Samstag, November 23

Im alten Volvo-Hauptquartier in Göteborg hat die Schwestermarke Polestar eine neue Designzentrale eingerichtet. Hier entstehen innovative Materialien wie Flachsverbundstoffe, um die Automobilindustrie nachhaltiger zu machen. Ein Blick hinter die Kulissen.

Der Ort, wo die gesamte Designabteilung der Automarke Polestar residiert, könnte geschichtsträchtiger und ikonischer nicht sein. Es ist das alte Hauptgebäude von Volvo, als noch Schweden drin war, wo Schweden draufstand. Der in den 1980er Jahren im Bauhausstil errichtete Komplex thront auf einem Hügel über Göteborg, bei schönem Wetter kann man bis zur Ostsee blicken.

Nach dem Verkauf von Volvo 1999 an Ford und 2010 an Geely stand der alte Kasten leer. Erst kürzlich hat man seine inspirierende Wirkung neu entdeckt, Räume und Infrastruktur im eklektischen Stil der Marke Polestar renoviert und das Team des Polestar-Chefdesigners Maximilian Missoni dort einziehen lassen. Der Österreicher mit dem italienischen Namen kam 2017 vom Volkswagen-Konzern nach Göteborg.

Missonis wichtigste Speerspitze im Kampf ums Wohlwollen der Autokäufer und ganz besonders der Umsteiger auf die E-Mobilität ist Maria Uggla. Sie ist eine dieser beneidenswert coolen Schwedinnen, die mit einem scheinbaren Minimum an Aufwand wie ein Million-Dollar-Girl aussehen. Ihre Jobbezeichnung lautet Head of CMF Design, wobei CMF für Colours, Material und Finish steht. Sie leitet also die Abteilung für Farben, Stoffe und deren Verarbeitung.

In Ugglas Venen fliesst Volvo-Blut, sie hat ihre Karriere bei der schwedischen Marke vor mehr als zwanzig Jahren begonnen. Es war ein entscheidender Schritt für Polestar, diese Insiderin zu gewinnen – für eine neue Marke, die Volvo atmet, aber doch nicht Volvo sein soll.

Für Maria Uggla ist es selbstverständlich, dass Polestar nicht nur technisch ein Vorreiter sein soll, sondern und vor allem auch ein Vorzeigeprodukt der Nachhaltigkeit. Das Thema ist für sie nicht von oben aufgezwungen, sondern wohnt der Marke inne.

Uggla wuchs auf dem Land in Schweden auf, in einem kleinen Dorf, wo heute noch Flachs angebaut und zu Stoffen verarbeitet wird. Daraus entstehen Tischdecken, mit denen zum Beispiel jedes Jahr die Tische für das Nobelpreis-Dinner in Stockholm gedeckt werden. Diese Erfahrung hat Uggla geprägt. Sie gibt ihr nach eigener Aussage ein Gefühl für Klasse, Stil und Qualität, und das alles mit erneuerbaren Rohstoffen.

Ein Naturstoff schafft den Sprung in die Moderne

Aus Flachs, einem Leingewächs, das aussieht wie hohes Gras mit hellblauen Blüten, woben bereits unsere Ahnen Leinen für Gewänder. Bis heute spielt die Pflanze eine bedeutende Rolle in dem Versuch, mit nachwachsenden Rohstoffen zu arbeiten, die leicht und rezyklierbar sind und den hohen Ansprüchen der Autobauer in puncto Sicherheit genügen.

Polestar spannt für die Flachsverarbeitung mit dem Schweizer Startup Bcomp zusammen, dem es gelungen ist, Flachs statt Kohlefaser zu Verbundmaterial zu verarbeiten. Eine patentierte Gitterstruktur ermöglicht, dass jedes andere Material darauf aufgebracht werden kann. An bestimmten Teilen, zum Beispiel an Seitenverkleidungen, darf die natürliche Struktur aber auch durchscheinen und so dem Auto-Interieur eine eigene Note geben. Derzeit wird das neuartige Material im Konzeptauto Polestar 5 erprobt, das Serienfahrzeug soll 2025 lanciert werden.

Was Maria Uggla und ihr Team aber hauptsächlich tun, ist noch innovativer: Stets suchen sie nach neuen Materialien, kreieren neue Oberflächen, versuchen das haptische Gefühl im Auto zu optimieren, das fürs Wohlbefinden zuständig ist. All das stets mit dem Anspruch, den kleinstmöglichen CO2-Fussabdruck zu erzielen.

Ein Blick in das Atelier von Uggla verrät, wie ihr Team das bewerkstelligt. Überall hängen sogenannte Moodboards, an denen sich nach und nach eine Sammlung von Farben und Materialien für neue Modelle von Polestar aufbaut.

Inspiration kann dabei alles sein: eine Tonscherbe aus den Ferien im Süden, ein Ausschnitt aus einem Modemagazin, Schnappschüsse von irgendeiner cool eingerichteten Wohnung oder einem Stillleben, das eine Person aus dem Team von ihrer letzten Scouting-Expedition mitgebracht hat.

