Für viele in der SP ist Raphael Golta so gut wie gewählt. Doch es gibt auch Widerstand.
Der Auftritt ist perfekt inszeniert. Am vergangenen Montag, als Corine Mauch (SP) ihren Abschied als Stadtpräsidentin verkündet, haben die Parteistrategen an alles gedacht.
Im Cabaret Voltaire im Zürcher Niederdorf sitzen sie nebeneinander, die vier SP-Mitglieder in der Stadtregierung. Alle warten auf Mauch, die hier über ihre Zukunft informieren wird. Ihretwegen sind die Medien gekommen, ihretwegen ist das Thema in allen Newsportalen zuoberst. Doch bevor sie das Wort ergreift, redet ein anderer: Raphael Golta, seit 2014 Zürcher Sozialvorsteher.
Er sagt: «Ich will nochmals etwas Neues machen.» Das Sozialdepartement wolle er verlassen, aber in der Regierung bleiben. Dann erst verkündet Mauch ihren Rücktritt – und Golta doppelt nach: Das Amt des Stadtpräsidenten, sagt er, würde ihn «reizen».
Noch bevor die SP das Auswahlverfahren offiziell gestartet hat, steht damit schon der wahrscheinliche Nachfolger der Stadtpräsidentin bereit.
Golta, der Kronprinz. Golta, der Mann, den das Parteiestablishment als Nachfolger will. Dieser Eindruck verfestigt sich ein paar Stunden später, als sich Céline Widmer demonstrativ hinter ihn stellt. Die SP-Nationalrätin war bis vor kurzem Mitarbeiterin im Stab von Corine Mauch und wurde als deren Nachfolgerin gehandelt. Nun sagt sie, dass sie Golta den Vortritt lassen würde. Wegen seiner Verdienste.
Wenn die SP ihn aufstellt, hat Golta beste Chancen, Zürichs nächster Stadtpräsident zu werden. Und nach der Show im Cabaret Voltaire – seinem Vorpreschen, noch vor der eigentlichen Rücktrittsankündigung seiner Chefin – hat er im Rennen um die Nomination die Nase vorn.
Der Wandel des Pragmatikers
Golta, Jahrgang 1975, stammt aus dem Zürcher Seefeld. Er wächst in einem freisinnigen Elternhaus auf. Schon als 17-Jähriger tritt er der SP Zürich 7 und 8 bei, wo der heutige Stadtrat André Odermatt sein Förderer wird. Golta lässt sich für den Kantonsrat aufstellen. 2003, beim dritten Versuch, klappt es. Im Parlament steigt er bis zum Fraktionschef auf.
In jener Zeit ist Golta dafür bekannt, auch mit dem Freisinn Kompromisse zu schliessen. Als «radikalen Pragmatiker» hat er sich einmal bezeichnet. Im Kantonsrat hat er bei seinen politischen Kontrahenten einen guten Ruf: Er gilt zwar als strammer Sozialdemokrat, aber auch als sachlicher, verlässlicher Verhandlungspartner. Wobei der Umstand eine Rolle spielt, dass die Sozialdemokraten im Kanton eine Minderheitsposition haben. Ganz anders als in der Stadt.
Beruflich ist er unter anderem als Softwareentwickler tätig. Bald wird er zum Berufspolitiker. 2014 will er Stadtrat werden. Er setzt sich parteiintern mit einer Stimme Vorsprung gegen Min Li Marti durch – und schafft die Wahl in die Exekutive. Er wäre gern Finanzvorstand, aber diesen Job hat seit 2013 der Grüne Daniel Leupi inne. Also übernimmt Golta das Sozialdepartement.
Der eingemittete, unspektakuläre Politiker macht im Amt anfangs einen unauffälligen Job. Er wirkt eher wie ein Beamter als wie ein Politiker.
Doch dann wird er herausgefordert.
2018 macht sich Golta im Stadtparlament für den Einsatz von Sozialdetektiven stark – und wird dafür von Grünen und AL scharf kritisiert. Auch aus der eigenen Partei gibt es kritische Stimmen. Ein Jahr später wird er wieder von links attackiert, diesmal wegen der Asylpolitik.
Golta ist von Amtes wegen Vizepräsident der Asylorganisation Zürich, die verantwortlich ist für die Betreuung im Bundesasylzentrum in Zürich-West. Er hatte sich für den Bau des Zentrums eingesetzt. Kurz nach der Eröffnung im Herbst 2019 kritisieren Linke, die Geflüchteten würden schlecht behandelt.
