Donnerstag, Oktober 3

Richard Carlyle, Equity Investment Director des amerikanischen Fondsriesen Capital Group, über die Gewinner und Verlierer unter den «Magnificent Seven» sowie die Vorzüge europäischer und japanischer Aktien.

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«Wir sehen in vielen Ländern eine Zunahme der konjunkturellen Dynamik, die Analysten erhöhen ihre Gewinnprognosen, und gleichzeitig stehen in diversen Volkswirtschaften Zinssenkungen an. Das ist eine gute Mischung für die Aktienmärkte», sagt Richard Carlyle.

Der Aktien-Anlagechef des kalifornischen Fondsriesen Capital Group spricht im Interview über die Gewinner und Verlierer des Modethemas künstliche Intelligenz und sagt, weshalb er für Unternehmen wie Microsoft, TSMC, Novo Nordisk oder ASML weiterhin eine grosse Zukunft sieht.

Herr Carlyle, die Aktienmärkte haben ein starkes erstes Quartal 2024 verzeichnet. Seit April herrscht Konsolidierung. Wie schätzen Sie die Lage an den Börsen ein?

In den vergangenen zwei Jahren herrschte unter Anlegern zu verschiedenen Zeitpunkten ein Konsens darüber, dass es die Zentralbanken, allen voran das Fed, nicht schaffen würden, die Inflation zu senken, ohne die Wirtschaft in eine Rezession zu stürzen. Doch dazu ist es nicht gekommen. Mittlerweile geht der Konsens davon aus, dass es dem Fed gelungen ist, die Inflation in einem holprigen Trend zu senken, ohne eine Rezession auszulösen. Deutschland und Grossbritannien durchleben zwar eine leichte Rezession, aber die wichtigste Erkenntnis ist, dass dieser Zinserhöhungszyklus nicht zu einem schweren Konjunktureinbruch geführt hat, wie es von vielen Investoren befürchtet worden war. Das Wachstum blieb überraschend robust. Heute stellen wir fest, dass die Gewinnschätzungen der Analysten in praktisch allen Sektoren steigen. Das ist ein grosser Unterschied zur Situation vor zwölf Monaten.

Hat das Fed also eine perfekte sanfte Landung geschafft?

Ich denke, wir können uns darauf einigen, dass der derzeitige Konsens darin besteht, dass eine Rezession vermieden wird. Natürlich können aber noch viele Dinge eintreten, die diesen Konsens erschüttern könnten. Denken Sie an eine geopolitische Krise, die den Ölpreis in die Höhe schiessen lässt, was die Inflation wieder anheizen könnte. Die Arbeitsmärkte, besonders in den USA, sind immer noch sehr angespannt. Und da der Konsens derzeit darin besteht, dass es keine Rezession geben wird, würden die Märkte, falls es doch zu einer solchen kommen sollte, wahrscheinlich erheblich korrigieren. Aber im Moment herrscht die Meinung vor, dass in den nächsten ein, zwei Jahren die Luft rein ist.

2023 war es vor allem die US-Wirtschaft, die positiv überraschte. Mittlerweile zeigen die Konjunkturindikatoren nahezu weltweit nach oben. Haben wir es mit einer globalen Erholung zu tun?

Ja, das kann man so sagen. Die USA sind stark, Indien ist stark. Viele Volkswirtschaften verspüren Aufwind. China ist eine Ausnahme, mit einigen hausgemachten Problemen. Insgesamt sehen wir in vielen Ländern eine Zunahme der konjunkturellen Dynamik, und gleichzeitig stehen in diversen Volkswirtschaften Zinssenkungen an. Sie haben also eine wachsende Wirtschaftsdynamik, steigende Gewinnprognosen sowie die Aussicht auf baldige Zinssenkungen. Hinzu kommt irgendwann in der Zukunft ein grosses, aber noch unscharfes Konzept rund um das Thema künstliche Intelligenz, das die Produktivität und damit die potenziellen Wachstumsraten steigern könnte. Alles in allem ist das eine gute Mischung für Anleger.

Im vergangenen Jahr waren es vor allem die «Magnificent Seven», die die Aktienmärkte antrieben. Seit einigen Monaten fallen auch Sektoren wie Industrie, Finanzen oder Energie mit Avancen auf. Ist die Zeit der Mag-7 vorbei?

