Sonntag, Oktober 6

Über Wochen herrschte in Beirut akute Krieg-in-Sicht-Stimmung. Auch wenn sich der erwartete Gegenschlag des Hizbullah auf Israel am Ende als weniger dramatisch herausstellte als befürchtet: Den Sommer in Libanon hat er ruiniert.

Im Beach-Club «Sporting» am äussersten Zipfel Beiruts, da, wo die Hauptstadt Libanons wie ein steiler Fels im Mittelmeer versinkt, ist die Welt noch in Ordnung. Ein paar Bademeister in gelben T-Shirts schleppen Sonnenschirme, tief gebräunte Frauen drehen sich alle paar Minuten träge auf ihren Liegen, und Männer mit mächtigen Bäuchen starren auf die Bildschirme ihrer Mobiltelefone.

Das «Sporting» wurde in den fünfziger Jahren gegründet und hat seither alle möglichen Krisen überlebt. Während des Bürgerkriegs der achtziger Jahre, als israelische Kriegsschiffe vom nahen Meer aus Granaten über den Strandklub hinweg schossen, liessen die Besitzer sogar extra T-Shirts drucken mit der Aufschrift: «Gut gebräunt und immer noch am Leben. Beirut, Sommer 82.»

Warten auf den Gegenschlag

42 Jahre später droht dem kleinen Land am Mittelmeer erneut ein Krieg. Wochenlang warteten die Libanesen darauf, dass der Hizbullah – die hier alles kontrollierende Schiitenmiliz – zum gross angekündigten Gegenschlag gegen Israel ausholen würde. Die Operation war als Antwort auf die Tötung des Hizbullah-Funktionärs Fuad Shukr angekündigt worden, der Anfang Juli bei einem israelischen Luftangriff im Süden Beiruts ums Leben gekommen war.

Als die Vergeltung am vergangenen Wochenende dann endlich stattfand, war sie weniger schlimm als befürchtet. Ein regionaler Grosskrieg, so scheint es, ist vorerst abgewendet. Entsprechend atmet das ganze Land auf. Viele Libanesen hatten sich allerdings schon vorher wieder dem Alltag zugewandt. Man könne nicht einfach nur in Angst erstarren, so kommentierte ein Besucher im «Sporting» bereits vor einer Woche die bange Warterei. «Das Leben muss ja weitergehen.»

Zudem hat das von einer jahrelangen Wirtschaftskrise geschwächte Libanon neben der Kriegsgefahr noch eine ganze Menge anderer Probleme. So brach letzte Woche erneut die Stromversorgung zusammen. Nachdem auch das letzte noch funktionierende Kraftwerk des Landes den Geist aufgegeben hatte, fiel sogar am Flughafen kurz der Strom aus. Der Grund: Die Regierung hatte es offenbar versäumt, neuen Kraftstoff zu importieren.

«Dieser Sommer ist eine Katastrophe»

Ihr Land, so frotzeln viele entnervte Libanesen seither, brauche Israel gar nicht, um vor die Hunde zu gehen. Derweil versucht der Energieminister – ein hochdekorierter Absolvent mehrerer Elite-Unis – verzweifelt, irgendwo Treibstoff aufzutreiben. Vor der Lokalpresse wählte er dafür dramatische Worte: Libanon kämpfe um seine Würde, sagte er, schliesslich setzte man sich dem Kolonialismus und der Versklavung zur Wehr.

Die bizarre Episode zeigt wieder einmal, wie trist die Lage ist. Denn der Sommer ist traditionellerweise Libanons beste Jahreszeit: Die Exilanten kommen auf Heimatbesuch, es wird geheiratet, gefeiert und Geld ausgegeben. Nun hat die Krieg-in-Sicht-Krise die Saison ruiniert. Sie könne ihre Arabischschule gleich wieder zumachen, klagt eine Sprachlehrerin in Beirut, nachdem ihre ausländischen Schüler infolge der dringlichen Warnungen der westlichen Botschaften alle fluchtartig das Land verlassen haben.

Nicht viel besser ergeht es einem Nachtklubbesitzer, der für viel Geld gerade erst in Beirut einen neuen Klub aufgemacht hat: «Dieser Sommer ist eine Katastrophe für uns», sagt er. Immerhin hat er im Gegensatz zu anderen Unternehmern, die vor den Trümmern ihrer Existenz stehen, noch Optionen. Man habe die Festivitäten angesichts der Krise kurzerhand nach Faraya verlegt, erzählt er am Rande einer Poolparty nördlich von Beirut.

