Zwei neue exzellente Biografien schildern Werk und Leben des im Sanatorium Valmont bei Montreux mit 51 Jahren verstorbenen Dichters. Sie erzählen die Geschichte eines innerlich Zerrissenen.
Ein Querstrich als Paravent, aber man sieht alles. Zwischen ein Gedicht über die eigene Mutter und die ersten Versuche einer phallischen Lyrik zieht Rilke in seinem Notizbuch nur eine zarte Linie. Gerade stehen hier noch die Zeilen: «Sie reisst mich ein, indem sie kommt und schaut. / Sie sieht es nicht, dass einer baut. / Sie geht mir mitten durch die Wand von Stein. / Ach wehe, meine Mutter reisst mich ein.» Dann aber geht es gleich weiter mit Unziemlichem. Im ersten von Rilkes pornografischen Gedichten fasst eine «Rosenpflückerin» dem Gegenüber an «die volle Knospe seines Lebensgliedes». In die Hose statt an die Rose: «An dem Schreck des Unterschiedes / schwinden die linden Gärten in ihr hin.»
Ein halber Skandal, aber verräterisch. Buchstabennah an der eigenen Mutter ragen bei Rainer Maria Rilke plötzlich kaum verklausulierte Säulen, Türme, Bäume aus dem «Schamgehölze». Sein Leben war ein Fall für Freudianer. Das hat der Dichter selbst auch ganz genau gewusst und sich deshalb mit aller Kraft den Verlockungen der Psychoanalyse widersetzt. Denn was könne dabei herauskommen? «Eine desinfizierte Seele», «ein Unding, ein Lebendiges, roth korrigiert, wie die Seiten in einem Schulheft.» Erst, wenn er beschlossen habe, nichts mehr zu schreiben, könne er sich so einem Verfahren guten Gewissens unterziehen.
Im Dezember dieses Jahres steht der 150. Geburtstag des grossen Dichters an, und wenn jetzt zwei umfassende Biografien erscheinen, dann wirft das Ereignis damit nicht seine Schatten voraus, sondern ziemlich viel Licht. Sandra Richter, die Chefin des Deutschen Literaturarchivs in Marbach, und der Literaturwissenschafter Manfred Koch nähern sich in den Lebensbeschreibungen dem Objekt ihres Fleisses knisternd freimütig.
Das hat auch zur Konsequenz, dass schon die Titel der Biografien zwei unterschiedliche Charaktere zu meinen scheinen. «Rainer Maria Rilke oder Das offene Leben» nennt Sandra Richter ihr Buch. Manfred Koch hat sich für eine düsterere Variante entschieden: «Rilke. Dichter der Angst». Ein Teufelsaustreiber seiner eigenen Gespenster sei der Dichter gewesen, meint Koch, und tatsächlich hat bei Rilke alles schon gespenstisch begonnen.
Miserable Anfänge
Vor der Geburt des auf den Namen René getauften Knaben hatte Phia Rilke ein Mädchen namens Zesa verloren. Ein Wunschkind, das für René zur Verwünschung wurde. Bis zur Schulzeit musste er Mädchenkleider tragen und hatte langes, bisweilen zum Zopf geflochtenes Haar. Noch zum Eintritt in die Kadettenanstalt reiste der spätere Dichter mit spitzenbesetzter Unterwäsche an. Für die Mutter war er Spielzeug. So gut es ging, trug der Knabe die verordnete Doppelgeschlechtlichkeit mit allen von der Mutter erfundenen Geschichten mit. Eine «Ismene» in ihm war das gute Mädchen, René der Nichtsnutz.
Als Dichter der Angst hat Rilke diese Konvulsionen der Kindheit in seinem «Malte Laurids Brigge» beschrieben und damit gleichzeitig zu bannen versucht. «Die Wege, auf denen sie mich erwartet, sind wie in einem Spiegel», beschwert sich der Sohn über Phia. Es sind nicht begehbare Wege, deren scheinbare Offenheit und Weite nur Täuschungen sind. Hier tut sich ein narzisstisch-klaustrophobisches Labyrinth auf, dem der Dichter ein Leben lang zu entkommen versucht.