Einige der Mag-7 haben phänomenale Geschäftsmodelle. Eine wachsende Zahl von Branchen ist so beschaffen, dass die Nummer eins den gesamten Wert abschöpft. Denken Sie an Beispiele wie Amazon. Das Unternehmen verfügt über ein nahezu globales Vertriebssystem, mit dem die meisten Menschen auf der Welt innerhalb von einem bis zwei Tagen beliefert werden können. Ein Kopf-an-Kopf-Rennen mit Amazon ist für Konkurrenten nahezu unmöglich. Oder Microsoft: Gibt es jemanden, der Microsoft nicht nutzt? Der Konzern hat einen nahezu gefangenen Kundenstamm. Wenn Microsoft einen KI-Zusatz für, sagen wir, 30 $ im Monat anbieten und ihre Kunden einen Nutzen daraus ziehen können, ist das eine enorme Chance für Microsoft. Einzelne Vertreter der Gruppe der Mag-7 sind nahezu unschlagbar. Aber nicht alle von ihnen. Die Dynamik, die ich für Microsoft beschrieben habe, trifft für die Automobilbranche möglicherweise nicht zu. Tesla ist mit deutlich mehr Konkurrenz konfrontiert. Vielleicht gilt das Gleiche für das Streaming-Geschäft.

Der Markt ist also dabei, innerhalb der Mag-7 die Gewinner herauszufiltern?

Ja. Nehmen Sie als Beispiel die beiden Ausreisser in der Gruppe der Mag-7 seit Anfang Jahr. Tesla ist um knapp 30% gefallen. Der Markt sieht wahrscheinlich die Gefahr eines Preiskriegs, die wachsenden Produktionsvolumen des chinesischen Konkurrenten BYD sowie eine Abschwächung der Nachfrage nach Elektrofahrzeugen. Am anderen Ende des Spektrums ist Nvidia der beste Performer mit einer Avance von 70%. Der Chipdesigner schafft es Quartal für Quartal, die bereits enorm hohen Prognosen zu übertreffen.

Nvidia wird von den Märkten als klarer Gewinner der KI-Welle identifiziert. Wenn wir eine längerfristige Perspektive einnehmen: Welche anderen Branchen sehen Sie, die vom Thema KI profitieren werden?

Rund um das Thema KI herrscht momentan ein Hype, doch in Wirklichkeit ist das Verständnis und der Einsatz von KI im Allgemeinen noch gering. Zweifellos werden die Verbreitung und die Auswirkungen von KI in der gesamten Wirtschaft zu spüren sein, aber das wird sich über Jahre, sogar Jahrzehnte, auswirken. Das ist kein Thema für ein paar Monate. Momentan liegen die vielversprechendsten Investitionen bei den Unternehmen, die die Chips für die Rechenleistung sowie die Infrastruktur für Rechenzentren bereitstellen. Längerfristig spannend sind aus unserer Sicht aber primär Unternehmen, die über grosse, proprietäre Datensätze verfügen, die zum Trainieren umfangreicher KI-Modelle verwendet werden können.

Zum Beispiel?

Wir sehen grosse Chancen in der Gesundheitsbranche. Dort wird der Einsatz von KI den Prozess der Forschung und Entwicklung neuer Präparate beschleunigen, zu Verbesserungen in der Diagnostik sowie zu Fortschritten in der Entwicklung massgeschneiderter Medikamente führen. Pharmaunternehmen verfügen über riesige Mengen an geschützten, personenbezogenen Daten, die zum Trainieren von KI-Modellen verwendet werden könnten.

Eines der europäischen Pendants zu den Mag-7 ist der niederländische Halbleiterausrüster ASML. Er ist eine der grössten Positionen in mehreren Fonds von Capital Group. Was gefällt Ihnen an ASML?

Wir sind seit Jahrzehnten bedeutende Investoren in ASML. Die Argumentation ist einfach: Der Marktanteil von ASML bei EUV-Lithografieanlagen ist laufend gewachsen. Niemand kann die Lithografieanforderungen für die Produktion von 2-Nanometer-Chips so gut erfüllen wie ASML. In früheren Jahren konkurrierten Unternehmen wie Nikon, Canon oder Sony mit den Niederländern, aber sie wurden abgehängt. Angesichts des wahrscheinlichen langfristigen Wachstums der Chipnachfrage ist das eine hervorragende Position für ASML. Niemand sonst kann die Maschinen herstellen, ASML hat einen dominanten Marktanteil, und jeder will ihre Maschinen. ASML ist eine der attraktivsten Anlagen überhaupt. Deshalb ist das Unternehmen in vielen unserer Fonds unter den Top Ten zu finden. Natürlich besteht immer ein technologisches Risiko, die Vorstellung, dass jemand eine völlig andere Technologie erfinden könnte, aber das gilt schon seit Jahrzehnten.

