Schweizer? Macht nichts! In der Osteria «Da Mario» auf der Piazza delle Coppelle stecken die Gäste die Niederlage ihres Teams mit einem Lächeln weg.

Der Tag hat schlecht angefangen: Die Lieblings-Bar verriegelt, Rollläden unten, «chiuso», kein «caffè» hier. Ein Passant erklärt: Tja, heute ist Feiertag. Man hat es vergessen: «Santi Pietro e Paolo», der Tag der Schutzpatrone der Ewigen Stadt.

Es ist still in den Gassen, viele Geschäfte sind zu. Eine bleierne Hitze legt sich über die Stadt, die leichte Brise vom Vorabend ist weggeblasen, hat sich erschöpft. Das Hirn arbeitet langsam. Der Zeitungsmann vergisst, die «Repubblica» in den Stapel zu stecken, den er täglich bereit macht. Auch das noch!

Ob das etwas wird mit der Fussballnacht? Man kann es sich gerade schlecht vorstellen. Die wenigen Spaziergänger schlurfen den Wänden entlang, man sucht Schatten. Auch für 18 Uhr, den Start des Spiels der Schweizer gegen die Italiener, sind noch über 30 Grad angekündigt. Ob dann überhaupt jemand draussen ist? Nach den ersten Spielen der Italiener an der EM in Deutschland ist ohnehin wenig von Fussball-Begeisterung zu spüren im Land. Die Italiener können sehr hart sein mit ihrem Team. Liebesentzug gehört ebenso zu den Emotionen wie grenzenlose Euphorie.

Wir wollen es wissen. Bei «Mario», sagt das Internet, kann man das Spiel sehen. Um die grossen Public Viewings in Testaccio oder auf dem Gianicolo machen wir einen Bogen. Zu viele Leute, zu weit draussen, zu schlechtes Essen.

Rohschinken aus der Freuler-Stadt

Unsere Osteria befindet sich auf der Piazza delle Coppelle, einem reizenden kleinen Platz mitten im Stadtzentrum, etwas versteckt gelegen. Am Vormittag gibt es hier jeweils einen kleinen Gemüsemarkt für die Einheimischen, die hier noch ausharren. In der Mitte plätschert ein «Nasone», einer der Hunderten von Brunnen mit frischem Trinkwasser, die es überall in der Stadt gibt. Abends trifft man sich hier zum «Aperitivo» oder zum Essen: Angestellte der umliegenden Geschäfte, wenig Touristen, ein paar Politikerinnen und Beamte aus dem nahen Senat oder der Abgeordnetenkammer.

Als wir kommen – zu früh, man wird gewisse Schweizer Eigenschaften nicht los – sind alle Tische noch leer. Am Fernseher reden sich die Experten warm. Ein Bier bitte und einen «Limoncello Spritz»! Die Nationalhymnen erklingen, der Wirt stellt das Gerät lauter.

Anpfiff. Hinter uns setzt sich die Familie des Wirtes an einen Tisch, Grossmutter, Onkel, Enkel. Das Spiel läuft, es wird aufgetischt. Nach etwa zehn Minuten gesellt sich eine Gruppe jüngerer Männer dazu, Sonnenbrille lässig auf der Stirn, man kennt und grüsst sich. Noch ist alles offen in Berlin, die Schweizer starten stark. Die jungen Italiener nebenan geben noch keinen Einblick in ihre Gefühlslage. Sie verfolgen das Spiel erstaunlich nachlässig.

Wir wollen eine Vorspeise bestellen und geben uns zu erkennen. «Svizzeri?» Der Wirt lächelt freundlich. «Macht nichts», sagt er aufmunternd, «ich koche für uns, ich koche auch für euch». Dann also erst einmal etwas Rohschinken und Salami, dazu ein bisschen Käse, nicht Kompliziertes, etwas, das man nebenher essen kann.

Auf der anderen Seite des Tisches setzt sich eine Familie dazu: Vater, Mutter, kleine Tochter. Wir sind Tessiner, flüstern sie uns zu. Psst! Wir lachen. Ab jetzt bilden wir eine kleine Schweizer Schicksalsgemeinschaft.

Dann trifft Remo Freuler, herrlich, 1:0 für die Schweiz, ausgerechnet der Mann aus Bologna, Heimat des Schinkens, den wir gerade verspeisen. Wir können einen kleinen Jubel nicht unterdrücken, die Tessiner freuen sich mit uns, die «Ragazzi» nebenan lächeln, die Familie des Wirtes nickt uns aufmunternd zu. Die wissen halt, denkt man sich, dass die «Azzurri» das Spiel in Berlin noch lange drehen können, darin haben sie schliesslich Erfahrung, gegen Kroatien haben sie in der 98. Minute noch zugeschlagen. Deshalb also sind alle so nett zu uns.

