Unter seinem ehemaligen Direktor Wladimir Putin versucht der Geheimdienst immer weitere Teile der Gesellschaft zu kontrollieren. Den Anschlag in Moskau verhinderte er aber nicht. Setzt der FSB die Prioritäten falsch?

Nach jedem Terroranschlag richten sich die Augen auf den Geheimdienst. So auch in Russland, wo am 22. März vier Schützen in eine Moskauer Konzerthalle eindrangen und mindestens 143 Menschen ermordeten. Doch der FSB ist ein besonders mächtiger Geheimdienst in einem Polizeistaat. Opposition und ausländische Medien fragten deshalb rasch, weshalb er den Angriff nicht verhinderte; «The Guardian» schrieb sogar von einem katastrophalen Versagen der Sicherheitsdienste. Hinweise hatte es jedenfalls gegeben, nicht zuletzt aus den USA.

Eine Antwort ist höchstens in Ansätzen möglich. Der FSB, der Föderale Dienst für Sicherheit, ist selbst im Vergleich zum wenig transparenten russischen Staatsapparat eine Blackbox. Er verrät nicht einmal die Zahl seiner Mitarbeiter. Einige Hinweise gibt aber die Entwicklung des FSB unter Wladimir Putin, der ihn vor seiner Präsidentschaft ein Jahr lang leitete. Heute geniesst der Geheimdienst eine seit seiner Gründung 1994 präzedenzlose Machtfülle und fast totale politische Protektion.

Mächtiger Nachfolger des KGB

Als wichtigste Nachfolgeorganisation des sowjetischen KGB hat der FSB einen grossen Teil von dessen Aufgaben übernommen. Seine acht Hauptabteilungen sind unter anderem für Terrorbekämpfung, Gegenspionage und Operationen im nahen Ausland zuständig. Der Direktor Alexander Bortnikow gilt als enger Vertrauter Putins und stieg einst ebenfalls in St. Petersburg die Karriereleiter empor.

Immer wieder diente die Reaktion auf Terroranschläge als Begründung zum Ausbau der Macht des FSB. 1999 waren es Bomben gegen Wohnhäuser, die Putins Macht festigten, 2002 mündete die blutige Geiselnahme im Moskauer Dubrowka-Theater darin, dass dem FSB die 200 000-köpfige Truppe des Grenzschutzes unterstellt wurden. Eine weitere Terrorwelle führte 2010 zur Einschränkung von Bürgerrechten und zur Übernahme verschiedener polizeilicher Funktionen durch die Schlapphüte.

Mit der definitiven autoritären Wende nach den Ende 2011 beginnenden Massenprotesten gegen Wahlfälschung begann der FSB auch die Gesellschaft zu kontrollieren. Mit «Sorm» verfügte er seit den späten neunziger Jahren über ein System zur Überwachung von Telefonen und des Internets. 2014 wurde es auf soziale Netzwerke ausgeweitet und seither perfektioniert. Auch in den besetzten Gebieten der Ukraine kommt es zum Einsatz. Dabei sucht das System in verschiedenen Kommunikationskanälen nach verdächtigen Stichworten.

Mit Gummiparagrafen gegen Terrorismus und Extremismus sind im letzten Jahrzehnt immer breitere Gruppen ins Visier des FSB geraten. Darunter befinden sich Nichtregierungsorganisationen, aber auch Vertreter sexueller Minderheiten oder einfache Bürger, die über soziale Netzwerke Kritik am Kreml üben. Laut Amnesty International nahmen Verurteilungen wegen «Unterstützung des Terrorismus» seither um das Fünfzigfache zu. Jüngst wurden mehrere Oppositionelle sogar wegen Hochverrats verurteilt.

Der FSB führt die Besatzungsbehörden in der Ukraine an

Mit der radikalen Verschärfung des politischen Klimas im Zuge des Krieges gegen die Ukraine nahm die Repression durch den Geheimdienst weiter zu. Auch im teilweise besetzten Nachbarland erhielt der FSB eine neue Rolle. Zwar hatten dessen Analytiker im Vorfeld der Invasion 2022 die Lage völlig falsch eingeschätzt und dem Präsidenten kaum Widerstand vorausgesagt. Dafür wurde der Leiter der zuständigen Fünften Abteilung laut den Experten Andrei Soldatow und Irina Borogan zeitweise unter Hausarrest gesetzt und möglicherweise verhaftet.

