Sonntag, November 24

Sie gilt als die berühmteste Performancekünstlerin der Welt. In dieser Kunstform hat sie ihren genuin eigenen Ausdruck gefunden. Und für ihre Kunst die Grenzen des Bewusstseins ausgelotet.

Wann immer Marina Abramovic gefragt wird, was sie so mache im Leben, gibt sie gerne zur Antwort, sie sei Krankenschwester. Das ist einfacher, als zu erklären, sie schneide sich in den eigenen Bauch, hantiere mit geladenen Pistolen oder lege sich nackt auf Eis. Und es trifft die Sache auch überaus gut. Denn nicht viel anders als eine Krankenschwester fühlt Marina Abramovic ihren Patienten – dem Kunstpublikum – den Puls: Sie tastet nach einer schmerzenden Stelle oder verarztet eine schwärende Wunde.

Marina Abramovic arbeitet auf Basis des Schmerzes. «Menschen fürchten sich vor sehr elementaren Dingen wie Leiden und Sterblichkeit», sagt sie. Und diese Ängste nimmt die serbische Künstlerin gerne auf sich. In ihren Performances durchlebt sie den Schmerz stellvertretend für andere. Und wird dabei zum Spiegel ihres Publikums. Indem sie sich dem Schrecken aussetzt, befreit sie nicht nur ein Stück weit sich selber davon, sondern auch alle anderen. «Wenn ich es kann, dann können sie es auch.» Das ist ihr ganzes Rezept.

Das aber ist nicht wenig. Für ihre Heilkunst scheut Abramovic keine noch so hohen Hürden. Sie liess schon ihren Körper mit Klebeband bandagieren bis fast zum Ersticken. Sie legte sich in einen sternenförmigen Feuerkranz, aus dem sie kurz vor dem Verbrennen gerettet werden musste. Sie schluckte Medikamente, die katatonische Muskelkrämpfe auslösten. Oder setzte ihren nackten Körper bis zur Bewusstlosigkeit dem Orkan eines Industrie-Ventilators aus.

Ein Schlüsselerlebnis

Das Publikum leidet, wenn sie leidet. Sie setzt ihm zu. Einmal drehte sie den Spiess um. Und setzte sich dem Publikum aus, wurde zu dessen Patient – oder vielmehr wehrlosem Objekt, mit dem man alles machen durfte, was man wollte. Das Zubehör bestand aus rund siebzig Gegenständen: eine Peitsche, Nägel, eine Säge und Seile, aber auch ein Parfum, ein Lippenstift, ein Glas Honig oder eine Vogelfeder – harmlose und weniger harmlose Dinge, auch sehr Gefährliches, darunter eine geladene Pistole.

Sechs Stunden, fast die ganze Nacht lang dauerte die Performance in einer Galerie in Neapel. Die Besucher waren erst gehemmt, dann aber bald nicht mehr. Vor allem die Männer agierten, die anwesenden Frauen hingegen sagten ihnen, was sie tun sollten. «Ich glaube, dass ich letztlich nur deswegen nicht vergewaltigt wurde, weil die Frauen da waren», erinnerte sich Abramovic. Am Ende lag die damals 28-jährige Künstlerin halb nackt und blutend auf einem Tisch, die Haare nass vom Wasser, mit dem sie übergossen worden war, der Körper beschmiert mit Lippenstift, und zwischen die gespreizten Beine, dicht am Schritt, ein Messer, in den Tisch gerammt.

Für dieses Mal ging nicht sie selber, sondern ihr Publikum mit ihr bis zur äussersten Schmerzgrenze. Am Schluss waren die Galeriebesucher entsetzt über ihr eigenes Tun und flüchteten. Abramovic aber war höchstens etwas erschrocken. An Schmerz und Demütigung war sie gewöhnt – seit ihrer Kindheit.

Mit dem Schmerz musste sich die 1946 in Belgrad geborene Künstlerin schon früh zu arrangieren lernen. Den permanenten körperlichen Züchtigungen ihrer kontrollsüchtigen, unglücklich verheirateten Mutter ausgesetzt, hörte sie eines Tages nicht mehr auf, aus der Nase zu bluten. Sie musste zur Abklärung auf Leukämie ins Spital, wo sie ein Jahr lang untersucht wurde. Die Ursache war psychosomatisch bedingt, wahrscheinlich ein Trauma.