Pause, die Experten am TV sind unzufrieden, beklagen die Leistung der «Squadra Azzurra», die fehlende Qualität, die mangelnde Präzision des Passspiels, die Ideenlosigkeit des Angriffs. Es fallen anerkennende Worte für die Schweizer. Niemand hört ihnen zu.

Zeit, den Hauptgang zu bestellen. Wir liebäugeln mit «Penne arrabbiata», wörtlich: wütende Teigwaren. Wütend? Nein, das sind wir nun wirklich nicht, nach dieser wunderbaren ersten Halbzeit und dem Tor von Freuler. Also keine «Arrabbiata», dafür «Aglio, Olio, Peperoncino». Da ist noch genügend Schärfe drin – genau das, was wir uns für die Schweizer in der zweiten Halbzeit erhoffen. Dazu noch ein Bier, für Wein ist es viel zu heiss. Und gerne danach ein bisschen frische Früchte, die herrlich gekühlt serviert werden.

«Diese Mannschaft taugt nichts!»

Das Spiel läuft wieder, die «Ragazzi» am Nebentisch mit den Sonnenbrillen auf der Stirn warten auf die Reaktion der Mannschaft in Blau. Doch dann erzielt Ruben Vargas das zweite Tor für die Schweizer, wiederum grandios. Wir getrauen uns, etwas lauter zu jubeln. Auch jetzt lächeln die anderen Gäste noch, einige aber fangen an, über die Leistung der «Azzurri» zu lamentieren. Vor allem Matteo Darmian kommt schlecht weg, der Mannschaftskollege von Yann Sommer bei Inter Mailand. Diese Fehlpässe! Diese Einstellung! «L’Italia è niente», die Mannschaft taugt nichts, gar nichts, ereifert sich einer. Eine «Arrabbiata» würde jetzt gut an den Nebentisch passen, wir verkneifen uns eine Bemerkung. Die Ragazzi spülen ihren Ärger mit ein paar Gin Tonic hinunter.

Schliesslich fügen sie sich in ihr Schicksal. Die Schweizer dominieren, Italien kommt nicht mehr ins Spiel, nichts zu machen. Morgen werden sie in den Zeitungen vernichtet, die Spieler um Trainer Luciano Spalletti. Man kann sich das in der Schweiz nicht vorstellen, nicht in dieser Härte.

Noch zwei Minuten Nachspielzeit, dann ist es vorbei. Wir können es kaum fassen, sind aber gerade nicht in der Lage, unseren Gefühlen adäquat Ausdruck zu geben. Es ist viel zu heiss. Und die Leute hier in der Osteria sind auch viel zu nett. Wir wollen sie nicht herausfordern.

Der Schiedsrichter pfeift ab, am Tisch der Familie des Wirtes werden die Hauptspeisen gereicht. Rundum zufriedene Gesichter. Die Ragazzi zahlen, lächeln uns zu und verschwinden. Wahrscheinlich gehen sie zur nahen Engelsburg. Dort gibt es gleich ein riesiges Feuerwerk zu Ehren der beiden Stadtpatrone. Der Wirt räumt das TV-Gerät ab, mehr Fussball dann lieber doch nicht.

Wir zahlen und schlendern durch die Gassen nach Hause. Rom ist still, Rom ist nicht sonderlich traurig, dazu spielte die Mannschaft von Spalletti zu schlecht. In unseren Ohren aber erklingt ein Lied von Lucio Dalla. Es passt gerade zu unserer Stimmungslage und zur allgemeinen Sommerseligkeit: «È la sera dei miracoli», der Abend der Wunder, hat Dalla gesungen, damals, in den frühen achtziger Jahren, als er drüben in Trastevere wohnte. Italien hatte gerade den Weltmeistertitel geholt, das Land atmete auf nach Jahren des Terrors und der Bombenanschläge.

«Es ist ein Lied, das ich in einem besonders schönen Moment geschrieben habe», sagte Dalla einmal, «ich kam nach Hause nach einem dieser Abende, ich hatte Rom gesehen mit all seinen Festen, Liedern, mit den glücklichen Leuten draussen.»

Ein bisschen ist es jetzt gerade wie in diesem Lied. Ach, Rom!

La sera dei miracoli

Exit mobile version