Donnerstag, Oktober 3

Während Russland die Waffenproduktion massiv steigert, kommt die Modernisierung der Streitkräfte in Deutschland kaum voran. Eine Studie des Kieler Instituts für Weltwirtschaft zeigt, dass die Europäer immer stärker ins Hintertreffen geraten.

Vor wenigen Tagen trafen sich in Ramstein zum wiederholten Male die Verteidigungsminister der Staaten, die der Ukraine militärische Hilfe leisten. Auch Boris Pistorius war dabei, Chef des deutschen Wehrressorts, im Gepäck eine frohe Botschaft. Deutschland, kündigte er an, werde der Ukraine 12 weitere Artilleriegeschütze vom Typ «Panzerhaubitze 2000» liefern, jeweils sechs in diesem und im nächsten Jahr.

Zweifellos kann die Ukraine für ihren Verteidigungskampf gegen Russland jedes Geschütz gebrauchen. Das Problem allerdings besteht darin, dass jede Waffe, die an das angegriffene Land geht, in Deutschland fehlt. Mehr noch: Während die russische Rüstungsindustrie ihre Produktion seit dem Überfall auf die Ukraine vor zweieinhalb Jahren massiv gesteigert hat, hinkt Deutschland bei der Wiederausrüstung und Modernisierung seiner Streitkräfte erheblich hinterher. Um den Bestand an Waffen zu erreichen, über den die deutschen Streitkräfte vor 20 Jahren verfügten, brauchte Deutschland beim derzeitigen Tempo der militärischen Beschaffung bis zu 100 Jahre.

Das geht aus einer aktuellen Studie des Kieler Instituts für Weltwirtschaft hervor, einem der sechs führenden deutschen Wirtschaftsforschungsinstitute. Die Autoren haben darin öffentlich verfügbare Daten über Waffen- und Munitionsvorräte, über die Produktion neuer Waffen und Munition sowie über Beschaffungsvorhaben Russlands und Deutschlands sowie weiterer europäischer Staaten analysiert. Ihr Fazit: Deutschland müsse seine militärischen Kapazitäten dringend ausbauen, um der Bedrohung durch Russland effektiv entgegentreten zu können. Ein Scheitern würde nicht nur die Sicherheit Deutschlands, sondern die Stabilität Europas als Ganzes gefährden.

Desolates Beschaffungswesen

Demnach vergrössert sich trotz Zeitenwende-Rhetorik der Abstand zwischen den militärischen Fähigkeiten Deutschlands und Russlands weiter. Die Ausgaben der deutschen Regierung seien angesichts der Bedrohung durch das Regime von Wladimir Putin und nach Jahrzehnten der Abrüstung völlig unzureichend. Hinzu komme ein desolates Beschaffungswesen. In Anbetracht seiner massiv anwachsenden Rüstungskapazitäten auch bei modernen Waffensystemen könne Russland die gesamte Menge des derzeitigen deutschen Waffenbestandes innerhalb von nur einem halben Jahr produzieren.

Dieser Befund der Wissenschafter trifft auf teilweise gegensätzliche Darstellungen des deutschen Verteidigungsministeriums. Wiederholt hat Ressortchef Pistorius in den vergangenen Monaten das Tempo gelobt, in dem inzwischen neue Waffen und Ausrüstung für die Bundeswehr beschafft würden. Vieles gehe schneller, unkomplizierter und effizienter als früher, heisst es. Sollte das wirklich so sein, dann, so impliziert es der Kieler Bericht, ist das offenkundig noch nicht ausreichend, um der Bedrohungslage gerecht zu werden.

Russland hat es der Studie zufolge geschafft, seine Rüstungsproduktion trotz internationaler Sanktionen seit Kriegsbeginn deutlich zu steigern. Demnach produziert der Aggressor monatlich bis zu 140 Panzer und mehr als 500 gepanzerte Fahrzeuge. Dies übersteige bei weitem die Rüstungsproduktion Deutschlands und anderer europäischer Länder. Dabei setze Russland nicht nur auf die Produktion neuer Waffen, sondern reaktiviere auch alte Bestände aus der Sowjetzeit. Dies ist insbesondere bei älteren Kampf- und Schützenpanzern zu sehen, die zu Tausenden sukzessive modernisiert werden.

10 000 Granaten täglich

Zusätzlich habe Russland seine Artillerieproduktion ausgeweitet und setze auf eine starke Nachschubkette, die unter anderem durch Lieferungen aus Nordkorea unterstützt werde. Die Kooperation mit dem Regime in Pjöngjang ermögliche den russischen Streitkräften in der Ukraine den Einsatz von durchschnittlich 10 000 Artilleriegranaten täglich.

Zum Vergleich: Bei dieser Schussrate wären die derzeitigen Munitionsvorräte der Bundeswehr innerhalb von zwei Tagen erschöpft, während die aktuelle Jahresproduktion der deutschen Rüstungsindustrie gerade einmal für 70 Kriegstage dieser Intensität reichen würde. Allerdings soll die Produktion von Artilleriegranaten in der Bundesrepublik und in anderen europäischen Staaten in den kommenden Jahren deutlich zunehmen. So baut etwa Rheinmetall derzeit Werke für Artilleriegranaten in Unterlüss (Niedersachsen) und Litauen. In Ungarn hat der Konzern im Juli erst eine neue Produktionsstätte in Betrieb genommen.

