Sonntag, Februar 23

Was im Westen als Fälschung ist, gilt in China als Nachschöpfung. Die Chinesen pflegen ein unverkrampftes Verhältnis zum Kopieren von Kunstwerken und Markenartikeln. Die in Handarbeit gefertigten Kopien sind so überzeugend und so preiswert, dass Kunden aus aller Welt bestellen.

In einem Labyrinth aus Strassen und engen Gassen reiht sich Laden an Laden, von oben bis unten vollgestopft mit Ölgemälden. Picassos «Dora Maar» lehnt halb über Rembrandts Selbstporträt und Leonardo da Vincis «Mona Lisa», daneben hängen Bildnisse von Mao Zedong, George W. Bush senior, Deng Xiaoping und Donald Trump, dazwischen Pandas, knallbunte Sonnenaufgänge, Spider-Man, van Goghs Sonnenblumen und dann wieder Vermeers «Mädchen mit dem Perlenohrring».

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Der Mix ist abenteuerlich. Auf bunten Plastikstühlen sitzen die Maler beengt im wenigen verbleibenden Raum und arbeiten an ihren Bildern. Wir befinden uns in China, im Nordosten Shenzhens im Longgang-Bezirk, genauer gesagt im Dafen Oil Painting Village.

Die Bezeichnung Village, also Dorf, ist etwas irreführend, denn Dafen ist bestens an die Metropole Shenzhen angebunden. Der Stadtteil gilt als die grösste Kunstindustrie der Welt. Hier sind zwischen 5000 und 10 000 Maler aus ganz China angesiedelt, die Zahl variiert ständig. In den letzten Jahren haben sich auch Rahmenmacher und Händler von Künstlerbedarf niedergelassen. Doch den Kern machen die Malerinnen und Maler aus, die hier Kopien von westlichen Meisterwerken im Akkord schaffen.

Die offizielle Regel schreibt vor, dass nur Werke kopiert werden, deren Urheber seit über fünfzig Jahren tot sind. Wegen des Copyrights. Doch wenn Kunden ein Werk von einem noch lebenden Künstler in Auftrag geben, dann kann man wohl davon ausgehen, dass geliefert wird.

«Wir kopieren nicht nur jedes Detail eines Bildes, sondern fangen auch seine Seele ein», lautet der Slogan. Die in Handarbeit mit Ölfarben gefertigten Kopien sind so überzeugend und so preiswert, dass Kunden aus aller Welt hier bestellen. Grosse Möbelhäuser, Supermärkte, Kunstgalerien, Hotels, Kongresszentren, Grosshändler, Souvenirshops aus Amerika und Europa, vor allem aus den Niederlanden und Deutschland, sind regelmässige Abnehmer der Dafen-Kunstreproduktionen.

Die am häufigsten kopierten Künstler sind wohl van Gogh, Picasso und Monet. Laut Schätzungen stammten Mitte der 2000er Jahre, auf dem Höhepunkt der Dafen-Kunstproduktion, etwa 60 Prozent der weltweit verkauften Ölgemälde aus Dafen. 2015 soll der Jahresumsatz rund 65 Millionen Dollar betragen haben.

Maler malen nonstop

Doch die Margen der Händler sind hoch. Die Zahlen täuschen darüber hinweg, wie wenig Geld bei den Malern vor Ort ankommt. Sie hausen hier in höchst prekären Verhältnissen und verdienen durchschnittlich 2 Euro 50 pro Bild, also nur einen winzigen Bruchteil des Verkaufspreises im Ausland. Wenn wieder einmal eine Grossbestellung eingeht, also beispielsweise 6000 Sonnenblumenbilder von van Gogh, die innerhalb von zwanzig Tagen für die Lieferung nach Amsterdam fertig sein müssen, arbeiten die Maler nonstop rund um die Uhr.