Trifft diese Argumentation auch auf Nvidia zu?

Der Fall Nvidia sieht etwas anders aus. Die von Nvidia entwickelten Chips sind zwar perfekt für grosse Sprachmodelle. Aber alle Chips von Nvidia werden von TSMC mit Hilfe von ASML-Technologie hergestellt. Wird Nvidia in drei oder vier Jahren immer noch eine so starke Position einnehmen? Wir wissen es nicht. Wir sind ziemlich sicher, dass es für ASML der Fall sein wird, ebenso für TSMC – China und die Geopolitik ausgenommen. Aber die Position von Nvidia ist ungewisser. Wenn man sich die Kunden von Nvidia wie Alphabet, Microsoft oder Meta Platforms anschaut, werden sie angesichts ihrer enormen Grösse wahrscheinlich einen Teil ihrer Investitionen umleiten, um eigene Chips zu entwickeln. Bei Nvidia sehen wir nicht die Art von langfristiger Sicherheit, die wir bei ASML oder TSMC sehen.

Angesichts seiner starken Position im Tech-Bereich glänzte der US-Aktienmarkt jahrelang mit der besten Performance. Für viele Investoren galt Europa als hoffnungsloser Fall. Was ist Ihre Meinung zu den europäischen Börsen?

Wenn man in unseren globalen Portfolios die Gewichtung von US-amerikanischen und europäischen Unternehmen im Vergleich zum Index anschaut, hat die Mehrheit unserer Portfolios eine relative Untergewichtung in den USA und eine Übergewichtung in Europa. In Sektoren, in denen wir in ein US-Unternehmen investieren wollen, das keine europäischen oder asiatischen Konkurrenten hat, etwa Microsoft oder Amazon, kaufen wir das US-Unternehmen. In Branchen wie Energie oder Gesundheit kaufen unsere Manager auf einer Bottom-up-Basis aber oft die europäischen oder asiatischen Unternehmen, unter anderem deshalb, weil sie günstiger bewertet sind.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Angesichts des Erfolgs mit Medikamenten gegen Fettleibigkeit ist Novo Nordisk derzeit der Liebling aller Investoren in Europa. Wir halten Novo jedoch seit Jahren, und wir sind immer noch der Meinung, dass sich das Unternehmen erst am Beginn einer langen Erfolgsgeschichte befindet. Novo verfügte bereits über ein hochwertiges Arzneimittelportfolio, bevor das Thema Fettleibigkeit aufkam. Der Konzern hat noch viele Jahre mit attraktivem Umsatzwachstum vor sich.

Welche anderen Namen gefallen Ihnen im Gesundheitssektor?

Wir haben eine globale Strategie namens Capital Group New Perspective. In den 51 Jahren ihres Bestehens ist ihr Gewicht im Gesundheitssektor heute höher als je zuvor. Unsere Analysten gehen davon aus, dass die Produktivität der Forschung und Entwicklung in der Pharmabranche, teilweise unterstützt durch den Einsatz von KI, stetig steigt. F&E wird in Zukunft einen grösseren Nutzen bringen, und wir werden Fortschritte in bisher unbehandelten Bereichen sehen – die Bemühungen von Eli Lilly, das Fortschreiten von Alzheimer aufzuhalten, sind ein Beispiel dafür. Deshalb gefällt uns der gesamte Sektor.

Sie haben erwähnt, dass europäische Unternehmen in einigen Sektoren im Vergleich zu US-Konkurrenten günstiger bewertet sind. TotalEnergies taucht in mehreren Capital-Fonds unter den grössten Positionen auf. Bietet Total im Vergleich zu Exxon die besseren Perspektiven?

Ja. Eine der Nuancen im Energiesektor ist der Umfang des Kapitals, das in erneuerbare Energien investiert wird. Exxon in den USA macht fast gar nichts in diesem Bereich, während Total deutlich mehr investiert. Natürlich sind diese Investitionen mit Unwägbarkeiten verbunden, aber Total bietet eine attraktive Bewertung im Vergleich zu amerikanischen Energiekonzernen, und ihre Investitionen in erneuerbare Energien bieten die Option, in Zukunft respektable Renditen abzuwerfen.

