Mittwoch, Oktober 9

Lieber tanzen die Leute, als der Revolution zu huldigen: Die Filme von Nicolás Guillén Landrián legten sich subtil mit dem Regime an. Ein Dokumentarfilm erinnert an den Künstler.

Als Nicolás Guillén Landrián 1972 seinen letzten Film realisierte, hatte man ihn schon zweimal für längere Zeit ins Gefängnis und in die Psychiatrie gesteckt und dort unter anderem mit Elektroschocks traktiert. Anlass für seine erste längere Inhaftierung 1966 war sein Film «Reportaje» gewesen, ein Kurzfilm über ein Dorf im Osten Kubas, nahe der Stadt Baracoa, in einer Gegend, in der zuvor noch kaum je ein kubanischer Filmemacher gedreht hatte. Zusammen mit dem Kameramann Livio Delgado hatte er sich aus Havanna in diese Region begeben, begleitete die Bauern und Flösser in ihrem archaisch anmutenden Alltag und schuf dabei Filmbilder von bemerkenswerter Prägnanz, Präzision und Schönheit.

Am Ende, 1972, hatte ihn Castros Regime da, wo es ihn haben wollte: Landriáns letzter in Kuba gedrehter Film zeigt Arbeiter, die beim Wohnungsbau in die Kamera lachen. «Para construir una casa» von Nicolás Guillén Landrián ist sozialrealistischer Kitsch. Die Arbeiter geben sich sichtlich Mühe, so zu tun, als seien sie stolz darauf, am Aufbau des Sozialismus mitwirken zu dürfen. «Das hat nichts mehr mit Nicolás zu tun», sagt dessen Kameramann Livio Delgado, während er sich in einem Saal des kubanischen Filminstituts ICAIC den Film anschaut. Der Regisseur, fügt er hinzu, habe hier nur einen Befehl ausgeführt.

Zwischen 1963 und 1972 hat der Kameramann Delgado zusammen mit Landrián in ausdrucksstarkem Schwarz-Weiss mehr als ein Dutzend kurze und mittellange Dokumentarfilme über das Alltagsleben der Menschen auf der sozialistischen Karibikinsel gedreht. Einige der Filme sind verschollen, womöglich in den weitläufigen Kellerräumen des Filminstituts. Andere sind dem Verfall preisgegeben.

Marx, Lenin, Castro

In «Reportaje» sieht man, wie auf einer staubigen Strasse Frauen und Männer zu einer Versammlung strömen, die Frauen tragen einen Kartonsarg, auf dem das Wort «Ignoranz» steht, die Männer führen Transparente mit revolutionären Parolen mit sich. Am Versammlungsort angekommen, hören sich die Menschen mit ausdruckslosen Gesichtern das pathetische Geschwätz eines Funktionärs an, die Bühne ist mit grossen, gerahmten Bildern von Marx, Lenin und Fidel Castro geschmückt. Mit einer langen Sequenz Rumba tanzender Menschen endet «Reportaje». Dass die Leute lieber tanzen, Feste feiern und ihre afrokubanischen Kulte pflegen als der Revolution huldigen: Diese Botschaft taucht immer wieder in Landriáns Filmen auf.

Bereits sein Erstling vermittelt diese Message. In «En un barrio viejo» von 1963, dem Porträt eines mehrheitlich von Afrokubanern bevölkerten Altstadtviertels der kubanischen Hauptstadt, werden spielende Kinder und tanzende Teenager mit im Gleichschritt durch die Gassen marschierenden Milizionären kontrastiert.

Der Onkel war ein Nationaldichter

Man liess Landrián in diesen Jahren noch gewähren. Denn der junge Regisseur war ein Neffe des Poeten Nicolás Guillén. Dieser hatte in seinen Gedichten die Revolution verherrlicht, gute Kontakte zur obersten Staatsführung gepflegt und war von dieser als ein Nationaldichter umworben worden. So genoss Landrián zunächst den Schutz des Onkels.

Doch als Landrián in den 1970ern nach einem erneuten Gefängnisaufenthalt hilfesuchend an den Poeten gelangt sei, habe dieser dem Neffen nur mitgeteilt, er könne nichts machen. Der Befehl, Landrián für immer jegliche künstlerische Tätigkeit zu verbieten, sei von «ganz oben» gekommen, habe sich der Onkel damals entschuldigt. So erzählt es Gretel Alfonso, die Witwe des Cineasten, im Dokumentarfilm «Landrián».

Das Porträt feierte seine Weltpremiere 2022 am Filmfestival in Havanna, wo das Regime traditionell seine vermeintliche Toleranz zur Schau stellt. Regie führte der Kubaner Ernesto Daranas, der die Initiative zur Rettung von Landriáns Filmen ergriffen hat. Daranas zeigt die aufwendige Suche nach den verschwundenen Filmen von Landrián in den Katakomben des Filminstituts. In welch prekärem Zustand – wie fast alles im heutigen Kuba – sich dieses riesige Filmarchiv befindet, vermittelt der Film eindrücklich. Noch weit eindrücklicher aber ist, was der Kameramann Delgado und Gretel Alfonso über Landrián zu erzählen haben.

Mit Anekdoten aus seinem Leben vermitteln sie das plastische Bild eines einzigartigen Künstlers – und dank wenigen zugänglichen Akten der kubanischen Stasi wird erkennbar, wie Landrián zum Verfemten wurde. Neben dem «Konsum von Marihuana» oder «ideologischem Abweichlertum» ist in den Akten auch eine Liebesbeziehung zu einer britischen Botschaftsangestellten Thema. Die Frau sei eine CIA-Agentin, wurde behauptet. Und weil sich Landrián standhaft weigerte, mit der Stasi zusammenzuarbeiten, bauschte diese die Geschichte zu der abstrusen Anschuldigung auf, der Filmemacher habe an einer Verschwörung zur Ermordung Fidel Castros mitgewirkt.

Zum Schweigen gebracht

Es ist ein verbreiteter Irrtum, dass in Kuba in den ersten Jahren nach der Revolution die Unterdrückung Andersdenkender noch weniger stark, das System insgesamt vergleichsweise offener und toleranter gewesen sei. Erst mit der forcierten Sowjetisierung und der Einbindung in die Breschnew-UdSSR der 1970er Jahre habe sich in Kuba ein totalitäres, jegliche oppositionelle Regung unterdrückendes System etabliert. So oder ähnlich lautet die naive, das Wesen des Castro-Regimes verkennende Lesart. Landriáns Geschichte hilft, zu verstehen, wie der Comandante en Jefe bereits in den ersten Jahren seiner Diktatur unbotmässige Kulturschaffende zum Schweigen brachte.

«Alle mal schön ruhig bleiben, nur einige wenige können hier denken», bringt Gretel Alfonso das repressive Klima in Kuba zum Ausdruck. Denn Fidel Castro war überzeugt, dass seine Landsleute unterentwickelt seien und nur durch seine Genialität überhaupt erst zum Denken gebracht würden. «Die Regierenden hatten Angst vor Nicolás», sagt Gretel Alfonso. Nach seiner letzten Inhaftierung lebte der Regisseur oft auf der Strasse, dann lernte er seine Frau kennen. 1989, nach 17 Jahren ohne zu filmen, konnten die beiden Kuba verlassen. 2003 starb Nicolás Guillén Landrián in Miami.

«Landrián» wird am Mittwoch im Filmpodium Zürich gezeigt und läuft an weiteren Daten auch in Kinos in St. Gallen, Basel und Bern.

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