Cocktails für 20 Dollar

Faraya ist ein Skiresort, hoch oben in den Bergen Libanons – und so etwas wie die letzte Bastion feierfreudiger Libanesen in Zeiten des Krieges. Schon 2006 war hier bis zum Umfallen getanzt und getrunken worden, während unten an der Küste Israels Kampfflieger die Beiruter Schiiten-Vorstadt Dahiyeh in Schutt und Asche legten. Jetzt ist es offenbar wieder so weit. Auf der Strasse hoch ins christliche Bergdorf staut sich am Wochenende der Verkehr.

Wer es in den Ort geschafft hat, landet auf einer rauschenden Party, wo Cocktails für 20 Dollar feilgeboten werden und DJ pumpende Elektro-Mix-Musik auflegen. Die Tanzfläche ist dermassen voll, dass man sich fragt, wie dieses kleine Land es bloss schafft, trotz jahrelanger Wirtschaftskrise, Armutsmigration und Währungsverfall so viele solvente Feierwütige zusammenzubekommen.

Aber trotz dem fast schon zur Karikatur gewordenen Eskapismus ist auch hier der immer wieder drohende Krieg präsent. In der Schlange vor der Toilette fragt ein junger Libanese, wo man denn herkomme – nur um dann sogleich auszurufen: «Danke, dass ihr uns jetzt nicht im Stich lasst.» Gleichzeitig explodiert draussen über der offenen Tanzfläche ein buntes Feuerwerk.

Der Grenzkrieg im Süden geht weiter

Jenseits der Berge von Faraya, in der Bekaa-Ebene, kurz vor der Grenze zu Syrien, bombardierten jüngst israelische Jets und Drohnen Waffenlager und Stellungen des Hizbullah. Auf Videos in sozialen Netzwerken waren riesige Feuerbälle zu sehen. Der begrenzte Krieg, den sich die Schiitenmiliz und Israel seit letztem Oktober liefern, geht auch jetzt, nach der Antwort des Hizbullah auf die Tötung Shukrs, weiter.

Das bekommen besonders die Bewohner jener Orte zu spüren, die direkt an der Frontlinie liegen. In Marjayoun, einem Christenstädtchen tief im schiitisch geprägten Süden, an der Grenze zu Israel, zerstörte eine Drohne vor zwei Wochen ein Fahrzeug des Hizbullah. Dabei seien sein Bruder und sein Neffe verletzt worden, erzählt ein Dorfbewohner namens Tony, der vor einem kleinen Gemischtwarenladen auf einem Plastikstuhl sitzt.

Der Mann ist verärgert und resigniert zugleich. Es gehe jetzt schon Monate so, ein Ende sei nicht absehbar, schimpft er. «Ich verstehe nur nicht, warum die Israeli den Angriff hier durchgeführt haben und nicht ausserhalb des Dorfes. Schliesslich sind wir hier im Ort Christen und haben mit dem Kampf des Hizbullah nichts zu tun.»

«Das macht uns wirtschaftlich kaputt»

Dass der Krieg an die Substanz gehe, erzählt auch Elie Abu Nakl, der Bürgermeister von Kawkaba, einem Nachbarort von Marjayoun. Er sitzt mit seinen Gemeindearbeitern an einem langen Tisch in einem Garten und trinkt Bier. Die Arbeiter haben ein paar Feldwege von Gras und Ästen gereinigt, um zu verhindern, dass es in der Sommerhitze in den unbestellten Feldern zu Bränden kommt. Denn viele der Bauern und Landarbeiter sind geflohen.

Die Männer haben alle den letzten Waffengang von 2006 erlebt. Ein Krieg wäre weniger schlimm als die ewige Ungewissheit, sagt Abu Nakl. «Ein Krieg ist irgendwann vorbei. Das hier scheint hingegen ewig zu dauern. Das macht uns wirtschaftlich kaputt.» Man werde es irgendwie schon überleben, wirft ein alter Mann namens Tanous ein. «Wir Libanesen sind Meister darin, uns aufzurappeln. Das Dumme ist nur, dass wir dann sogleich ins nächste Loch stolpern.»

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