Wie sich Plastik mithilfe der Chemie besser wiederverwerten lässt, das erforschen Wissenschafter künftig in einem Zentrum in Aachen. Dafür zahlt die Werner-Siemens-Stiftung 100 Millionen Franken. Weshalb so viel Geld und warum aus der Schweiz?
Ob Spielzeugfiguren, Joghurtbecher oder das Armaturenbrett im Auto – im Alltag sind wir umgeben von Plastik. Pro Jahr werden mehr als 450 Millionen Tonnen Kunststoffe hergestellt, eine unvorstellbar grosse Menge. Rezykliert wird davon bis anhin nur wenig. In der Schweiz liegt die Quote bei knapp zehn Prozent, in Deutschland sieht es kaum anders aus.
Damit sich das ändert, genügt es nicht, das mechanische Recycling auszubauen, das bis anhin zum Beispiel schon bei PET-Flaschen genutzt wird. Denn der Nutzen des Schredderns und Schmelzens hat seine Grenzen. Es müssen zusätzlich chemische Verfahren gefunden und neue Materialien getestet werden.
Die Werner-Siemens-Stiftung mit Sitz in Zug fördert darum die Gründung eines Zentrums für die Erforschung nachhaltiger Ressourcennutzung, wie sie Anfang Januar bekanntgab. Verteilt über zehn Jahre sollen dafür 100 Millionen Franken fliessen. In einem Wettbewerb hatten sich Wissenschafter aus der westdeutschen Stadt Aachen gegen 122 Konkurrenten durchgesetzt. Das Forschungszentrum soll der chemischen Industrie dabei helfen, nachhaltiger zu produzieren.
Gesucht sind Wege in eine Kreislaufwirtschaft. Der Schwerpunkt liegt dabei zunächst auf den Kunststoffen: «Wir haben auf dem Markt ganz viele Kunststoffe, bei denen Recycling nicht Bestandteil der Materialentwicklung war», erklärt Regina Palkovits. Sie und Jürgen Klankermayer, beide Chemieprofessoren an der RWTH Aachen, leiten den Aufbau des Zentrums.
Kunststoffe sollen wiederverwertbare Bausteine liefern
Es gebe gegenwärtig nur wenige Kunststoffe, die sich ohne Verlust der Materialeigenschaften im Kreislauf führen liessen, sagt Palkovits. Ein Beispiel ist Polymilchsäure – der Stoff, aus dem heute bereits viele Folien und Verpackungen gemacht sind. Für Polymilchsäure ist ein sogenanntes Closed-Loop-Recycling möglich. Dabei handelt es sich um einen geschlossenen Kreislauf. Das bedeutet: Aus dem Ausgangsmaterial werden Bausteine gemacht, die zur Produktion des gleichen Materials dienen.
«Wir wollen künftig aber auch Open-Loop-Recycling ermöglichen», erklärt Palkovits. Das heisst, man will Methoden entwickeln, um heutige, nicht recyclingfähige Kunststoffe in neue Bausteine umzuwandeln. Aus denen sollen dann Materialien entstehen, die sich wiederverwerten lassen – und dann auch für anspruchsvolle Anwendungen infrage kommen.
Verpackungen aus Kunststoff werden heute schon oft wiederverwertet. Diese haben allerdings eine kurze Lebensdauer, was das Recycling erleichtert. Schwieriger ist es bei Kunststoffen, die viele Jahre in Gebrauch sind. «Dämmstoffe zum Beispiel sind nicht für ein späteres Recycling gedacht», sagt Palkovits. In zwanzig Jahren entspricht ein heutiges Material zur Wärmedämmung wahrscheinlich nicht mehr den Anforderungen; die Technik und die verwendeten Substanzen ändern sich. Es wäre darum gut, wenn man das Material in Bausteine zerlegen könnte, die sich später in anderer Form wiederverwerten liessen.
