Ein führender Vertreter des deutschen Judentums erklärt, warum es für ihn bei der Bundestagswahl nur um eine Frage geht: Welche Partei verhindert Zustände wie in Amsterdam? Nur diese Partei dürften Juden wählen.
Rabbiner Bistritzky, Sie haben die Juden in Deutschland aufgefordert, sich bei der kommenden Bundestagswahl auf eine einzige Frage zu konzentrieren. Welche ist das?
Es geht um unsere Sicherheit. Welche Partei garantiert, dass wir Juden in Deutschland nicht so etwas erleben wie in Amsterdam? Nur diese Partei dürfen wir wählen. Das habe ich am vergangenen Freitag auf X geschrieben. Die Resonanz war riesig. Als ich das Handy nach dem Schabbat wieder eingeschaltet habe, hatte ich Hunderte Kommentare und Nachrichten.
Wie war das Echo?
Ich hatte noch nicht die Zeit, alles zu lesen. Aber viele Menschen haben mir geschrieben und gefragt: Ja müssen wir jetzt die AfD wählen?
Was war Ihre Antwort?
Ich werde weder vor einer bestimmten Partei warnen noch zur Wahl einer Partei aufrufen. Aber die AfD hat aus meiner Sicht einen entscheidenden Fehler: Sie bietet Rechtsradikalen und Neonazis einen Platz. Damit sage ich allerdings nicht, dass die ganze Partei so ist. Und ihre Wähler sind es sicher auch nicht.
Wenn Sie keine Wahlempfehlung aussprechen, was raten Sie den Juden in Deutschland dann?
Wir müssen genau hinschauen. Ich erwarte von den Parteien, dass sie vor der Wahl am 23. Februar erklären, wie sie die Sicherheit gewährleisten wollen. Ich erwarte nicht, dass sie sagen: Wir schützen die Juden. Sondern: Wir schützen die Bürger. Wenn Lebensgefahr besteht, muss man handeln. Das gilt sogar am Schabbat, an dem sonst sehr vieles nicht erlaubt ist.
Und jetzt herrscht Lebensgefahr?
Sie haben die Bilder aus Amsterdam doch gesehen.
Sie meinen, solche Zustände wären auch in Deutschland möglich?
Ich fürchte ja. Es gibt immer mehr Juden, die sagen: Wenn es so schlimm wird wie in Amsterdam oder in Frankreich, dann wandere ich nach Israel aus. Aber es gibt auch viele, die bleiben wollen. Und diese Juden erwarten eine Antwort von den Politikern.
Erschütternde Bilder aus #Amsterdam.
Ein Pogrom gegen Juden in einer europäischen Hauptstadt, die an Deutschland grenzt.
Wir, die Juden in Deutschland, müssen bei den bevorstehenden Wahlen in Deutschland alle anderen Fragen beiseite lassen und uns auf die Frage konzentrieren,…— Rabbiner Shlomo Bistritzky (@RabbinerB) November 8, 2024
Was erwarten Sie konkret?
Für die Deutschen geht der Datenschutz über alles, und das ist ein Problem. Wir brauchen viel mehr Kameras, vor allem in den Städten. Potenzielle Täter müssen wissen, dass sie sich nicht verstecken können. Ein zweites Problem sind Social Media. Der Hass dort muss viel entschiedener bekämpft werden. Die Technologie dafür ist längst da. Der Terrorismus und die Gefahren in der Welt schreiten mit der Technologie voran, deshalb dürfen die Verteidigung und der Schutz der Bürger nicht hinterherhinken.
Aber der deutsche Staat greift doch durch. Es gibt sogenannte Trusted Flagger, die im Auftrag der Regierung nach «Hass und Fake News» suchen und Inhalte löschen lassen. Aus liberaler Sicht ist diese Entwicklung sehr bedenklich. Sorgen Sie sich gar nicht um die Meinungsfreiheit?
Das ist eine sehr grosse Frage: Wo endet die Meinungsfreiheit, wo die Demokratie?
Die liberale Antwort ist kurz: Die Meinungsfreiheit endet dort, wo das Strafrecht anfängt.
Diese Antwort hätte ich vielleicht vor fünf Jahren überzeugend gefunden. Aber wenn man wartet, bis das Strafrecht greift, dann stehen die Täter schon vor der Tür. Das ist zu spät, siehe Amsterdam.
Die jungen Männer und Jugendlichen, die dort Juden gejagt und ins Krankenhaus geprügelt haben, waren nach übereinstimmenden Berichten arabischstämmig. War es ein Fehler, so viele muslimische Migranten nach Europa einwandern zu lassen?
Nein, der Fehler liegt woanders. Ich gebe Ihnen ein Beispiel; eine israelische Journalistin hat mir davon berichtet: Es gibt in Berlin rund 300 Angehörige eines Clans aus Gaza, die eine Straftat nach der anderen begehen – und nichts passiert.
Die «Bild»-Zeitung hat über diesen Clan berichtet. Ein Mitglied soll schon mehr als fünfzigmal festgenommen worden sein.
Und genau das ist das Problem. Ich habe überhaupt nichts gegen Muslime oder gegen Flüchtlinge. Aber wenn jemand nach Deutschland kommt und hier Straftaten begeht, muss er Konsequenzen spüren, schnell und deutlich. Geschieht das nicht, dann gerät die Demokratie in Gefahr.
