Freitag, Januar 31

Food-Waste und Nachhaltigkeit sind grosse Themen in der Gastronomie. Wie man diese angehen und dabei viel Spass haben kann, zeigen zwei visionäre Querdenker mit ihrem Projekt «La Fuga» in einem historischen Hotel im Südtiroler Sarntal.

Hellbraun und dickflüssig ist der Inhalt der bereitstehenden Flasche. Auf dem Etikett ist ein Poulet abgebildet, das Wort «Garum» ist zu lesen. Garum! War es nicht genau das, was die alten Römer aus fermentierten Fischabfällen herstellten, um ihre Speisen zu würzen? Das Ketchup der Antike!

Doch jenes Chicken-Garum, das Gregor Wenter und Mattia Baroni im Südtiroler Hotel «Bad Schörgau» zum Probieren reichen, riecht weder penetrant noch sauer, schmeckt nicht durchdringend wie eine vietnamesische Fischsauce, sondern mild und fein, dennoch enorm würzig. Viel Umami-Intensität, eine schöne Cremigkeit. Nur, was macht man damit?

Kochen zum Beispiel. Wie hier, in einer der abgelegensten Gegenden Südtirols.

Blick über den Tellerrand

Eine knappe halbe Stunde braucht das Taxi vom Bozener Bahnhof hinauf ins Sarntal, bis ins «Bad Schörgau», ein Hotel samt Spa, das seinen Namen nicht zufällig trägt. Bereits im 17. Jahrhundert war die hiesige heisse Quelle eine Attraktion. Später liess der Guide Michelin einen Stern aufblitzen. Genau so hätte es weitergehen können. Gourmetspeisen mit regionalem Bezug, gut und schön und erfolgreich, doch der Patron Gregor Wenter und der 2019 angereiste Küchenchef Mattia Baroni wollten mehr. Und etwas anderes. Zumal der Chefkoch auch Informatiker ist und aus Prinzip über Tellerränder blickt.

Das Duo überlegte, dachte über die Zukunft von «Bad Schörgau» und jene der Sternegastronomie nach. «Den Namen La Fuga haben wir aus einer Laune heraus entwickelt – und mithilfe von etwas Natural Wine», sagt Gregor Wenter.

La Fuga steht für Laboratory for Future Gastronomy. Ein Projekt, das binnen weniger Jahre übers Sarntal hinausgewachsen ist, das sich zu einem Netzwerk mit dem Hauptquartier in Bozen entwickelt hat. Der jährliche La Fuga Summit zieht inzwischen viele Menschen an, die sich ernsthaft mit dem Essen von morgen beschäftigen wollen.

Fine Dining mit Spass

Wen beim Begriff «Laboratory» die Angst vor weissen Kitteln befällt, muss sich nur im «Bad Schörgau» umschauen, um festzustellen, wie sinnlich es in diesem «Labor» zu und her geht. Viel Holz, viel Natur. Mattia Baroni und sein Team lassen sich gern auf die Finger schauen und erklären am Tisch, was sie so tun. Garums und Miso herstellen, aus Abfällen, die sonst im Biomüll landen würden. Und natürlich damit kochen, was das Sarntal so hergibt. Auch mit Latschenkiefer, jenem wundersamen Baum, der sich selbst auf 2000 Metern über dem Meeresspiegel wohlfühlt.

Ein etwas anderes Fine Dining, eines mit Spass und Überraschungen. Die sogenannte Auster zum Beispiel, die man hier zu essen bekommt, wird nicht aus dem Atlantik importiert, sondern ist, da ausschliesslich Süsswasserfisch verarbeitet wird, aus Forelle und Fischgarum gefertigt. Dazu Sud aus Gurke und eine Austernschale als Tellerersatz – fertig ist ein Gericht, das gleichermassen irritiert wie inspiriert. Beides ist gewollt.

Wie soll man auch sonst reagieren, wenn man erfährt, auf welche Grundzutat die Küche verzichtet? «Wir kochen heute konsequent mit den Garums und verwenden kein zusätzliches Salz», so Gregor Wenter. Klar, dass sich mancher an den Kopf tippte. «Am Anfang haben uns manche Leute angestarrt wie Ausserirdische.» Inzwischen aber wundert sich kaum mehr jemand, zumal das Neue ohne Druck herübergebracht wird.

Man kann im «Bad Schörgau» zwar das grosse Experimentalmenu namens La Fuga Experience bestellen, aber auch Schlichteres à la carte speisen. Wobei auch die «normale» Speisekarte den Prinzipien des Hauses folgt. Fritto Misto mit Latschenkiefermayonnaise oder Hühnerconsommé mit Brennnesselcrêpes. Ohne Salz! Dazu eine Unmenge an Natural Wines, gern von jungen Südtiroler Winzern.

«Von Anfang an war uns bewusst, dass das, was wir mit La Fuga und ‹Bad Schörgau› losgetreten haben, eine Ebnung und eine Erfüllung für die nächsten Generationen sein kann», schwärmt Gregor Wenter. Von echter Nachhaltigkeit spricht er. Und Stolz merkt man ihm allemal an.

Buch und Projekt

Wie sich das Ganze seit 2019 entwickelt hat, lässt nur staunen. Mattia Baroni hat ein Buch über die Fermentation geschrieben, erzählt jedem, wie er aus Gemüseresten oder ausgedienten Legehennen sowie ein bisschen Koji-Getreide und natürlichen Umwandlungsprozessen und genügend Zeit vielfältig einsetzbare Essenzen entwickelt.

Die kleine Garumproduktion im «Bad Schörgau»-Keller hat er ausgeweitet, gründete 2023 mit Gregor Wenter und der Wirtschaftswissenschafterin Stephanie Lüpold «The Garum Project». Fünf Sorten umfasst das Basissortiment – vom Chicken bis zum Milchgarum –, dazu kommen grüner und weisser Spargel als saisonale Produkte, auch ein Pilzgarum wird derzeit hergestellt. Noch längst nicht das Ende der Fahnenstange. «Das Potenzial für Garums ist gross», sagt Gregor Wenter. Bioabfälle fallen schliesslich überall an.

Was sich mit dem Chicken-Garum so alles machen lässt, bekommt man als verblüffter Konsument erst allmählich heraus. Ein einziger Tropfen veredelt zum Beispiel ein simples Frühstücksei zu einer komplexen Delikatesse. Seinem Körper tut man damit vermutlich ganz nebenbei Gutes. «Von unserem Essen wirst du nicht müde, und wir beeinflussen die Darmflora des Gastes positiv», sagt Gregor Wenter. Und die Gedanken fliegen dann auch nur so: Übers Essen von morgen kann man derart gestärkt wohl noch ein bisschen intensiver nachdenken.

Dieser Artikel ist im Rahmen der «NZZaS»-Beilage «Reisen», erschienen, die von NZZ Content Creation erstellt wird.

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