Die Mitte-Initiative zur Kostenbremse in der obligatorischen Krankenversicherung ist problematisch. Doch die Versicherten müssen keine Angst haben, dass sie künftig jedes Jahr ab Oktober oder November nicht mehr bedient werden.

Was in der Europapolitik «fremde Richter» sind, sind im Gesundheitswesen «Rationierung» und «Zweiklassenmedizin»: bewährte Schlagworte im Kampf gegen Neuerungen. Solche Schlagworte wird man in den nächsten Wochen wieder oft hören. Der Auslöser ist die Kostenbremse-Initiative der Mitte-Partei, die am 9. Juni an die Urne kommt. Die Ansage des Ärzteverbands FMH ist deutlich: «Wäre die Kostenbremse-Initiative im Jahr 2000 eingeführt worden, würde heute über ein Drittel der Leistungen der Grundversicherung nicht mehr vergütet.» Die bekannten Schlagworte folgen sogleich: «Rationierung», «Zweiklassenmedizin», «lange Wartezeiten in der Grundversicherung».

Dass Ärzte, Spitäler und andere Leistungserbringer im Gesundheitswesen keine Freude an einer Kostenbremse haben, liegt auf der Hand: Was für die Prämienzahler Kosten sind, sind für die Leistungserbringer Umsätze. Die Urheber der Volksinitiative verkaufen allerdings die Katze im Sack: Sie verlangen zwar eine Eindämmung der Kosten, doch sie sagen nicht, wo die Kostengrenze liegen und was beim Überschreiten der Grenze passieren soll.

Spielraum für die Umsetzung

Die Hauptbestimmung des Initiativtexts verlangt für die obligatorische Krankenversicherung die Einführung einer Kostenbremse «mit wirksamen Anreizen», so dass sich die Kosten «entsprechend der schweizerischen Gesamtwirtschaft und den durchschnittlichen Löhnen entwickeln». Das Wort «entsprechend» ist laut den Erklärungen der Urheber bei der Lancierung der Initiative wie folgt zu interpretieren: Die Kosten dürfen prozentual stärker wachsen als die Löhne und die Gesamtwirtschaft, «aber nicht massiv stärker».

Das lässt vieles offen. Bis zu einem gewissen Grad steigen die Gesundheitskosten «natürlicherweise» prozentual schneller als die Gesamtwirtschaft und die Löhne. Die Hauptursachen sind die Zunahme des Wohlstands (mit steigendem Wohlstand steigt die Nachfrage nach Gesundheitsleistungen oft überproportional), die Alterung der Bevölkerung und der technische Fortschritt (welcher oft zu teureren Behandlungsmethoden führt).

Seit 1996, dem Startjahr des Krankenversicherungsgesetzes, sind die Kosten und Prämien in der obligatorischen Krankenversicherung (OKP) total um rund 150 Prozent gestiegen – während die Durchschnittslöhne nominal knapp 50 Prozent zulegten und der Lohnindex der Bundesstatistiker (welcher die effektive Lohnentwicklung unterschätzt) um knapp 30 Prozent. Im Durchschnitt pro Jahr stiegen die OKP-Kosten um etwa 3,5 Prozent pro Jahr – und damit prozentual etwa zwei- bis dreimal so stark wie die Löhne.

Aus diesen Prozentzahlen allein lässt sich aber noch kein Budgetdruck der Haushalte ableiten. Denn in absoluten Zahlen sind die Durchschnittslöhne pro Vollzeitstelle seit 1996 weit stärker gewachsen (etwa um 35 000 Franken) als die Krankenkassenprämien (um rund 2200 Franken). Die Kostenbremse-Initiative scheint aber eine prozentuale Betrachtung zu verlangen.

Gesundheitskosten steigen prozentual schneller als Löhne

Entwickung der Kosten in der obligatorischen Krankenversicherung im Vergleich zur Lohnentwicklung (Index; 1996 = 100)

Bruttoleistung pro Versicherten

Mittlere Prämie pro Versicherten

Durchschnittslohn pro Vollzeitstelle

Gemessen an der Hauptbestimmung der Volksinitiative wäre zum Beispiel folgende Kostenschwelle wohl zulässig: Wachsen die OKP-Kosten pro Versicherten um mehr als 1,5 Prozentpunkte pro Jahr stärker als die Durchschnittslöhne (oder als die Wirtschaftsleistung pro Einwohner), muss der Bund Gegenmassnahmen ergreifen. Die Anbindung des Initiativtexts nur an Löhne oder Gesamtwirtschaft ist unglücklich, weil auch andere Faktoren wie die Demografie und die technische Entwicklung zum Kostenanstieg beitragen. Doch die Festlegung eines noch einigermassen realistischen Kostendachs erschiene aufgrund der Hauptbestimmung der Volksinitiative juristisch zulässig.