Körperschmerz war längst zu seelischem Schmerz geworden. Die Hospitalisierung aber wurde zur glücklichsten Zeit ihrer Kindheit. «Alle in meiner Familie waren jetzt lieb zu mir und brachten mir Geschenke, und jedermann im Spital war nett. Es war das Paradies.»

Die kunstliebende Mutter unterstützte allerdings das Interesse ihrer Tochter an der Malerei. Und ihr Vater arrangierte eine erste Stunde in Kunstunterricht mit einem befreundeten abstrakten Künstler. Dieser schnitt eine Leinwand mehr behelfsmässig zurecht, warf sie auf den Boden, goss Leim darauf, schüttete etwas Sand und gelbe, rote und schwarze Pigmente darüber, übergoss zu Marinas Überraschung das Ganze mit einem halben Liter Benzin und zündete ein Streichholz an: Alles explodierte. Sein Kommentar: «Das ist der Sonnenuntergang, und soeben ist er verschwunden.»

Die Lektion wurde zum Schlüsselerlebnis für Marina Abramovic. Fortan war für sie Kunst nicht mehr eine Sache aus Leinwand und Ölfarben, geschaffen für die Ewigkeit, sondern etwas so Flüchtiges wie ein Sonnenuntergang. Der Prozess war wichtiger als das Ergebnis, die Reise entscheidend, nicht die Destination. Damit war Abramovic bei der Performance angelangt. Es war die Zeit dafür. Die Avantgarde der sechziger Jahre suchte von New York bis Wien nach neuen Ausdrucksformen. Kunstperformance war eine davon.

Der Schmerz wurde zur Grundkonstante in Abramovics Kunst. Das begann mit ihrem ersten immateriellen Werk 1973 am Edinburgh Art Festival. Die kommunistische Regierung Jugoslawiens wollte die jungen Künstler nicht ausreisen lassen, die in Belgrad von der Festivalleitung entdeckt und eingeladen worden waren. Die neue Kunst war den Behörden suspekt. Abramovic aber sah ihre Chance gekommen, liess sich nicht abhalten und reiste auf eigene Faust nach Schottland. Es war ihre erste Reise als Künstlerin in den Westen.

Eins sein mit dem Publikum

«Rhythm 10» bestand aus der Künstlerin, zehn Messern und dauerte eine Stunde. Die Arbeit enthielt alles, was Abramovics Kunst fortan ausmachen würde. Mit diesem Werk ging sie an ihre körperlichen Grenzen.

Auf dem Boden der Turnhalle des Melville College breitete sie einen grossen weissen Bogen Papier aus und ordnete darauf eine Sammlung von zehn Messern unterschiedlicher Form und Grösse an. Daneben platzierte sie zwei Tonbandgeräte. Die Vorführung basierte auf einem Trinkspiel russischer und jugoslawischer Bauern – ein ziemlich simples und allgemein bekannt. Man legt die Hand auf den Tisch, spreizt die Finger und rammt in schneller Abfolge ein Messer dazwischen. Wenn man verfehlt, muss man ein Glas Schnaps leeren. Je betrunkener man wird, desto öfter verletzt man sich.

Eines der Tonbänder nahm Abramovics Atem auf, den klopfenden Rhythmus der Messer und auch die geräuschhafte Reaktion auf den Schmerz, wenn sie sich verletzte. Nach zehn mal zehn Messerstichen mit jedem Messer begann sie von neuem, während das zweite Tonband die Aufnahme des ersten abspielte. Wobei Vergangenheit und Gegenwart ineinander verschmolzen und sich das weisse Papier zusehends mit dem Blut der Künstlerin einfärbte.

