Montag, November 18

Sie gründen eine Zeitung, zahlen für redaktionelle Beiträge, investieren in einen Ersatz für den «Züritipp». Mittendrin ein linkes Online-Magazin, das eine einträgliche Nähe zur Stadt pflegt.

Zürich erlebt gerade den Aufstieg einer neuen Art von Journalismus: Man nimmt Geld vom Staat entgegen, um über staatlich geförderte Institutionen zu berichten. Und reklamiert dennoch die klassische Rolle der «vierten Gewalt» für sich, die eine kritische Distanz wahrt. Mittendrin: das junge, linke Zürcher Online-Magazin «Tsüri», das eine besondere wirtschaftliche Nähe zur Stadt Zürich pflegt.

Alles beginnt Mitte September damit, dass das Verlagshaus Tamedia ankündigt, aus Spargründen das Veranstaltungsmagazin «Züritipp» einzustellen. Ein Schock für Kinos, Theater, Museen und Konzertlokale, für die das Magazin eine wichtige Plattform ist. Sie sehen sich bestärkt darin, dass die Umbrüche in der Medienlandschaft das Ende des Kulturjournalismus bedeuten.

Die SP-Regierungsrätin Jacqueline Fehr kündigt umgehend Hilfe an: Die kantonale Fachstelle Kultur wird drei Jahre lang versuchsweise je 80 000 Franken an Steuergeldern in den Ausbau des Online-Kulturkalenders «Kulturzüri» stecken. Auch kleine redaktionelle Beiträge sollen so finanziert werden. Betrieben wird der Kalender von grossen Kulturhäusern, die ihrerseits subventioniert werden.

Das Online-Magazin «Tsüri» bekennt Flagge und berichtet anwaltschaftlich über die Sorge der Kulturschaffenden, aus der öffentlichen Wahrnehmung zu verschwinden.

Mitte Oktober folgt der nächste Akt: Das Theaterhaus Gessnerallee gibt die erste Ausgabe einer eigenen Zeitung heraus. Motto: Wenn niemand mehr über unsere Themen schreiben will, machen wir das selbst – aus «Liebe zum Journalismus», wie die Macher schreiben. Die Mittel des Theaterhauses kommen grösstenteils aus der Stadtkasse: fast dreieinhalb Millionen Franken waren es 2023. Verantwortlich für die Zeitung ist die Kommunikationschefin des Hauses, Rahel Bains, ehemalige Redaktionsleiterin bei «Tsüri».

Fast gleichzeitig veröffentlicht das Zürcher Tanzhaus, von der Stadt mit eineinhalb Millionen Franken subventioniert, einen dringenden Aufruf: Es brauche Ersatz für den «Züritipp». Gefragt sei eine «unabhängige Kulturberichterstattung», die sicherstelle, dass die Kultur im Gespräch bleibe. Fast hundert Institutionen unterschreiben.

Erhört werden diese von «Tsüri». Ende Oktober kündigt das Magazin einen Kultur-Newsletter namens «Tsüritipp» an und startet ein Crowdfunding. Diese Marktlücke zu nutzen, ist legitim, doch die Nähe zum Objekt der Berichterstattung ist von Anfang an nicht zu übersehen: Das Online-Magazin führt kurz darauf ein Interview mit der Leiterin des Tanzhauses – vor einem Lieferwagen, auf dem eine Werbung für den eigenen Newsletter prangt. Die Interviewerin dient als Stichwortgeberin, man verfolgt das gleiche Ziel.

Die verbindende These: Schuld an der mangelnden Breitenwirkung der Kulturhäuser sind die etablierten Medien, die auf der Jagd nach Klicks kaum noch über sie berichten. Diese Feststellung ist zwar nicht völlig falsch. Aber dass es auch umgekehrt sein könnte, dass man mit Nischenproduktionen schlicht kein breites Publikum erreicht, ist keine Frage wert.

Das Tanzhaus bestätigt auf Anfrage vage, dass es das Crowdfunding von «Tsüri» finanziell unterstützt hat, ohne indes einen Betrag zu nennen. Wie eine kritische, unabhängige Berichterstattung unter solchen Bedingungen möglich sein soll und was das Resultat mit Journalismus zu tun hat, lässt die Sprecherin des Hauses ebenfalls offen.

Modell «Tsüri»: Podcasts für die Stadt, Artikel fürs EWZ

Entwickelt sich hier ein System, in dem Kulturhäuser eine Berichterstattung nach eigenem Gusto kaufen? Ein System der Selbstbestätigung, in dem sie öffentliches Geld in Publikationen stecken, die dann über ihre subventionierten Produktionen schreiben, um diesen den Anschein öffentlicher Resonanz und Relevanz zu verleihen? Mit Partnern wie «Tsüri», die das Geld gerne entgegennehmen?