Rasch habe Putin die Säuberung aber beendet, weil er gemerkt habe, dass er den Krieg ohne den FSB nicht führen könne, schreiben die beiden. «Seither steht er an vorderster Front.» Einerseits kämpfen seine Spezialeinheiten sowie Truppen des Grenzschutzes gegen die ukrainische Armee. Andererseits hat Putin dem FSB die Führung der Besetzungsregime in den Regionen Luhansk, Donezk, Cherson und Saporischja übertragen. Zu den Aufgaben gehört auch der Schutz der Krim-Brücke.

Am stärksten wuchs laut dem «Wall Street Journal» die Dritte Abteilung des FSB, zuständig für militärische Gegenspionage. Sie soll Deserteure abfangen. Der Geheimdienst betreibt aber auch die sogenannten Filtrationslager. Durch sie identifizierte und deportierte er vor allem zu Beginn des Krieges «ukrainische Nationalisten», und er warb Kollaborateure an. Laut unterschiedlichen Angaben durchliefen zwischen 900 000 und 2,8 Millionen Menschen solche Lager.

In Orten, die Russland besetzt, installiert der FSB die politische Führung – idealerweise mit Kollaborateuren als Strohmännern, oft mit aus Russland entsandten Beamten. Er organisiert die Unterdrückung des Widerstands und den Aufbau des Propagandaapparates. Wie aus russischen Staatsmedien hervorgeht, spielte der Geheimdienst auch bei der Abhaltung der «Präsidentenwahl» eine führende Rolle. Nur drei Tage vor dem Anschlag in Moskau forderte Putin selbst weitere Verstärkungen für den Geheimdienst in den besetzten Gebieten. «Die Versuche, unsere Entwicklung zu untergraben, erfordern Entschlossenheit», sagte er.

Die Illusion totaler Kontrolle

Die Frage kremlkritischer Medien, ob der Einsatz mutmasslich Zehntausender von Mitarbeitern zur Bekämpfung der Opposition und der Ukrainer den FSB von der Abwehr des islamistischen Terrors abhält, ist deshalb berechtigt. Allerdings geben unabhängige Experten wie der Soziologe Kirill Titajew zu bedenken, dass kein Geheimdienst der Welt eine Gesellschaft vollständig kontrollieren könne. Er glaubt, die Terroristen hätten die Crocus City Hall am Stadtrand von Moskau bewusst ausgewählt, weil dort die Zahl der Überwachungskameras geringer sei als im Zentrum.

Andrei Soldatow schreibt, der FSB sei zwar sehr gut in der Aufklärung von Anschlägen, weil er viele technische Mittel habe. Dies habe sich auch nach dem 22. März gezeigt, als die Verdächtigen innert eines Tages gefasst worden seien. Bei der Prävention sei er schwach, weil er zu paranoid sei, um Informationen mit ausländischen Diensten zu teilen, und weil die Bevölkerung dem FSB nicht vertraue. Die starke Kontrolle durch Putin bedeute auch, dass die Agenten sich nicht trauten, der politischen Führung unangenehme Wahrheiten zu übermitteln.

Hinzu dürfte die eigene ideologische Verblendung kommen: Der Geheimdienst ist es seit der Sowjetära gewohnt, den Westen für alles verantwortlich zu machen. Das ist eine bequeme Alternative dazu, kritisch auf eigene Fehler zu blicken. Deshalb trägt der FSB-Direktor Bortnikow seit dem Terroranschlag bereitwillig die Verschwörungstheorie mit, wonach die Ukraine und westliche Hintermänner die Organisatoren sind. Aus dieser Perspektive stellt sich auch die Frage nicht, ob der FSB seine Ressourcen falsch verteilt habe in den letzten zwei Jahren.

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