Mit acht Jahren beginnt Rainer Maria Rilke zu schreiben, aber auch das, was er erst später produziert, ist nicht gleich das Gelbe vom Ei. «Kaum ein anderer grosser Autor der deutschen Literatur hat so miserabel begonnen wie Rilke», schreibt Manfred Koch und setzt damit einen Ton, der sich auch bei Sandra Richter findet. Wer über Rilke schreibt, muss auch gegen ihn schreiben. Muss seine Selbstmystifikationen unterlaufen und tatsächlich auch in einem fast psychoanalytischen Versuch den Rotstift der Korrekturen ansetzen.
Sandra Richter gelingt das auf sehr subtile Weise, wenn sie sich mit dem Frauenbild des Dichters auseinandersetzt. Mit den Aufspaltungen und sexuellen Sublimationsversuchen Rilkes. Da sind die jungen Mädchen, an denen die Unkeuschheit des Autors wächst, je keuscher er sie zeichnet. Ganze Engelheerscharen im literarischen Werk sind diesen Mädchen nachgebildet.
Auf der Suche nach der Mutter
Als lebensechte Nachbildungen möglicherweise der eigenen Mutter bestimmen andere Formate des weiblichen Geschlechts Rilkes Leben. Starke Partnerinnen, Freundinnen und Unterstützerinnen. Lou Andreas-Salomé ist es, die ihm 1867 im bayrischen Wolfratshausen endgültig die Frauenkleider vom Leib reisst. Symbolisch sozusagen. Rainer Maria wird in Wolfratshausen geboren, René ist tot. Sexuell kann Rilke sogar gegen Friedrich Nietzsche einen Triumph einfahren. Andreas-Salomé erhört den Dichter und nicht den Philosophen, der ihr ebenfalls Avancen macht.
Ein Jahr später lernt Rilke in der Kunstkommune Worpswede die Bildhauerin Clara Westhoff kennen. Er wird diese selbstbewusste Frau heiraten, mit ihr ein Kind zeugen und sie in sein Künstlertum auf eine Art verstricken, die ihr keine Luft mehr lässt. Es ist Clara Westhoff-Rilke, die später eine Psychoanalyse macht. Marie von Thurn und Taxis, Mäzenin und Besitzerin des Schlosses Duino, ist eine mütterliche Freundin.
Am Ende des Lebens, als in der Schweiz der grosse Geist der Kunst noch einmal in Rilke einfährt, er die «Duineser Elegien» beendet und an den «Sonetten an Orpheus» schreibt, steht ihm Baladine Klossowska zur Seite. Wenn er sie denn neben sich duldet. In Beziehungen ist Rilke ein Fluchttier. Für sein Schreiben braucht er künstlerische Schwingungen, die er aus Frauen genauso bezieht wie aus Landschaften. Von einer «Verliebtheit in die eigene Gefühlskraft» spricht Manfred Koch.
Zur Stärkung seiner Gefühlskraft schreckt Rilke auch nicht davor zurück, sich die Wirklichkeit zurechtzubiegen. Das Phantasma, adelige Vorfahren zu haben, ergreift den Sohn eines mittleren Bahnbeamten früh. Im «Malte» und in der «Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke» wird das aristokratische Selbstbild zu Literatur. Auf den Schlössern begüterter Freunde darf der Dichter sich wie ein von historischen Jahrhunderten umwehter Herr fühlen.