«‹Rhythm 10› war der totale Wahnsinn», erinnerte sich Abramovic. Dagegen nahmen sich damals skandalträchtige Performances wie jene des Wiener Aktionisten Günter Brus geradezu zahm aus. Ein paar Jahre zuvor hatte Brus an der Universität in Wien in ein Glas uriniert, sich mit den eigenen Exkrementen beschmiert und zur österreichischen Nationalhymne onaniert.

Abramovic ging es nicht um Provokation. Es ging um mehr. Um alles. Später erinnerte sie sich an ein Zitat von Bruce Nauman, dass Kunst eine Angelegenheit von Leben und Tod sei. «Das klingt zwar melodramatisch, ist aber so.» In Edinburg machte sie erstmals die Erfahrung eines grösseren, nicht mehr von der Welt abgetrennten Ichs. Die Angst war weg, der Schmerz war weg, «ich war eine Marina geworden, die ich noch nicht kannte. Während das Publikum applaudierte, fühlte ich mich eins mit ihm, eins mit Gegenwart und Vergangenheit. Es war das Gefühl absoluter Freiheit.» In Edinburg hatte sie ihr künstlerisches Medium gefunden.

Als Nomadin in der Welt

In ihrer Heimat wurde sie verspottet. Das habe nichts mit Kunst zu tun. Abramovic sei eine Exhibitionistin und Masochistin und gehöre in die Irrenanstalt. Solche Kritik trug wesentlich zu ihrem Ruhm bei und begleitete sie später auch im Westen während ihrer langen Karriere zur schliesslich berühmtesten Performancekünstlerin der Welt.

Seit gut einem halben Jahrhundert ist Marina Abramovic unterwegs zu einem höheren Bewusstsein im Dienst der Kunst. Das Hier und Jetzt ihrer ephemeren und immateriellen Kunstform kennt keinen fixen Ort. So gehörte zu Abramovics künstlerischer Reise lange auch ein nomadisches Leben, ab 1976 in Begleitung ihres Partners, des deutschen Künstlers Ulay.

Mit ihm zusammen wollte sie ein drittes, höheres Selbst entwickeln – eine Energie, die nicht vergiftet war vom Ego, ein Verschmelzen von männlich und weiblich, das für sie das grösste Kunstwerk darstellte. Mit Ulay zusammen gab sie all ihre Besitztümer auf und reiste in einem Bus durch die Welt.

Sie reisten zu den Schamanen Australiens und zu den Eingeborenen Brasiliens. Sie suchten buddhistische Klöster in Indien und Tibet auf. Sie loteten in den entferntesten Gegenden der Welt die äussersten Grenzen des menschlichen Bewusstseins aus. Und als ihre Beziehung mit Ulay in die Brüche ging, machte Abramovic auch diese schmerzhafte Erfahrung menschlichen Scheiterns zu einer einmaligen Kunstperformance.

1988 trennten sich Abramovic und Ulay mit ihrer letzten gemeinsamen Arbeit, «Lovers, the Great Wall Walk». Nach einem Marsch von je 2500 Kilometern und rund 90 Tagen – Abramovic startete am Gelben Meer, Ulay in der Wüste Gobi – trafen sie auf der Chinesischen Mauer aufeinander, nur um sich voneinander zu verabschieden. Fortan gingen sie getrennte Wege. «Was immer man tut, man tut es alleine», so brachte Abramovic die Erfahrung dieses einsamen Abschiedsmarsches auf den Punkt.

Eine ihrer späteren Performances zeigt sie allerdings nicht ganz alleine, sondern in Begleitung mit dem Tod. In «Cleaning the Mirror» von 1995 reinigt sie mit Bürste und Seifenwasser und grösster Hingabe ein menschliches Gerippe: «Vom Augenblick der Geburt an kann man jederzeit sterben. Ich halte es als Künstlerin für wichtig, darüber nachzudenken.» Über den Tod und die eigene Vergänglichkeit meditiert sie bis heute. Schliesslich ist der Tod wohl die äusserste Grenze künstlerischer Selbsterfahrung: der allerletzte Spiegel, in den man schauen kann.

«Marina Abramovic – Retrospektive», Kunsthaus Zürich, bis 16. Februar 2025. Katalog Fr. 49.–.

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