Golta ist im Clinch: Er stimmt ein in die Kritik und sieht die Schuld beim Bund, konkret beim Staatssekretariat für Migration. Doch er ist und bleibt mitverantwortlich für die Zustände vor Ort. Wieder steht er von links unter Druck.
Golta übersteht den Sturm. Doch er ändert danach seine Taktik.
Zwei Jahre später, im Frühling 2021, steht Golta wieder im Zentrum der Aufmerksamkeit. Er verteilt Geld an Sans-Papiers und andere Ausländer ohne Aufenthaltsrecht, die keine Sozialhilfe in Anspruch nehmen können oder wollen. Das Programm läuft unter dem Titel Basishilfe. Golta selbst sagt, die Pandemie habe aufgezeigt, wie viele Bedürftige es in der Stadt gebe.
Die Gerichte kassieren die Basishilfe später. Ein erneuter Anlauf aus dem Stadtparlament wird vom Bezirksrat im Herbst 2024 ebenfalls für unvereinbar mit kantonalem und eidgenössischem Recht taxiert, das Verfahren ist noch hängig.
Golta bleibt aktiv. Als sich zum Beispiel die kantonale Stimmbevölkerung 2024 gegen Stipendien für vorläufig aufgenommene Ausländer stellt, führt er das Konzept kurzerhand in der Stadt ein. Golta hat die Heizkostenzulage erfunden, die an Tausende von Haushalten ausbezahlt wird. Er will grosszügige Zuschüsse an ÖV-Abos für 80 000 Stadtbewohner. Er steht damit für eine sehr kostspielige Sozialpolitik – nicht nur für die Ärmsten, sondern explizit auch für den Mittelstand.
Auch in die Sozialpolitik der kantonalen SP mischt er sich oft und gerne ein, wie aus der Partei zu hören ist. Werde ein neuer Vorstoss eingereicht, rufe Golta oft sogleich an.
Wahlkampf als Klassenkampf
Goltas Strategie funktioniert so: Er versucht, in seiner Gemeinde jene Politik umzusetzen, die sich die linke Basis wünscht – die aber kantonal und national keine Mehrheiten findet. Dabei reizt er immer wieder die Grenzen aus, die das übergeordnete Gesetz vorschreibt – oder er überschreitet sie gleich. Er selbst sagt dazu stets, er versuche nur, Probleme zu lösen. Um Profilierung gehe es ihm nicht.
Und doch ist es genau sein forsches Auftreten in Sozialfragen, das ihm bei seinen Genossinnen und Genossen am meisten Lob einbringt. Er mache «die vermutlich aufregendste Sozialpolitik der Schweiz», schrieb die «Wochenzeitung» («WoZ») einmal. Schlagzeilen, wie sie sich ein sozialdemokratischer Politiker nur wünschen kann.
Vom «radikalen Pragmatiker» ist nicht mehr die Rede.
Die kantonale SP-Fraktionspräsidentin Sibylle Marti sagt: «Er hätte als Sozialvorsteher eine ruhige Kugel schieben können, das hat er aber nicht getan.» Von Gerichten zurückgepfiffen werde nur, «wer etwas gewagt hat».
Sie findet, Golta verkörpere perfekt «eine linke Politik für all die Zürcherinnen und Zürcher, die sich keinen Flat White für sieben Franken leisten können».
Es ist ein Vorgeschmack auf den städtischen Wahlkampf, bei dem sich auch Marti eine Kandidatur als Stadträtin überlegt. Kaufkraft, Miete, Armut: Im ganzen Land versucht die SP, vermehrt auf Sozial- und Wirtschaftsthemen zu setzen, statt sich in Kulturkämpfe zu verstricken. Mit Golta könnte sie das auch in der Stadt Zürich tun, wo sie seit einiger Zeit eher als Partei des gebildeten Mittelstands auftritt. Auch deshalb, so hört man aus der Partei, wollten sich viele nicht gegen ihn als Stadtpräsidenten stellen.
Gegen jemanden wie Golta anzutreten – das werde schwierig, sagt hinter vorgehaltener Hand SP-Politikerin um SP-Politiker. Wegen seiner Erfahrung und weil er sich als angriffiger Sozialvorsteher gut profiliert habe. Wolle er Stadtpräsident werden, führe kein Weg an ihm vorbei.