Das Online-Magazin versteht seine eigene Rolle ganz anders. Seit der damals erst 25-jährige Journalist Simon Jacoby vor zehn Jahren «Tsüri» gegründet hat, lässt er keine Gelegenheit aus, das eigene Produkt als die Zukunft des unabhängigen Journalismus zu bewerben.

«Tsüri» feiert gerade das zehnjährige Bestehen, es beschäftigt inzwischen ein zwölfköpfiges Team. Ein beachtlicher Erfolg für ein journalistisches Startup, das auf eigene Faust losgelegt hat, während andere Medienhäuser sparten.

Jacoby, der Chefredaktor und zugleich hauptverantwortlich fürs Geschäftliche ist, hat nur selten thematisiert, dass Geld aus der Zürcher Stadtkasse eine wichtige Stütze dieses Erfolgs ist. Wenn «Tsüri» über die eigenen Finanzen schrieb, war meist von «kreativen Ideen» die Rede, davon, dass man ganz ohne Mäzene auskomme oder dass man niemals Geld von der Pharmaindustrie annehmen würde.

Eine Aufstellung, die die Stadt auf Anfrage der NZZ herausgegeben hat, zeigt aber: Seit 2016 haben verschiedene Departemente der Stadt Zürich für zusehends stattliche Beträge Leistungen bei «Tsüri» eingekauft. Es begann mit wenigen tausend Franken und steigerte sich bis im Jahr 2021 rasch auf über 160 000 Franken.

Von der Stadt bezahlte Inhalte sind auch integraler Bestandteil eines publizistischen Leuchtturmprojekts, das Jacoby als Neuerfindung des Lokaljournalismus anpreist. «Civic media» heisst dieses, eine Schwerpunkt-Reihe, die auf viel Interaktion mit der «Community» setzt. Damit macht «Tsüri» laut Eigenwerbung «den Lokaljournalismus zum Abenteuer». Dieses besteht unter anderem darin, sich auf intensive und einträgliche Kooperationen mit staatlichen Akteuren einzulassen.

Eine solche gab es zum Beispiel mit dem städtischen Elektrizitätswerk EWZ. Mit einer Organisation, die mit «Tsüri» zwei Dinge teilt: einerseits die Agenda für Klimaschutz und grüne Energie, andererseits das Interesse an einer jungen, urbanen Zielgruppe.

So finden sich in den Schwerpunkt-Reihen nun redaktionelle Beiträge, die von «Tsüri»-Journalisten gegen Bezahlung verfasst wurden. Für mehrere tausend Franken pro Beitrag schreiben diese Sätze wie: «Unter allen Schweizer Energieversorgungsunternehmen steht EWZ auf dem Podest.» Eine klassische Publireportage, die nicht explizit als solche gekennzeichnet ist, sondern mit dem Label «Sponsor 49».

Ein anderes Beispiel für solche Auftragsarbeiten ist eine 14-teilige Podcast-Reihe, die die Stadt Zürich als Arbeitgeberin in ein positives Licht rückt. Eine Journalistin von «Tsüri» erzählt in jeder Folge, dass die 30 000-köpfige Stadtverwaltung aus Zürich eine lebenswerte Stadt mache, und unterhält sich zum Beispiel mit dem städtischen Projektleiter der umstrittenen Rad-WM über die Highlights des Anlasses. Fragen und Themen wurden vom Personalmarketing der Stadt vorgegeben. Auch dieses begründet diese Kooperation mit der jungen Zielgruppe der 18- bis 34-Jährigen.

Im Jahr 2021, als das Magazin vermeldete, es aus den roten Zahlen geschafft zu haben, kamen 25 Prozent seiner gesamten Einnahmen von der Stadt. Inzwischen ist dieser Anteil zwar gesunken, auf unter 10 Prozent. Aber auch im letzten Jahr flossen noch über 50 000 Franken. Für eine Publikation, die sich inhaltlich fast ausschliesslich mit der Stadt befasst, ist dies eine bemerkenswerte Abhängigkeit.

Auf die Verbindungen mit der Stadt und die redaktionelle Unabhängigkeit angesprochen, reagiert Jacoby mit einer Doppelstrategie. Zuerst mit einer knapp gehaltenen E-Mail, dann mit einer angriffigen Artikelserie über die NZZ.

In der E-Mail argumentiert Jacoby, dass die Stadt Zürich «eine Werbekundin und punktuell Partnerin bei Veranstaltungen» sei. Beides seien in der Branche übliche Einnahmequellen. Dadurch sei die journalistische Unabhängigkeit nicht tangiert. «Tsüri» befasse sich kritisch mit der Stadtpolitik.