Sie schlafen, malen und essen zu neunt im selben Raum. Die fertigen Bilder hängen zu Hunderten eng nebeneinander zum Trocknen von der Decke. Die Luft ist geschwängert vom Geruch der Ölfarben, gemischt mit Schweiss, Zigarettenrauch, Essensdüften und anderen undefinierbaren Gerüchen. Die neun Maler im Raum teilen sich die Bildabschnitte der Sonnenblumen in einem ausgeklügelten Prozess auf: Der eine fertigt nur den Hintergrund, ein anderer die Vase, wieder einer nur die Blüten, ein anderer die Blätter und so weiter.

Es gleicht einer Produktionsstrasse in einer Fabrik. Auf diese Weise stellen neun Maler an einem Tag 300 handgemalte Kopien her. Das fertige Bild landet am Ende in den unzähligen Souvenirshops rund um das Amsterdamer Van-Gogh-Museum und wird dort je nach Grösse und Rahmung für 30 bis 200 Euro über den Ladentisch gehen.

Diese effektive Fliessbandarbeit hat sich der Gründer des Dafen Village ausgedacht: Huang Jiang. 1989 war Shenzhen eine Kleinstadt im Süden Chinas am Perlflussdelta, knappe zwei Stunden Zugfahrt von der florierenden Metropole Hongkong entfernt. Die Mieten und das Leben waren hier bezahlbar. Der Unternehmer und Kunstmaler Huang Jiang zog von Hongkong nach Shenzhen, um hier sein Glück zu versuchen. Er siedelte sich mit ungefähr zwanzig anderen Malern in Dafen an. Sie kopierten die grossen westlichen Meister als Fingerübung.

China hatte sich erst einige Jahre zuvor überhaupt für westliche Kunst und Literatur geöffnet. Die chinesischen Künstler sogen alles begierig auf, experimentierten und kopierten alle Kunstrichtungen vom Impressionismus über den Kubismus und den Dadaismus bis zum Readymade. Mehr aus Jux und einem Impuls heraus schickte Huang Jiang einige Kopien zur Walmart-Geschäftsstelle in Amerika und fragte an, ob sie interessiert seien.

Was er nicht erwartete: Zurück kam eine Bestellung von über 50 000 Gemälden, die er binnen vierzig Tagen produzieren und liefern sollte. Um diese Aufgabe zu bewältigen, spannte er alle seine zwanzig Malerkollegen in Dafen ein und erfand den oben erwähnten Akkord-Prozess. Sie schafften das Pensum. Das war der Beginn des Oil Painting Village Dafen.

Westlicher Originalkult

In China herrscht ein grundlegend anderes Verständnis von Kopie und Original. Seit je war dort das wiederholte Kopieren grosser Meisterwerke gängige Praxis in der klassischen Kunstausbildung. Der europäische Kult um die Einzigartigkeit des Originals, wonach es als rein und unveränderlich gilt und im Umkehrschluss jede Kopie minderwertig und verachtenswert sein muss, ist China fremd. Nach der fernöstlichen Philosophie ist Schöpfung kein singulärer Akt, sondern ein Prozess, der einer permanenten Transformation unterliegt.

Der Unterschied zwischen den Denkweisen zeigt sich bereits deutlich in der Sprache. Auf Chinesisch heisst Original «zhenji» (真跡), wörtlich übersetzt die «authentische Spur». Dem Begriff der Spur, die etwas hinterlässt, sind ein Prozess und ein Wandel inhärent. Jedes Original ist stetigen Veränderungen unterworfen. Die Zeit nagt daran, je älter, desto blasser werden die Farben, der Bildträger wird brüchig.

Nicht nur das: Je berühmter das Bild ist, desto mehr wird es aktiv verändert. Chinesische Sammler der klassischen Rollbilder lieben es, Gedichte oder Kommentare auf die Original-Bildrolle zu schreiben und daneben ihr rotes Namenssiegel zu hinterlassen. Wie der Berliner Philosoph Byung-Chul Han eindrucksvoll darlegt, markieren sie auf den Bildern ihre Spur. Auf berühmten Meisterwerken finden sich mitunter fünf verschiedene Kalligrafien aus unterschiedlichen Zeitepochen. Man stelle sich vor, die jeweiligen Besitzer von Cézannes «Die Kartenspieler» hätten über die Jahrhunderte ihre Kommentare und Gedanken auf die Vorderseite des Bildes gekritzelt – undenkbar in Europa!