Ein ewig Leidender
Eine andere Sache sind die Träumereien, in die der Vielreisende beim Anblick fremder Landschaften und Städte verfällt. Der Moloch Paris macht ihm Angst, weil er in den vielen Gesichtern der Armut die Gefahr des eigenen Abstiegs erkennen kann. Russland dagegen wird auf fast mythische Art von Rilke als Sehnsuchtsort adoptiert. Er spricht von einem «Heimgefühl». Leo Tolstoi, den er zwei Mal besucht, ist von Rilkes Idee der russischen Seele peinlich berührt und will sich den Volkstumskitsch verbitten. Ohne Erfolg, wie man unter anderem am «Stundenbuch» und den «Geschichten vom lieben Gott» sehen kann.
Rainer Maria Rilke schreibt in seinen produktivsten Phasen unter dem «Diktat» selbst herbeigerufener Engel. Die agnostische Selbstvergöttlichung des Künstlers schafft ein zeitloses Werk, dem die irdische Einordnung durch die beiden Biografen Sandra Richter und Manfred Koch nicht schaden kann. Besonders reizvoll wird das, wenn Sandra Richter den «Hysteriker als Seelenarzt» porträtiert, der sich schreibend selbst zu heilen versucht. Oder wenn sie die Frage in den Raum stellt, ob der hirnknisternde Jenseitsblick Rilkes vielleicht nur eine Frage der Atemwege war.
Der Lyriker ist als beinahe lebenslanger Kurpatient durch die Kliniken gezogen, wobei vor allem das «Luftbaden» bei ihm anschlug. Hat all das «Wehn in Gott», das «tanzend im Wind» der «Duineser Elegien» und der «Sonette» banale pneumatische Ursachen? «Atmen, du unsichtbares Gedicht!», schreibt Rilke, auch weil er um die prosaischen Dinge des Körperlichen gut Bescheid wusste. Er war ein Leidender. Im Guten wie im Schlechten war Literatur bei ihm Nervensache. Eine Angelegenheit zwischen produktiver Angespanntheit und Überspannung.
Eine wenig gloriose Seite des Rilkeschen Leib-Seele-Problems führt Manfred Koch in seiner Biografie vor: zwanghaftes Masturbieren. An seinem Lebensende auf Schloss Muzot im Wallis hat Rainer Maria Rilke noch einmal ein junges Mädchen als Seelenfreundin gefunden. Die achtzehnjährige Wienerin Erika Mitterer schreibt Briefe in Gedichtform, und der 49-Jährige antwortet mit hintergründiger Erotik. Ein phallisches Gedicht, in dem zum letzten Mal von der männlichen Blume und vom weiblichen Kelch die Rede ist, wird dann doch nicht abgeschickt.
Rilke und Sigmund Freud haben sich gekannt. Und wie man durch einen neuen Fund im Literaturarchiv Marbach, das seit 2022 den Nachlass des Schriftstellers beherbergt, weiss, auch in zentralen Fragen geschrieben. Im Februar 1916 beklagt Rilke «den Schutt am Gemüth», der jeden Tag mehr werde. «Öfters war ich daran, mir durch eine Aussprache mit Ihnen aus der Verschüttung zu helfen.» Sigmund Freud antwortet professionell und will die Hemmschwelle möglichst gering halten: «Wenn Sie das Bedürfnis haben, sich einmal durch eine Plauderei zu erleichtern, so verbergen Sie sich nicht vor uns.»
Rainer Maria Rilke starb im Dezember 1926 im Sanatorium Valmont bei Montreux. Eine qualvolle Krankheit hatte zahllose seiner Organe affiziert. Er musste sich selbst verborgen bleiben, um so schreiben zu können, wie er es tat. Seinen Gott der Kunst wollte er weder an die Götter in Weiss verraten noch an sein irdisch-kleines, aus dem Trauma geborenes Ich.
Manfred Koch: Rilke. Dichter der Angst. Eine Biographie. Verlag C. H. Beck, München 2025. 560 S., Fr. 47.90.
Sandra Richter: Rainer Maria Rilke oder Das offene Leben. Eine Biographie. Insel-Verlag, Berlin 2025. 478 S., Fr. 39.90.