Mittwoch, Oktober 9

Vor hundert Jahren brachte die Frankfurter Schule Schwung ins Denken. Heute ist es erlahmt. Der Historiker Jörg Später sucht Adornos Erbe. Und übersieht einen wichtigen Punkt.

Die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland ist auch eine Geschichte des Verfalls der Kritischen Theorie – des Theoriegebäudes der Frankfurter Schule, die die deutsche Öffentlichkeit immer wieder irritierte. Nicht zuletzt deshalb, weil sie den bestehenden Verhältnissen gegenüber ebenso distanziert war wie gegenüber vermeintlichen Alternativen.

Nachzuspüren ist dieser Verfallsgeschichte im neuen, über 700 Seiten schweren und dennoch leicht zu lesenden Buch von Jörg Später «Adornos Erben. Eine Geschichte aus der Bundesrepublik». Der in Freiburg im Breisgau lehrende Historiker porträtiert darin auf packende Weise nicht nur den «Ahnherrn» der Kritischen Theorie, Theodor W. Adorno, sondern auch die «Erben». Allen voran Jürgen Habermas, aber auch heute fast vergessene Persönlichkeiten wie Helge Pross, Rolf Tiedemann oder Karl-Heinz Haag.

Bezeichnend für den Niedergang der Kritischen Theorie ist, dass unter all den «Adorniten» gerade derjenige das deutsche Geistesleben am nachhaltigsten geprägt hat, der mit des Meisters Werk am wenigsten anfangen konnte, namentlich Habermas. Im Grunde hat dieser die Lehre seines Lehrers vom Kopf auf die Füsse gestellt: An die Stelle des «Nichtidentischen» – in Adornos Werk war radikaler Dissens seit je die zentrale Eigenschaft von unabhängiger Intellektualität – setzte Habermas die «Kommunikation». So kam es, dass in Deutschland auf einmal das Wichtigste war, Konsens, Einigkeit, Verständnis herzustellen.

Der Schein der Versöhnung

Neben Habermas wirken Pross, Tiedemann und Haag als die «echten» Schüler Adornos. Auch insofern, als sie in einem unkonventionellen Habitus über die Gesellschaft nachdachten. Tiedemann hasste die politische Szene Deutschlands – und kümmerte sich ganz apolitisch als Herausgeber um Walter Benjamins Schriften. Haag verachtete das universitäre Milieu Frankfurts – und interpretierte als Privatier Hegel.

Beide versuchten erst gar nicht erst, mit Kollegen ins Gespräch zu kommen. Sie glaubten, dass ein kritischer Intellektueller das Gespräch höchstens stören, aber niemals suchen sollte. Für sie war Kritische Theorie demgemäss eine Praxis, welche sich mit nichts und niemandem «gemein» macht.

In ihren weniger philosophischen als vielmehr soziologischen Publikationen haben Tiedemann, Haag und Co. bis zum Ende an Adornos Negativismus festgehalten. Dass dieser auch bei jenen Institutionen radikal kritisch war, die in der westlichen Welt seit dem Zweiten Weltkrieg einen Sonderstatus geniessen, so etwa bei den Vereinten Nationen, hielten sie nicht für nicht eigenartig, sondern für selbstverständlich.

Ist eine bessere Welt nicht nur dann möglich, wenn auch und gerade das kritisiert wird, was als heilig gilt? Für die orthodoxen Adepten Adornos hat der Intellektuelle die gleiche Aufgabe wie die Kunst: «Durch unversöhnliche Absage an den Schein von Versöhnung hält sie diese fest inmitten des Unversöhnten.»

Aus der Zeit gefallen

Jörg Später kommt am Ende seines Buches auf die Frage zu sprechen, warum die Kritische Theorie ab den 1970er Jahren einen Niedergang erlebt hat. Er stützt sich bei seiner Analyse nicht zuletzt auf die Rezeption der Theorie, wobei er betont, dass jene gerade der nachrückenden Studentengeneration «zunehmend anachronistisch erschien».

Sowohl Theodor W. Adornos Denken als auch etwa sein elitärer Schreibstil wurden in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts ausgebildet. Geprägt waren sie von Marx, Nietzsche und anderen Männern einer bereits damals untergegangenen Epoche. Das wirkt in einer um Emanzipation von der Tradition bemühten Gesellschaft des späten 20. und des frühen 21. Jahrhunderts doppelt unzeitgemäss.

Das allein allerdings erklärt den Niedergang der Kritischen Theorie nicht. Merkwürdig ist, dass Später auf einen Punkt nicht aufmerksam macht, den Adorno selbst immer wieder hervorgehoben hat: Die Universität verstand und versteht sich immer mehr als Institution, die Studenten auf einen Job in der Wirtschaft, auf eine Stelle in der Verwaltung, jedenfalls auf einen Brotberuf vorbereitet. Dass in einer solchen Institution wenig Platz ist für eine Theorie, die den Kapitalismus verachtet, den Staat kritisiert und gegenüber Utopien unfreundlich ist, versteht sich eigentlich von selbst.

Adornos Erbe

So liegt auf der Hand, was man heute der Kritischen Theorie lernen könnte, was ihr eigentliches «Erbe» ist: Wenn die Universität mehr sein will als eine reine Ausbildungsstätte, muss sie sich bemühen, eine Geisteshaltung auszubilden, die sich nicht im Vermitteln blosser beruflich nutzbarer Skills erschöpft.

Adorno hat gezeigt, dass es der Universität um die Erziehung von Bürgerinnen und Bürgern gehen sollte, die zur Welt stets in einem gewissen Abstand stehen. Um die Erziehung von Menschen, die sich den gerade herrschenden Mächten weder ein- noch unterordnen, sondern gegen sie denken und über sie hinausdenken. Vor allem in Deutschland, wo die Identifikation mit der Regierung besonders stark ist, wäre dies sicher nicht falsch.

Jörg Später: Adornos Erben. Eine Geschichte aus der Bundesrepublik. Suhrkamp-Verlag, Berlin 2024. 760 S., Fr. 56.90.

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