Doch es gibt auch Gegenstimmen. Sie glaube nicht, dass das Rennen schon gelaufen sei, sagt Gabriela Rothenfluh, Präsidentin des Schulkreises Waidberg und frühere Stadtparteipräsidentin. «Die Vorstellung, dass es einen ‹Kronprinzen› für das Stadtpräsidium gibt, ist absurd.»
Mauch selbst habe sich schliesslich in einem Interview mit den Tamedia-Zeitungen für eine Frauenkandidatur ausgesprochen. «Es würde mich erstaunen, wenn die SP als Gleichstellungspartei darüber nicht zumindest diskutieren würde», sagt Rothenfluh. Sie selbst erwägt sowohl eine Kandidatur für den Stadtrat als auch für das Präsidium.
Ebenfalls für eine Frauenkandidatur für das Stadtpräsidium haben sich die Spitzen von Grünen und AL ausgesprochen, die linken Verbündeten der SP in der Stadt.
Eine Warnung aus der Vergangenheit
Von der NZZ auf die Frauenfrage angesprochen, sagt Golta, er wolle sich nicht zu anderen Kandidaturen äussern. «Wenn ich antrete, dann als Raphael Golta und nicht in Abgrenzung zu anderen.» Er betont, dass Mauch im selben Interview, in dem sie sich eine Frau als Nachfolgerin gewünscht habe, auch seine Kandidatur begrüsst habe.
Zu deren Stand sagt Golta dasselbe wie schon am Montag im Cabaret Voltaire: Ja, es würde ihn reizen. Nein, sicher sei noch nichts. Das Amt sei reizvoll, aber er müsse noch Gespräche in seinem Umfeld führen.
So viel verrät er aber dann doch: Er habe sich nie als Politiker verstanden, der sich nur um ein Dossier kümmere. «Mich hat neben dem Sozialen immer auch anderes interessiert. Ich bin im Herzen ein Generalist», sagt er. Und gibt sich damit schon verdächtig präsidial.
Neben der Frauenfrage könnte auch Goltas persönlicher Stil noch zu reden geben. Er ist kein Charismatiker im Stil einer Jacqueline Badran und gilt nicht als einer, der am liebsten das Bad in der Menge sucht. Und: Er kann dünnhäutig sein. Laufe eine Diskussion, etwa in einer Parlamentskommission, nicht in seinem Sinn, könne er genervt bis trotzig reagieren, hört man aus Politikerkreisen.
Zur Kritik an seinem zuweilen aufbrausenden Stil meint Golta: «Ich brauche auch einmal deutliche Worte, wenn mir etwas wichtig ist.» Er betreibe Politik aus Leidenschaft, da trete man ab und an jemandem auf den Schlips. «Ich bemühe mich aber immer um konstruktive Lösungen.»
Golta ist selbst bei politischen Gegnern wohlgelitten. Interessant ist etwa die Einschätzung, die sein grösster Kontrahent über ihn abgibt. Alexander Brunner, früher Stadtparlamentarier der FDP, war 2021 mit seiner Aufsichtsbeschwerde gegen die Basishilfe erfolgreich. Er hat Golta auch schon als «Provinzialfürsten» bezeichnet.
Trotzdem beschreibt Brunner Golta gegenüber der NZZ als «realitätsnah und kompromissbereit». Im rot-grün dominierten Zürcher Stadtrat gebe es ideologische Klassenkämpfer, Golta sei jedoch keiner.
In der SP folgt nun die offizielle parteiinterne Ausmarchung. Bis am 20. April können sich Kandidierende für Stadtregierung und Präsidium melden. Golta ist, so er den Andeutungen auch eine Kandidatur folgen lässt, dabei in einer guten Position. Und doch: Sicher kann er sich nicht sein. Zum Beispiel sehen sich Migranten im Stadtrat überhaupt nicht repräsentiert. Geräuschlos wird Golta nicht ins Amt gleiten.
Vor vier Jahren, bei der damaligen Stadtratswahl, galt die SP-Nationalrätin Min Li Marti ebenfalls als chancenreichste Kandidatin – als die, hinter der Parteigranden standen. Doch sie unterlag der damaligen Gemeinderätin Simone Brander, die dann problemlos in die Regierung gewählt wurde. Eine etablierte, kompromissorientierte Politikerin verlor gegen eine mit dezidiert linken Positionen und Juso-Vergangenheit.
Dieses Beispiel dürfte Golta eine Warnung sein.