Was haben Ihre Fondsmanager in letzter Zeit gekauft?

Im Allgemeinen ist unser Engagement in hoch bewerteten Technologieaktien im Lauf der Zeit geschrumpft. Wir haben Caterpillar in einen Fonds aufgenommen, weil wir davon ausgehen, dass in Zukunft in grossem Ausmass Infrastruktur gebaut werden muss, und mehr Bauarbeiten bedeuten mehr Nachfrage nach Caterpillar-Maschinen. Zudem haben wir einige interessante Hersteller von Klimaanlagen gekauft. Einige Manager haben Energieaktien aufgestockt.

Wie sehen Sie den Finanzsektor?

Wir haben in unseren Fonds praktisch immer ein Untergewicht in Banken. JPMorgan sticht als grösste Bankbeteiligung hervor. Wir mögen einige Banken in Europa, zum Beispiel UBS nach der Übernahme der Credit Suisse, sowie einige italienische Banken. Unsere Schwellenländer-Fondsmanager setzen auf gut geführte indische Banken mit soliden Bilanzen und attraktiven Gewinnmargen. Aber im Allgemeinen bevorzugen wir im Finanzsektor eher Versicherer oder Börsenbetreiber. In Asien sind Lebensversicherer spannend, weil eine zunehmend wohlhabende Bevölkerung mehr Lebensversicherungen und Sparanlagen kaufen möchte.

Capital Group ist über verschiedene Fonds seit Jahren eine Aktionärin von Nestlé. Der Nahrungsmittelmulti enttäuscht derzeit an den Börsen. Was ist Ihre Einschätzung zu Nestlé?

Wir haben Nestlé zum ersten Mal vor 36 Jahren im Rahmen unserer New-Perspective-Strategie gekauft, und seither ist das Unternehmen ständig im Portfolio vertreten. Nestlé verfügt über ein beeindruckendes Markenportfolio, und wir haben langfristig weiterhin eine positive Einschätzung zu den Perspektiven von Nestlé. Unsere Portfoliomanager fühlen sich mit Nestlé recht wohl, da sie wissen, dass die Titel ihnen gewisse defensive Eigenschaften bieten.

Einer der Stars des vergangenen Jahres war Japan. Ein Teil der Performance ist auf den schwächeren Yen zurückzuführen, aber alles in allem hat Japan viele Fans gewonnen. Was halten Sie von Japan?

Ich freue mich, dass der japanische Aktienmarkt nach mehr als dreissig Jahren einen neuen Höchststand erreicht hat. Japan dient uns als Beispiel dafür, wie schmerzhaft hartnäckige Deflation für eine Volkswirtschaft sein kann. Das sollte man bedenken, wenn man die Politik der westlichen Zentralbanken nach der globalen Finanzkrise von 2008 kritisiert. Ja, die Politik der quantitativen Lockerung war unkonventionell, und ja, sie hatte Nebenwirkungen, aber vielleicht war das immer noch besser, als das Risiko einer hartnäckigen, festgesetzten Deflation zuzulassen. Heute scheinen es die Behörden in Japan endlich geschafft zu haben, die Deflation zu besiegen. Zudem wird die Corporate Governance deutlich verbessert. Der Aktienmarkt hat begonnen, dies zu honorieren. Die Bewertungen in Japan sind noch nicht übertrieben. Unzählige Unternehmen verfügen über Nettobarmittel in ihrer Bilanz, sie haben Spielraum für Übernahmen, Aktienrückkäufe und Dividendenerhöhungen.

Welche Unternehmen kaufen Sie?

In einigen Unternehmen wie Keyence oder SMC sind wir seit Jahren investiert. Sie sind in ihren Nischen Marktführer, mit grossartigen Produkten und hohen Gewinnmargen. Weil die japanischen Unternehmen ihren Arbeitern die Löhne erhöhen, werden die inländischen Konsumausgaben steigen. Deshalb wollen wir mehr Unternehmen mit einer stärkeren Ausrichtung auf die inländische Konjunktur in unseren Portfolios aufbauen.

Richard Carlyle

Richard Carlyle ist Equity Investment Director und Portfoliomanager bei Capital Group. Er verfügt über 42 Jahre Erfahrung in der Investmentbranche und ist seit 18 Jahren bei Capital Group tätig. Davor war er Head of Equities bei Henderson Investors.

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