Ähnliches gilt laut Palkovits für Kunststoffe in Autos. «Wir wollen ja ein Material haben, das nicht brennt», sagt sie. Heute fügt man darum eine chemische Substanz hinzu, die die Entzündung hemmt. Doch das erschwert das spätere Recycling enorm. Auch in diesem Fall wäre die Zerlegung in wiederverwertbare Komponenten nützlich.
Katalysatoren sind bei den chemischen Reaktionen für die Wiederverwertung entscheidend
Benötigt werden für das Recycling sogenannte Katalysatoren. Das sind Substanzen, die chemische Reaktionen erleichtern, aber dabei nicht verbraucht werden. Katalysatoren seien der Schlüssel, um die Recycling-Reaktionen möglich zu machen, sagt Palkovits.
Damit man die technische Machbarkeit gewährleisten kann, wirken beim Aufbau des Zentrums viele Disziplinen mit. «Wir wollen herausfinden, welcher Herstellungspfad der beste ist, welche Rohstoffströme verfügbar sind – und ob überhaupt jemand das Produkt benötigt», erläutert die Chemikerin. Neben Fachleuten für die Katalyse sind darum Experten für die Verfahrensentwicklung, für die Bewertung der Wirtschaftlichkeit und für Lebenszyklusbilanzen beteiligt. Im Technikum des Instituts an der RWTH Aachen werde es die Möglichkeit geben, eigene Demonstrationsanlagen zu bauen, erläutert Palkovits.
Auch Informatiker machen bei dem Zentrum mit. Mit maschinellem Lernen solle über alle Grössenordnungen – vom Katalysator über den Prozess und das Produkt bis zur Kreislaufwirtschaft – die Entwicklung unterstützt und beschleunigt werden, sagt Palkovits. Man will ausserdem prognostizieren, was das beste Produkt sein könnte.
Mit der Millionenförderung begeht die Stiftung ein Jubiläum
Dass die Werner-Siemens-Stiftung (WSS) jetzt eine dreistellige Millionensumme für das Zentrum bereitstellt, hat mit ihrer Geschichte zu tun. Sie wurde 1923 von zwei Töchtern von Carl von Siemens in Schaffhausen gegründet, zunächst zur Unterstützung von Familienmitgliedern, die in Not geraten waren. Später beteiligten sich drei weitere weibliche Mitglieder der Familie Siemens an der Stiftung.
Seit zwanzig Jahren ist die WSS philanthropisch tätig. Für einzelne herausragende Forschungsprojekte in der Schweiz, Deutschland oder Österreich vergibt die Stiftung typischerweise zwischen 8 und 12 Millionen Franken. Zum Beispiel werden Projekte zur Tiefengeothermie an der ETH Zürich und zur Quantenphysik an der Empa gefördert. Doch um das 100-Jahre-Jubiläum angemessen zu würdigen, hat man diesmal eine viel grössere Summe ausgeschrieben.
Private Stiftungen könnten freier und risikobereiter über die Mittelvergabe entscheiden als öffentliche Institutionen, sagt Matthias Kleiner, ein erfahrener Wissenschaftsmanager aus Deutschland. Der Maschinenbauingenieur sitzt im wissenschaftlichen Beirat der WSS und war für den Auswahlprozess verantwortlich. Kleiner leitete früher die Deutsche Forschungsgemeinschaft und von 2014 bis 2022 die Leibniz-Gemeinschaft, einen Verbund ausseruniversitärer Forschungsinstitute.
Diesmal wählte die Werner-Siemens-Stiftung ein zweistufiges Vergabeverfahren. Zunächst wurden aus den 123 Projektideen 6 ausgewählt – sie erhielten alle einen WSS-Forschungspreis von einer Million Franken. Diese sechs Teams waren dann aufgerufen, ein 50-seitiges Konzept für ein WSS-Forschungszentrum einzureichen. Die RWTH Aachen machte am Ende das Rennen.
Kleiner schätzt die Aussichten für das Forschungszentrum sehr positiv ein, auch ökonomisch betrachtet: «Das Recycling von Kunststoffen könnte mit den Technologien aus Aachen in Zukunft zu einem guten Geschäft werden», meint er.