Das Team, allen voran Komal Singh, eine junge Farb- und Materialdesignerin, besucht auch Messen zu den Themen Mode und Design, aber das ist nur ein kleiner Teil der Suche nach der ultimativen Eingebung.

Vielmehr geht Uggla eigentlich so vor, wie auch Journalisten arbeiten: Es gibt einen Zündfunken, dann wird recherchiert, Quellen werden gesucht und angezapft, Entwürfe folgen, bis hin zum – vorläufigen – Wunschergebnis.

Inspiration kann aber auch aus Laboren kommen, wo nach alternativen Materialien geforscht wird, wo Pilze für völlig neue Oberflächenmaterialien wachsen, wo aus Resten der Apfelsaftproduktion Stoffe mit lederähnlicher Optik entstehen. Proben dieser Forschungen liegen bei Uggla in etlichen Schubladen – teilweise unter Verschluss, weil noch geheim und nicht erprobt.

Vom Sportschuh zum Strick fürs Auto

Kommt ein solches Fundstück der Idee nahe, die Uggla im Kopf hat, startet sie den Prozess zur möglichen Serienreife. Sie selbst erklärt ihr Vorgehen anhand der Sitzpolster des neuen Polestar 4. Die Inspiration kam aus der Sportmode in Form eines älteren Sportschuhmodells von Nike.

Maria gefiel die Haptik des Oberschuhs, die der einer Lautsprecherbespannung ähnelt: nicht gewoben, sondern gestrickt, robust und langlebig und in allen gewünschten Farben produzierbar. Seit Jahren schon arbeitet Polestar mit der Textilabteilung der Universität von Boras zusammen, einer Talentschmiede etwa 60 Kilometer östlich von Göteborg gelegen, wo an die tausend Studenten zu Designern in allen möglichen Bereichen ausgebildet werden.

Der Kontakt zur Schule ist eng. Uggla ging mit dem Schuhmodell auf den Direktor der Schule, Professor Nawar Kadi, zu und erklärte, was ihr vorschwebte. Das Stricklabor der Schule begann zu experimentieren, Muster wurden produziert, bis die Qualität dem hohen Anspruch von Uggla genügte.

Die Lösung wurde an einer 3-D-Rundstrickmaschine gefunden, wie sie auch zur Produktion von Poloshirts verwendet wird. Mit dieser Maschine, die bis hin zu Stahlfäden alles verstricken kann, was man ihr einfädelt, konnte ein Bezug für die Sitze des neuen Polestar 4 kreiert werden, der über die Unterkonstruktion wie angegossen passt. Zu finden ist das Material im Serienauto, das ab Ende des Sommers auch in der Schweiz ausgeliefert wird.

Die technische Lösung alleine aber war nicht das entscheidende Problem. Uggla suchte und fand in einem Garn aus 100 Prozent rezykliertem PET ein Mono-Material, also eines, das nur aus einem Rohstoff besteht. Dies ist optimal, weil man es unproblematisch wiederverwenden kann. Sobald ein Produkt aus zwei Materialien besteht, muss man zuerst separieren und dann neu aufbereiten.

Das Schlüsselwort dabei heisst Kreislaufwirtschaft. Es sollen in Zukunft im Polestar-Innenraum aller Modelle und überall da, wo die Sicherheitsvorschriften kein neues Material erfordern, nur noch Materialien zur Anwendung kommen, die man lückenlos wiederverarbeiten kann.

Die Designer von Polestar erwecken den Eindruck, als würden sie alles tun, um dem Ruf nach Nachhaltigkeit gerecht zu werden. Im Sinne der Allgemeinheit fragt man sich da, ob es nicht sinnvoll wäre, Prozesse und Erkenntnisse zu teilen, auch mit vermeintlichen Konkurrenten, damit möglichst alle davon profitieren können.

Darauf angesprochen, zeigt sich Uggla diplomatisch. Es sei schon wünschenswert, dass alle Konstrukteure, die ohnehin auf Nachhaltigkeit abzielten, auch von allen Erkenntnissen anderer Automobilhersteller profitierten. Im Sinne des Konkurrenzgedankens sei das jedoch eine eher selbstlose Idee, die so nicht praktiziert werde.

Was Polestar aber plant, ist, Symposien und Workshops zu veranstalten, wo sehr wohl mit anderen Marken kooperiert werden soll. Zumindest soll es dafür neue Gebäude geben: Unterhalb des Volvo-Hügels wird gerade gebaut, unter anderem auch zu diesem Zweck.

Bis dahin handeln Uggla und ihr Team nach der Prämisse: «Wir nutzen unsere einzigartigen Fähigkeiten, um mit unserer Kreativität den Schritt hin zu einer nachhaltigen Gesellschaft anzutreiben, die eine Begehrlichkeit für die richtige Wahl entwickelt.»

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