Im Gegensatz zu Russland hat Deutschland bisher dabei versagt, seine Rüstungsproduktion und die Beschaffung neuer Waffen und Ausrüstung seit Februar 2022 signifikant zu steigern. Der in der Studie des Kieler Instituts vorgestellte «Kiel Military Procurement Tracker» zeigt, dass Deutschland erst Ende 2023 ernsthaft damit begonnen hat, neue Bestellungen für militärische Ausrüstung aufzugeben. Der «Procurement Tracker» listet alle Beschaffungsvorhaben seit 2020 auf.

Russland lagert ein, Deutschland verschrottet

Die deutschen Versäumnisse liegen zum einen an der früheren Verteidigungsministerin Christine Lambrecht, die für den Posten nicht geeignet war. Sie gehörte zu den Teilen des sozialdemokratischen Establishments, das auf ein schnelles Kriegsende gehofft hatte und keine langfristige Verantwortung für den massiven Ausbau der militärischen Kapazitäten tragen wollte. So wurden bis Juli dieses Jahres lediglich 18 Kampfpanzer Leopard 2 bestellt, obwohl die Bundeswehr nur über etwa 300 dieser Waffen verfügt.

Vor 20 Jahren noch hatte Deutschland mehrere tausend Kampf- und Schützenpanzer sowie Haubitzen. Anders, als es Russland tat, hat die Bundeswehr die meisten dieser Waffen aber nicht eingelagert, sondern verkauft oder verschrottet. Selbst unter optimistischen Annahmen, so geht es aus der Studie des Kieler Instituts hervor, würde es bis 2066 dauern, bis Deutschland bei dem Kampfpanzern wieder das Niveau von 2004 erreichte.

Die deutschen Versäumnisse haben zum anderen auch mit den politischen Unsicherheiten zu tun, die bei den Verteidigungsausgaben herrschen. Deutschland hat zwar in diesem Jahr das Zwei-Prozent-Ziel der Nato erreicht. Doch der Grossteil der neuen Waffen und andere Ausgaben, etwa für Munition, werden durch das 100-Milliarden-Sondervermögen finanziert. Spätestens 2027 wird dieser kreditfinanzierte Extrafonds aufgebraucht sein. Dann müsste der Kernverteidigungshaushalt schlagartig um etwa 30 Milliarden Euro erhöht werden. Dies sei eine riskante politische Wette, heisst es in der Studie.

Unsicherheit in der Rüstungsindustrie

Die mittelfristige Budgetplanung der Bundesregierung hinterlässt in der deutschen Rüstungsindustrie vor allem eines: Unsicherheit. Sie verhindere den Aufbau der erforderlichen industriellen Kapazitäten für eine Erhöhung der militärischen Produktion, schreiben die Kieler Autoren. Hinzu kämen nach wie vor übermässige bürokratische Hürden und ineffiziente Ausschreibungsverfahren, die den Aufbau einer schlagkräftigen Verteidigungsindustrie zusätzlich verzögerten.

Zweieinhalb Jahre nach dem Beginn des russischen Krieges in der Ukraine klafft nicht nur eine grosse Lücke bei den militärischen Kapazitäten zwischen Deutschland und Russland, sondern auch zwischen den grossen europäischen Nato-Staaten und dem Regime in Moskau. Die Studie attestiert etwa Grossbritannien «bemerkenswerte» Mängel bei der Luftverteidigung. Nur Polen kommt gut weg. Es habe bereits im Jahr 2021 über mehr Kampfpanzer verfügt, als Deutschland, Frankreich und Grossbritannien zusammen. Seitdem hat Polen weiter aufgerüstet und seinen Vorsprung ausgebaut.

Das Kieler Institut erwartet, dass die russischen Streitkräfte in diesem Herbst neue Kampfverbände einsatzbereit melden werden. Sie seien im Mai vorigen Jahres aufgestellt und seitdem mit Kampf- und Schützenpanzern, Fahrzeugen, Artillerie und mobilen Luftverteidigungssystemen ausgerüstet worden. Die Produktion dieser «Schlüsselsysteme für die Bodenkriegsführung» sei bis 2023 sprunghaft gestiegen und werde «wahrscheinlich nachhaltig in einem höheren Tempo fortgesetzt», das weit über der europäischen Produktion liege.

Sofortige Erhöhung der Verteidigungsausgaben

Russland, sagt Guntram Wolff, einer der Autoren der Kieler Studie, erwachse zu einer immer grösseren Sicherheitsbedrohung für die Nato. Gleichzeitig komme Deutschland mit der für die Abschreckung nötigen Aufrüstung nur sehr langsam voran. Das Land brauche jetzt neben dem Sondervermögen eine dauerhafte, deutliche und sofortige Erhöhung der regulären deutschen Verteidigungsausgaben auf mindestens zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts.

Das würde bedeuten, den Wehretat von derzeit gut 52 Milliarden Euro auf mehr als 80 Milliarden zu erhöhen. Dafür gibt es in Deutschland derzeit keine politischen Mehrheiten. Dennoch, so Guntram Wolff, wäre mit Blick auf Russlands Aggression ein «Weiter-so-wie-bisher» fahrlässig und verantwortungslos. Und selbst für den «Fall einer Waffenpause in der Ukraine» gebe es keinen Anlass, sich zurückzulehnen. Im Gegenteil: Die russischen Militärbestände, so Wolff, würden sich dann in beispiellosem Tempo erhöhen.

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