Freitag, September 27

Was müssen Kinder tun, um gute Augen zu bekommen? Ein Gespräch mit einem Optometristen.

Kinder sehen immer schlechter. Laut der Studie eines chinesischen Forschungsteams, die jüngst in einer britischen Fachzeitschrift veröffentlicht wurde, ist jedes dritte Kind weltweit kurzsichtig – und es werden immer mehr. Bis 2050 werde die Zahl der von Kurzsichtigkeit (Myopie) betroffenen Kinder und Jugendlichen auf mehr als 740 Millionen steigen. Das entspreche weltweit rund 40 Prozent der Kinder ab fünf Jahren.

Wer kurzsichtig ist, sieht Objekte in der Ferne unscharf. Betroffene leiden meistens seit der Kindheit darunter. Ursache kann eine genetische Veranlagung sein. Für die seit Jahren registrierte starke Zunahme machen Experten aber vor allem Verhaltensänderungen wie Aufenthalte in Innenräumen und viel Zeit vor Bildschirmen verantwortlich.

Was kann man dagegen tun? Wie sieht die Situation in der Schweiz aus? Und explodieren bald die Gesundheitskosten? Martin Lörtscher kennt die Antworten auf diese Fragen. Er ist Optometrist – ein Beruf, der in der Schweiz bisher wenig bekannt ist. Optometristen sind spezialisiert auf die Erkennung von Augenkrankheiten und erstellen Diagnosen. Sie dürfen aber nicht therapieren und weisen die betroffenen Patienten einer Fachärztin oder einem Facharzt zu.

Lörtscher forscht in Neuseeland und in der Schweiz seit mehreren Jahren im Bereich der Kurzsichtigkeit, doziert am Institut für Optometrie an der Fachhochschule Nordwestschweiz in Olten und führt im Kanton Aargau eine Praxis.

Herr Lörtscher, ein altes Sprichwort besagt, viel Karotten essen und draussen spielen sei gut für die Augen. Hat das immer noch Gültigkeit?

Man müsste schon sehr viele Karotten essen, um dadurch gute Augen zu bekommen. Eine ausgewogene Ernährung reicht. Aber viel Zeit draussen zu verbringen, ist definitiv ein Faktor, der positiv gegen Kurzsichtigkeit wirkt – solange man nicht schon daran leidet.

Sie behandeln in Ihrer Praxis Kinder mit Kurzsichtigkeit. Welchen Ratschlag geben Sie Eltern, damit sie gar nicht erst den Optometristen aufsuchen müssen?

Wichtig ist, dass die Kinder im Alltag Zeit an der frischen Luft verbringen. Ich rate Eltern, dass sie ihre Kinder in die Schule gehen lassen und sie nicht mit dem Auto chauffieren. Daten zeigen, dass Kinder, die viel draussen sind, weniger kurzsichtig werden als diejenigen, die sich mehrheitlich drinnen aufhalten. Regelmässige Kontrollen der Augen und der Sicht sind zudem notwendig.

Warum hilft es, draussen zu sein?

Im Freien ist man einer höheren Lichtintensität ausgesetzt. Im Innern eines Gebäudes ist die Lichtstärke etwa 600 Lux. Draussen bei Regen oder Sonnenschein sind es hingegen mindestens 6000 bis 100 000 Lux. Das ist ein riesiger Unterschied. Je stärker die Lichtintensität ist, desto besser entwickelt sich das Auge. Ich habe ein Beispiel.

Erzählen Sie.

Es gab vor Jahren ein Experiment mit chinesischen Kindern. Ein Teil dieser Kinder wuchs in Singapur auf, der andere in Australien. Zwei Länder, die kulturell völlig verschieden sind. In Australien spielt sich das Leben draussen ab. Die Kinder spielten oft im Freien. In Singapur hingegen hatten die Kinder lange Schultage, waren einen Grossteil des Tages im klimatisierten Innenraum. Die Kinder in Singapur waren viel stärker von Kurzsichtigkeit betroffen als diejenigen in Australien.

Laut einer neusten Studie eines chinesischen Forschungsteams ist mittlerweile jedes dritte Kind kurzsichtig. Bis 2050 sollen es gar 40 Prozent der Heranwachsenden ab fünf Jahren sein. Wie beunruhigend ist diese Entwicklung?

Sie ist sehr beunruhigend, auch wenn sie längst bekannt ist. Kurzsichtigkeit ist zwar ein weltweites Problem, sie verteilt sich aber völlig verschieden über den Globus. In Europa sind wir auf der glücklichen Seite. Wir sind weniger stark betroffen. In Asien ist Kurzsichtigkeit hingegen ein riesiges Problem. In gewissen Ländern leiden mehr als 80 Prozent der Bevölkerung daran.