Wenige Tage danach publiziert Jacoby auf «Tsüri» einen Bericht in eigener Sache, in dem er eher beiläufig zum Thema Werbung und Kooperationen den Satz schreibt: «Unsere grösste Kundin ist die Stadt Zürich.»

Das Theaterhaus Gessnerallee macht jetzt Journalismus

Wie sich die Nähe zur Stadt und zu subventionierten Institutionen dereinst in einem «Tsüritipp»-Newsletter niederschlägt, bleibt abzuwarten. Anders im Fall des Theaterhauses Gessnerallee, das nun eine eigene Zeitung herausgibt. Dort ist bereits ersichtlich, was sich die Macherinnen unter «sorgfältigem Kulturjournalismus» vorstellen, der nicht den Zwängen von Aufmerksamkeitsökonomie und Rendite unterliegt.

Derzeit kann man in der Online-Ausgabe lesen: eine Würdigung zweier pensionierter Bühnentechniker, ein Gespräch zweier queerer Theaterleute über Trans-Repräsentation, ein Interview auf Englisch, das einer der Programmverantwortlichen mit einer Choreografin führt, die in der Gessnerallee zu Gast ist. Gleichgesinnte unter sich. Wer das tatsächlich liest, muss offenbleiben: Online werden die Zugriffszahlen angeblich nicht gemessen.

Die Kommunikationschefin Rahel Bains ist überzeugt, dass in der Gessnerallee dringliche gesellschaftliche Themen verhandelt werden, die eine kritische Auseinandersetzung in der medialen Öffentlichkeit verdient hätten und ein breites Publikum ansprechen.

Die Gessnerallee lässt sich die eigene Zeitung jährlich 88 000 Franken kosten. Mehr als die Hälfte wird laut Bains mit selbst erwirtschafteten Mitteln finanziert, etwa die Honorare und die Druckkosten. Der Rest entfalle auf festangestellte Mitglieder des eigenen Teams, die nun publizistisch für die Zeitung tätig seien, statt klassische PR-Arbeit zu leisten. Und deren Löhne seien subventioniert.

Leisten könne sich das Theaterhaus die Zeitung, weil es in der Kommunikation eine Stelle gestrichen habe. Zudem spare es bei Programmheften, Plakatkampagnen, Inseraten und digitaler Werbung.

Zur Frage, warum diese Art der Öffentlichkeitsarbeit als Journalismus verkauft wird, sagt Bains: Ihre Zeitung sei «journalistischer» als vergleichbare Publikationen anderer Häuser. Die Themen setzt zwar die Theaterleitung, gemeinsam mit Bains, in der Umsetzung seien die externen Autorinnen und Autoren aber frei. Zudem halte man sich an die Regeln des journalistischen Handwerks. Die Redaktion sei kritisch und schütze ihre Unabhängigkeit. «Bis jetzt gelingt uns das sehr gut.»

Das Unbehagen des Medienwissenschafters

Der Medienwissenschafter Vinzenz Wyss von der ZHAW bewertet diese Entwicklung ambivalent: Publikationen, die direkt von Kulturorganisationen finanziert würden, stünden stets im Verdacht, auch deren Lied zu singen – «und sei dies nur ein Verdacht». Andererseits könne man argumentieren, dass es sonst auf Dauer gar keine Berichterstattung mehr gäbe, wenn sich die Medienhäuser aus dem Lokalen zurückzögen.

Dieser Trend gilt laut Wyss nicht nur für den Kulturbereich, sondern generell. Vor allem kleine Gemeinden spielten deshalb zunehmend mit dem Gedanken, eine gemeindeeigene Zeitung herauszugeben. Das Gleiche passiere nun auch bei den Kulturhäusern.

Wyss fände es aber klüger, wenn solche Institutionen nicht selbst publizistisch tätig würden, sondern – wenn schon – gemeinsam eine Stiftung für Kulturjournalismus finanzieren würden. Dadurch wäre die publizistische Unabhängigkeit garantiert. Statt ein eigenes Medium auf den Markt zu bringen, könnten die so finanzierten Berichte auch in bestehende, unabhängige Titel integriert werden, sagt Wyss. Er verweist auf das Beispiel von «20 Minuten», wo die Wissensseiten während mehrerer Jahre von einer Stiftung finanziert wurden.

Simon Jacoby von «Tsüri» wird das gerne hören. Ende September, bevor die ganze Debatte so richtig ins Rollen kam, unterhielt er sich in einem Podcast mit seiner ehemaligen Redaktionsleiterin Rahel Bains – und schlug ihr genau ein solches Stiftungsmodell vor. Das fände er besser, als wenn die Kulturhäuser jetzt ihre eigene Kommunikation ausbauten. Bains zweifelte, ob das «viel unabhängiger wäre als das, was wir in der Gessnerallee machen».

Sie sagte aber auch: «Das ist eine smarte Idee.» Fortsetzung folgt.

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