Heikle Übergangsbestimmung

Aber dummerweise enthält der Initiativtext noch eine Übergangsbestimmung. Wenn zwei Jahre nach Annahme der Initiative das Wachstum der OKP-Kosten mehr als ein Fünftel über der Entwicklung der Nominallöhne liegt, muss der Bund laut der Übergangsbestimmung in Zusammenarbeit mit den Kantonen Massnahmen ergreifen, die ab dem Folgejahr wirksam sind.

Das hiesse: Wenn die Nominallöhne zum Beispiel um 1 Prozent steigen, wären bei einem Anstieg der OKP-Kosten von über 1,2 Prozent bereits Massnahmen gefordert. Aus mittelfristiger Optik erscheint dies wie ein unrealistisch tiefes Kostendach. Die Initianten begründen die Bestimmung damit, dass es zurzeit viel Verschwendung gebe und deshalb vorübergehend auch ein relativ tiefes Kostenwachstum möglich sei. In der Tat orten manche Experten im Gesundheitswesen eine Verschwendung von etwa 10 bis 20 Prozent.

Wegen der besagten Übergangsbestimmung hat sogar der Bundesrat in seiner Botschaft zur Volksinitiative ans Parlament die eingangs erwähnten Reizwörter benutzt. Er schrieb zwar, dass die geforderte Ausgabenbremse zu Beginn angesichts des vorhandenen Effizienzpotenzials «möglicherweise noch weitgehend ohne ernsthafte Folgen» bleiben würde. Aber dann verweist der Bundesrat auf die Zeit nach der Ausschöpfung des Sparpotenzials und schlägt den Steilpass für die Gegner der Initiative: «Es besteht somit die Gefahr, dass die starre Ausgabenregel je nach Umsetzung eine Rationierung der Leistungen zur Folge hat und in eine Zweiklassenmedizin führt.»

Man beachte allerdings die drei Wörter «je nach Umsetzung». Bundesjuristen räumen auf Rückfragen ein, dass das Parlament die besagte Übergangsbestimmung aushebeln könnte – indem es eine Kostenbremse gemäss der Hauptbestimmung der Initiative umsetzt. Kommt ein Parlamentsbeschluss innerhalb der gesetzten Zweijahresfrist, tritt die Übergangsbestimmung gar nie in Kraft. Bei einem Parlamentsbeschluss zum Beispiel nach drei Jahren wäre die Übergangsbestimmung nur ein Jahr lang gültig.

Was wäre, wenn . . .?

Doch die Volksinitiative hat noch einen zweiten grossen Knackpunkt: Was genau soll nach dem Überschreiten der Kostenschwelle passieren? Der Initiativtext schweigt sich darüber aus. Die Initianten wollen laut eigenen Angaben vor allem die verbreiteten Fehlanreize im Gesundheitswesen ausmerzen. Weder Ärzte noch Spitäler noch Patienten haben in der Regel grosse Sparanreize.

In gewissem Sinn rannte die Volksinitiative beim Bundesrat offene Türen ein. Die Regierung will auch eine Kostenbremse. Und das Parlament hat 2023 als Gegenvorschlag zur Volksinitiative eine Gesetzesänderung verabschiedet, die Kosten- und Qualitätsziele in der OKP verlangt. Allerdings sind im Beschluss des Parlaments keine Zahlen genannt. Und das Parlament kippte zudem die vom Bundesrat vorgeschlagene Verpflichtung, bei Überschreitung der Kostenziele Massnahmen zu prüfen.

Bei einem Erfolg der Volksinitiative wären wirksame Massnahmen nach Überschreiten des Kostendachs verlangt. Die Tarife, welche die Ärzte und Spitäler mit den Krankenkassen aushandeln, würden wohl bei einem Erfolg der Volksinitiative noch stärker in den Fokus kommen. Aus Sicht der Initianten wären Tarifverträge mit Kostensteuerung etwa nach dem Grundsatz «wenn die Kostensteigerung über dem Richtwert liegt, sinken in den Folgejahren die Tarife» eine der naheliegenden Massnahmen zur Umsetzung der Kostenbremse.

Die Wirksamkeit solcher und anderer Massnahmen lässt sich allerdings meist erst im Nachhinein abschätzen. Und ob es ein Massnahmenbündel gäbe, das den Kostenpfad zurück in den grünen Bereich bringt, die Fehlanreize bei Leistungserbringern und Kunden eindämmt und gleichzeitig keine sinnvollen medizinischen Leistungen beschneidet, ist zweifelhaft. In diesem Sinn ist unklar, ob die Volksinitiative überhaupt umsetzbar wäre. Falls sich die Kostenziele als zu ambitiös erweisen, würde das Parlament allerdings kaum die Rationierung ausrufen, sondern die Kostenziele anpassen. Ganz nach dem Motto «Versuch und Irrtum».

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