der Schweiz wird der Konflikt geübt, hier wird er erlebt. Ausserdem ist die Swisscoy die einzige harte Währung, welche das Land in die Nato einzahlt. Die neutrale Schweiz beteiligt sich weder finanziell noch mit Material und Truppen am transatlantischen Bündnis. Trotzdem profitiert sie vom Schutzschirm der sie umgebenden Nato-Staaten.

Im Falle eines bewaffneten Konflikts auf Schweizer Boden wäre das Land für seine Verteidigung auf Hilfe der Nato angewiesen. Eine Situation, welche sich viele Schweizer kaum mehr vorstellen können. In Kosovo dagegen ist die Angst davor bis heute spürbar. Die Schweizer Soldaten leisten Dienst, damit die Bevölkerung in Frieden leben kann – im Norden wie im Süden.

* Um ihre Sicherheit zu gewährleisten, nennt die NZZ nur die Vornamen von Mitgliedern der Liaison and Monitoring Teams.

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