«Selbst wenn Jahrzehnte dazwischenliegen, kann man nicht Millionen Juden töten und später dann Millionen ihrer schlimmsten Feinde holen.» Das hat der verstorbene Modeschöpfer Karl Lagerfeld einmal gesagt. Hatte er nicht recht? Judenhass gehört in vielen muslimischen Ländern zum Alltag.
Ich war vor zwei Jahren in Dubai. Meine Mutter hat dort ihren 70. Geburtstag gefeiert. Das war eine unglaubliche Erfahrung. Wir sind sieben Brüder, die meisten von uns Rabbiner, und wir sind überall mit Respekt behandelt worden. Was zeigt das? Frieden ist machbar, wenn man Frieden will. Oder vergangene Woche, da habe ich jemanden getroffen, der gerade in Beirut war. Der hat mir gesagt, dass dort viele Menschen dankbar für Israels Kampf seien. Sie hätten gesagt: Der Hizbullah ist ein Krebs, und einen Krebs muss man entfernen.
Und Sie meinen, so denkt dort die Mehrheit?
Ich glaube ja. Die meisten muslimischen Länder der Welt sind keine Judenhasser. Sie lieben uns vielleicht nicht, aber sie sehen uns auch nicht als Feinde. In Gaza und in den Palästinensergebieten ist das etwas anderes. Den Hass, der dort gesät wird, wieder herauszubekommen, wird mehrere Generationen dauern.
Es gibt seit Jahren massive Kritik am Palästinenserhilfswerk der Vereinten Nationen (UNRWA). In dessen Schulbüchern wurde beispielsweise immer wieder Hass auf Juden geschürt. Trotzdem verteidigt Deutschlands grüne Aussenministerin Annalena Baerbock die UNRWA bis heute. Was sagen Sie dazu?
Ich bin von Frau Baerbock sehr enttäuscht. Und so wie mir geht es, glaube ich, vielen deutschen Juden. Es gibt ja nicht nur diese Bücher. Es gibt die Verbrechen, die UNRWA-Mitarbeiter am 7. Oktober begangen haben. Es gibt die Videos, die zeigen, wie sie Leichen nach Gaza verschleppen.
Eine andere Politikerin, die gerade für Aufruhr gesorgt hat, ist Aydan Özoğuz von der SPD. Die Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages hat im Netz das Bild eines brennenden palästinensischen Flüchtlingslagers geteilt. Dazu die Worte: «This is Zionism.»
Ich kenne Frau Özoğuz. Sie kommt auch aus Hamburg und hat mir bei Whatsapp eine Nachricht geschrieben. Darin hat sie das Teilen des Bildes als Fehler bezeichnet und mich um Entschuldigung gebeten.
Haben Sie die Entschuldigung angenommen?
Die Nachricht kam kurz vor einem jüdischen Feiertag. Ich habe geantwortet, dass wir uns später austauschen könnten. Das ist noch nicht geschehen.
Sollte Frau Özoğuz zurücktreten?
Das wollte ich ihr persönlich empfehlen. Sie hat sich zwar entschuldigt, aber das Problem ist, dass die meisten Juden in Deutschland Zionisten sind. Mit diesem Bild hat sie nicht nur Israel angegriffen, sondern alle.
Welcher Antisemitismus bereitet Ihnen die meisten Sorgen: der rechte, der linke oder der muslimische?
Mir bereitet jeder Antisemitismus Sorgen. Natürlich gibt es in Deutschland viele radikale Muslime, die Juden hassen. Und das will ich auf keinen Fall kleinreden. Aber ich stehe in einem engen Austausch mit der Schura, dem Rat der islamischen Gemeinden in Hamburg. Und dort erfahre ich als orthodoxer – manche würden sagen: ultraorthodoxer – Jude mehr Respekt und Wertschätzung als im Umgang mit vielen Vertretern der Mitte.
Was erleben Sie in der Mitte der deutschen Gesellschaft?
Die Ablehnung ist indirekt, aber deutlich. Man freut sich offiziell über jüdisches Leben in Deutschland, aber man lehnt die Orthodoxie und jemanden wie mich im Amt des Landesrabbiners ab. Das finde ich empörend. Die Deutschen haben nicht das Privileg, sich auszusuchen, welche Juden hierher gehören und welche nicht. Ich bin in Jerusalem zur Welt gekommen, und ich liebe Israel. Aber ich bin ein deutscher Jude mit einem deutschen Pass. Hamburg steht für mich an erster Stelle.
Fühlen Sie sich in Ihrer Stadt noch sicher?
Ja. Ich glaube, dass wir in Hamburg auch dank der Zusammenarbeit des Interreligiösen Forums eine besondere Situation haben, anders als etwa in Berlin. Bei uns kann man sich als Jude noch vergleichsweise sicher bewegen.
Wirklich? Es gab erst vor ein paar Jahren einen brutalen Angriff in Hamburg. Da haben syrischstämmige Jugendliche einem Juden das Gesicht blutig geschlagen. Das Opfer trägt seither eine Augenklappe.
Ja, es gab ein paar Angriffe. Ich bin auch schon attackiert und angespuckt worden. Aber über die Jahre waren es doch Einzelfälle.
Sehen das die Menschen in Ihrer Gemeinde auch so entspannt?
Natürlich machen sich viele Sorgen, aber vor allem wegen der Dinge, die sie auf Social Media sehen. Sie haben Angst, dass es bei uns Berliner Zustände geben könnte. Aber so weit ist es noch nicht. Gott sei Dank!