Wie sieht die Situation in der Schweiz aus?

Wir schätzen, dass in der Schweiz zwischen 20 und 30 Prozent der Bevölkerung an Kurzsichtigkeit leiden. Wir haben für die Schweiz zwar keine konkreten Zahlen, sind aber mit Sicherheit noch weit weg von asiatischen Verhältnissen. Aber auch die Asiaten waren vor vierzig Jahren noch nicht an dem Punkt, an dem sie jetzt sind.

Wie kann diese Entwicklung aufgehalten werden?

Das Problem ist, dass wir immer noch nicht wissen, was genau eine Myopie auslöst. In den 1970er Jahren hiess es, Kurzsichtigkeit sei zu 100 Prozent genetisch bedingt. Diese These ist längst widerlegt. Mittlerweile sind wir technologisch weiter fortgeschritten. Die Kinder blicken täglich in Smartphones, Tablets oder Bildschirme. Damit sind Dutzend neue Hypothesen entstanden. Aber das Smartphone als alleinigen Schuldigen für die steigenden Zahlen von Myopie heranzuführen, wäre zu einfach. Kurzsichtigkeit hat einen multifaktoriellen Ursprung. Es scheint, dass die Umgebung, in der wir uns aufhalten, und der damit verbundene visuelle Input, den das Auge erhält, eine grosse Rolle spielen.

Es ist also schwierig zu erklären, was genau eine Myopie auslöst?

Richtig. Wir können leider nicht sagen: Das ist der Grund, hier ziehen wir die Schrauben an, und das Problem ist gelöst. Nach heutigem Wissensstand kann nur gesagt werden, dass unser Lebensstil dazu beiträgt und es bestimmte Treiber gibt, die eine Auswirkung haben. Beispielsweise Smartphones, Bildschirme und wenig Zeit im Freien.

Aber ein entsprechendes Heilmittel fehlt noch.

Genau. Mittlerweile sind zwar spezielle Brillengläser und Kontaktlinsen entwickelt worden, mit denen sich das Fortschreiten der Kurzsichtigkeit bremsen lässt. Wenn das nicht hilft, gibt es zusätzlich Atropin-Augentropfen, die eingesetzt werden können. Dort ist die richtige Dosierung aber die grosse Unbekannte. Die Myopie-Forschung ist noch voll im Gang.

Die Forschung warnt wegen der steigenden Zahlen bereits vor einer «globalen Gesundheitsbelastung». Teilen Sie diese Ansicht?

Ja. Das Problem an der Kurzsichtigkeit ist nicht, dass Sie eine Brille tragen müssen. Sondern, dass Ihr Augapfel zu lange gewachsen ist – Sie somit ein längeres Auge haben als jemand, der nicht an Myopie leidet. Ist der Augapfel über 26 Millimeter lang, steigt das Risiko, dass Sie im Alter bleibende Schäden bekommen. Das Sehvermögen lässt weiter nach, die betroffenen Personen sind anfälliger, um an Augenkrankheiten wie einer Netzhautablösung, einem Glaukom (grüner Star) oder einem Katarakt (grauer Star) zu erkranken.

Kann Kurzsichtigkeit zu einem Problem für die Gesundheitskosten werden?

Im asiatischen Raum ist das bereits alarmierend. In Südkorea oder Taiwan liegt die Prävalenz beispielsweise bei fast 90 Prozent. Besonders in diesen beiden Ländern explodieren die Gesundheitskosten, weil die Kurzsichtigen durch Augenerkrankungen, die mit dem langen Augapfel zusammenhängen, vermehrt Einschränkungen im Sehen erleben. Zudem fliessen sozioökonomische Faktoren mit ein. Jemand mit dauerndem Sehverlust ist nicht mehr voll im Arbeitsleben einsatzfähig. Das zieht wiederum zusätzliche Kosten nach sich.

Bei starker Ausprägung wird Myopie als Krankheit gewertet. Die vielen Fälle belasten das Gesundheitssystem. Droht der Schweiz ein ähnliches Schicksal?

Wenn wir uns in asiatische Verhältnisse bewegen, wird es zu einer klaren Zunahme der Kosten kommen. Der Bund leistet diesbezüglich aber bereits Prävention. Er hat per 1. Juli 2024 die Mittel- und Gegenständeliste (Migel) angepasst. Kinder und Jugendliche, die an progressiver Kurzsichtigkeit leiden, bekommen seither von der Krankenkasse einen Beitrag vergütet, wenn sie spezielle Brillengläser oder Kontaktlinsen kaufen müssen. Der Staat hat das Problem erkannt.

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