Für die westliche Idee der Kopie gibt es in China wiederum zwei unterschiedliche Begriffe. Fangzhipin (仿製品) sind offensichtliche Reproduktionen, die als solche erkennbar sein sollen. Kleinere Ausführungen der Terrakotta-Krieger oder der Nofretete-Büste beispielsweise fallen unter diese Kategorie. Sie sind oft auch vom Material und von der Farbigkeit her minderwertiger als das Original. Fuzhipin (複製品) hingegen sind perfekte Kopien, die kaum vom Original zu unterscheiden sind.

Die mannshohen Terrakotta-Krieger etwa, die dem Original in Grösse und Qualität ebenbürtig sind, sind Fuzhipin. Für die Chinesen sind sie gleichwertig mit dem Original. Sie haben keine Probleme damit, in den Museen Fuzhipin auszustellen, um die älteren Originale zu schützen.

Kopieren als Subversion

In welche dieser Kategorien gehören nun die kopierten van Goghs und Vermeers aus Dafen? Sicherlich können sie nicht das Original im Museum ersetzen, das ist klar. Sie sind aber auch nicht nur billige Nachdrucke. Die handgemalten kopierten Ölgemälde stehen in der Tradition einer Fälschungsindustrie, die um die Jahrtausendwende in der Region Shenzhen entstanden ist und die einen eigenen neuen Namen hat: Shanzhai.

Rund um die Stadt Shenzhen wurden in kleinen Bergdörfern zahlreiche Fälschungen berühmter Markenartikel hergestellt. Angefangen hatte alles mit den Fälschungen von Handys. Aus Nokia wurde Nokir, aus Samsung Samsing. Daraus wurde eine regelrechte Shanzhai-Kultur. Mit Shanzhai sind offensichtliche Imitationen gemeint, die ein bisschen subversiv, ein bisschen parodierend sind.

Das Wort «shanzhai» (山寨) bedeutet ursprünglich «Bergfestung» und verweist auf einen Klassiker in der chinesischen Literatur aus dem 14. Jahrhundert. «Die Räuber vom Liang-Schan-Moor» erzählt von Rebellen, die sich gegen eine inkompetente Regierung und korrupte Beamte auflehnen. In einem Bergdorf finden sie Zuflucht. Wie Robin Hood rauben sie Reiche aus, um die Armen zu unterstützen.

Die Shanzhai-Produkte suggerieren nichts anderes: Sie kopieren teure Markenmodelle und machen sie für die breite Allgemeinheit bezahlbar. Wer sie kauft, macht nicht nur ein Schnäppchen, sondern lehnt sich auch gegen die mächtigen Markenkonzerne auf und letztlich auch gegen die eigene autoritäre Regierung.

Dieser Heroismus ist natürlich nur die romantische Seite des immensen Problems der Industriespionage und der Produktpiraterie. Beides schädigt sowohl die internationale Wirtschaft als auch das Vertrauen in China als glaubwürdigen Geschäftspartner. Unter Markenherstellern sind die Shanzhai-Produkte gefürchtet und gehasst. Doch es gibt auch internationale Designer, die die neuen, optimierten Fälschungen als kreativ und innovativ feiern.

Das Dafen Village hat die Corona-Pandemie überlebt, auch wenn seitdem die Bestellungen aus dem Ausland zurückgegangen sind. Die Maler bieten nun auch Mal-Workshops an und arbeiten vermehrt für chinesische Kunden. Gefragt sind Mao-Porträts, Berglandschaften, Stillleben von Früchten und Blumen.

Der Dafen-Gründer Huang Jiang ist heute über 80 Jahre alt. Er lebt immer noch in Dafen, doch er produziert längst nicht mehr selbst. Er ist nun Agent für andere Maler. Das grosse Geld sei hier mit den Kopien nicht mehr zu holen, sagt er in einem Interview. Er träumt davon, die «Malarbeiter», wie sich die Maler hier selbst nennen, zu echten Künstlern zu machen, die eigene Werke herstellen: originale Bilder.

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