Montag, Februar 24

Long Covid ist nicht nur ein gesundheitliches Problem, sondern auch ein finanzielles. Das zeigt die Geschichte einer Buchhalterin.

Es gab eine Zeit, da lief es bei Sara richtig gut. Sie erhielt 2016 ein Jobangebot in der Finanzabteilung eines internationalen Pharmaunternehmens. Der Lohn reizte sie. Ihr Plan war es, im Beruf nochmals so richtig durchzustarten und ihre Ersparnisse mit einem ordentlichen Gehalt aufzustocken, damit sie vorzeitig in Pension gehen kann. In der Freizeit trieb sie viel Sport und unternahm Ausflüge in die Berge.

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Sara heisst hier Sara, weil sie ihren richtigen Namen nicht in der Zeitung lesen will. Sie redet über diese Zeit, als würde sie von einem anderen Leben sprechen. Heute ist sie 58 Jahre alt. Wenn sie einen guten Tag hat, dann ist sie im Gespräch kaum zu bremsen. Sie redet so schnell, dass sie zwischendurch ausser Atem gerät. Gleichzeitig weiss sie: Der nächste «Crash» wird kommen.

Sara leidet unter Long Covid. Nach diesem Telefonat werde sie ziemlich sicher einen Zusammenbruch haben, sagt Sara. Gespräche, die länger als zwanzig Minuten dauerten, lösten bei ihr eine schwere Erschöpfung aus – ein Symptom der Erkrankung. Sie könne dann das Bett tagelang nicht mehr verlassen.

Die Krankheit hat sich in ihrem Leben ausgebreitet wie ein Mitbewohner in einer Wohnung. Arbeiten kann sie schon lange nicht mehr.

Saras Fall zeigt: Die Krankheit verursacht nicht nur gesundheitliche «Crashs», sondern führt auch zum finanziellen «Crash».

1. Die Diagnose

Im März 2020 erreichte das Corona-Virus die Schweiz, und der Bundesrat rief den Lockdown aus. Alain Berset schloss die Schulen, und die Firmen schickten ihre Mitarbeitenden ins Home-Office. In dieser Zeit erkrankte Sara an Covid-19. Sie gehörte somit zu den Menschen, die bereits in der ersten Welle mit dem Virus in Kontakt kamen.

Sie hatte keinen schweren Verlauf, die Symptome liessen nach kurzer Zeit nach. Im Frühling joggte sie bereits wieder durch Wälder und um Seen.

Der Zusammenbruch kam erst Monate später, im Herbst: Sara litt unter Kopfweh, Konzentrationsstörungen, permanenter Erschöpfung. Es folgten diverse Abklärungen bei Ärzten. Schliesslich wurde ihr ein Burnout diagnostiziert. Sie nahm Antidepressiva und liess sich später auch stationär behandeln.

Auch wenn Sara depressive Episoden hatte, allein damit liessen sich ihre Symptome nicht erklären. Ihr Psychiater tippte auf ME/CFS – ein chronisches Erschöpfungssyndrom, das durch eine virale Infektion, wie zum Beispiel das Corona-Virus, ausgelöst wird. Es gilt als die schwerste Form von Long Covid. Untersuchungen im Universitätsspital Zürich bestätigten den Verdacht.

Die Krankheit ist weder mit Bluttests noch mit MRI oder CT nachweisbar. Es gibt nur wenige Spezialisten für ME/CFS. Viele Ärzte ordnen die Symptome falsch ein, weil sie die Krankheit schlicht zu wenig kennen. Sara fühlte sich oftmals nicht ernst genommen und war erleichtert, als sie Ende 2021 endlich eine Diagnose erhielt. Jetzt wusste sie wenigstens, was ihr fehlt.

Dass sie trotz Diagnose Anwälte einschalten musste, damit die Versicherungen bezahlten, macht sie bis heute fassungslos.

2. Die Krankentaggeldversicherung

Wenn man krank ist, bezahlt die Taggeldversicherung des Arbeitgebers 80 Prozent des versicherten Lohnes über zwei Jahre hinweg.

Eine Versicherung lebt von der Differenz zwischen bezahlten Prämien und den Ausgaben für Leistungsfälle. Daher ist es im Interesse der Versicherungen, so wenig Leistungen wie möglich auszuzahlen. Gerade bei Personen mit psychischen Erkrankungen oder unspezifischen Leiden wie Long Covid holen die Versicherungen daher häufig bereits nach drei bis sechs Monaten Krankschreibung eine medizinische Zweitmeinung ein.

Saras Krankentaggeldversicherung war kulant. Sie war bereits über ein Jahr krankgeschrieben, als sie die Versicherung in eine Sprechstunde bei einer Psychiaterin mit versicherungsmedizinischer Ausbildung schickte. Sara verstand aber nicht, weshalb die Versicherung nicht die Abklärung auf ME/CFS am Universitätsspital Zürich abwartete, die zeitgleich stattfand.

Was dann passierte, war für Sara ein Schock. Die Psychiaterin schrieb in ihrem Bericht, dass Sara die Dosierung ihrer Antidepressiva anpassen müsse. Mehr noch: Sollte sich ihr Zustand nach drei bis vier Wochen nicht bessern, müsse ein Bluttest durchgeführt werden, um sicherzugehen, dass Sara die Medikamente auch wirklich nehme. Nach acht Wochen ordnungsgemässer Einnahme der Medikamente sei sie wieder 20 Prozent arbeitsfähig. Das Pensum könne dann pro Monat um weitere 20 Prozent gesteigert werden. Der NZZ liegen die entsprechenden Ausschnitte des Berichts vor.

Das sei hart zu verkraften gewesen, sagt Sara. Sie sei mit ihrer Energie am Ende gewesen und hätte in acht Wochen wieder arbeiten sollen, nachdem sie bereits so lange krank gewesen war? Ausgeschlossen. Aber das Schlimmste sei das Gefühl gewesen, entmündigt worden zu sein. Zudem seien ihre körperlichen Beschwerden in keiner Weise in den Bericht eingeflossen.

Sie war krank, konnte das Bett kaum mehr verlassen, in der Zwischenzeit lag auch die Diagnose ME/CFS des Universitätsspitals Zürich vor – und trotzdem wollte die Versicherung ihre Taggelder nicht mehr bezahlen, sollte sie den Therapieplan der Gutachterin nicht einhalten.

Sara zog eine Rechtsanwältin bei, die auf Sozialversicherungsrecht spezialisiert ist. Die Anwältin verlangte bei der Versicherung als Erstes das Gutachten. Dann sorgte sie dafür, dass Saras behandelnder Psychiater eine Stellungnahme zum Gutachten abgab. Er schrieb der Versicherung, dass Sara wegen eines chronischen Müdigkeitssyndroms arbeitsunfähig sei und nicht aufgrund der Depression. Den Bericht des Universitätsspitals Zürich legte er bei.

Ohne Berichte oder Stellungnahmen von behandelnden Ärzten, die die Patientin bereits kennten, werde es schwierig, erklärt Saras Anwältin. Zudem hätten nicht alle Betroffenen die finanziellen Mittel, einen Anwalt einzuschalten oder ein Gerichtsverfahren zu finanzieren.

Nachdem die Anwältin bei der Versicherung interveniert hatte, wurden Sara sämtliche Krankentaggelder ausgezahlt.

3. Die IV

Parallel zur Krankentaggeldversicherung lief auch ein Verfahren bei der IV. Als die Krankentaggelder ausliefen, war Saras IV-Verfahren noch nicht abgeschlossen. Das kommt häufig vor. Also liess sie sich für ein Pensum von 20 Prozent gesundschreiben, damit sie für das RAV vermittelbar war und Geld aus der Arbeitslosenversicherung bekam.

Als sie beim RAV vorsprach, kam der nächste Tiefschlag. Sie musste zehn Bewerbungen pro Monat schreiben. Zudem schickte man sie in ein Einzel-Coaching für Führungskräfte. Das alles habe sie enorm viel Energie gekostet.

In dieser Zeit verlangte die IV auch ein polydisziplinäres Gutachten. In Saras Fall umfasste dieses Gutachten Konsultationen bei verschiedenen Ärzten: einem Allgemeinmediziner, einem Neurologen, einem Neuropsychologen, einem Psychiater und einem Rheumatologen.

Das waren fünf Termine in verschiedenen Städten, die Anreise mit dem Zug dauerte bis zu zwei Stunden. Das ist eine Tortur für eine ME/CFS-Patientin, da sind sich spezialisierte Ärzte einig.

Sara weigerte sich, die Termine wahrzunehmen. Sie habe zu wenig Erholungszeit zwischen den Terminen. Der Leidensdruck war hoch. In ihren E-Mails an die IV steht: «unter allerletzter Aufwendung meiner Kräfte» und «Es geht mir extrem schlecht!!!!».

Von der IV wurde ihr Verhalten als renitent empfunden: «Wir erinnern Sie an Ihre Mitwirkungspflicht.»

Ende 2023 wurde Sara ausgesteuert, das IV-Verfahren war aber immer noch nicht abgeschlossen. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als von ihrem Ersparten zu leben. Der Gang auf das Sozialamt war keine Option. Denn Einzelpersonen haben nur Anspruch, wenn sie nur noch 4000 Franken Erspartes besitzen.

Und so schmolzen Saras Ersparnisse über ein Jahr lang dahin. Erst vor ein paar Wochen erhielt sie schliesslich Post von der IV: Ihr wurde eine befristete Rente zugesprochen. Sara soll sich einem Behandlungsplan unterziehen, den die IV-Ärzte für sie zusammengestellt haben. In achtzehn Monaten wird überprüft, ob sie wieder arbeitsfähig ist.

Sara hatte kein Verständnis für die befristete Rente. Wer könne heute schon voraussagen, ob es ihr in Zukunft besser gehe, sagt sie. Deshalb wollte sie sich auch gegen den IV-Bescheid wehren. Sie beauftragte einen Anwalt, der ehrenamtlich Betroffene berät.

Der Anwalt riet Sara davon ab, den Bescheid anzufechten. Er sagt, es sei normal, dass IV-Renten periodisch überprüft würden. Bei gewissen Klienten bessere sich der Zustand tatsächlich. Sein wichtigster Rat an die Betroffenen sei, sich von Medizinern behandeln zu lassen, die sich mit der Krankheit auskennen. Sie können bei Gutachten und Neubeurteilungen Stellungnahmen an die IV abgeben. Die wenigen ME/CFS-Spezialisten, die es in der Schweiz gibt, sind allerdings so ausgelastet, dass sie keine neuen Patienten mehr aufnehmen.

Der Anwalt hofft, dass die Krankheit ME/CFS bald besser erforscht wird. Er ist davon überzeugt, dass nur die Mediziner das Problem lösen könnten, nicht die Juristen.

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