Donnerstag, Oktober 10

Das Obligatorische zum 200-Jahre-Jubiläum des Schützenverbands.

Am Ende der Geschichte, im August des Jahres 2024, steht Chiara Leone aus Frick im Kanton Aargau am Schützenstand der Olympischen Spiele von Paris. Das Gewehr im Anschlag, die Zielscheibe im Visier. Sie trägt eine dieser gstabigen Schiessjacken und die Hoffnungen ihrer rot-weiss gekleideten Fans auf ihren Schultern. Dann setzt sie an – und trifft. Es wird die einzige Goldmedaille für die Schweiz bleiben.

Das Schiessen war in diesem Land aber nie zuerst ein Sport mit Gewehren, die wie Hochpräzisionsgeräte aussehen, sondern Mythos und Geschichte.

«Es geht auf Tell und die Armbrust zurück», sagt Walter Harisberger ein paar Tage später im «Gasthof zum Schützen» in Aarau. Er muss es wissen: Harisberger ist 71 Jahre alt und schaut auf ein klassisches Schützenleben zurück. In Augst im Kanton Baselland, wo er aufwuchs, präsidierte schon der Vater die Schützengesellschaft. «Man lief automatisch mit dem Gewehr durchs Dorf zum Schiessstand, das war Schweizertum», sagt Harisberger. Er war nie Olympiaschütze, aber durchaus ambitioniert. Einmal gewann er an einem kantonalen Schützenfest eine Medaille. Inzwischen schiesst auch seine Tochter, und er selbst ist Vizepräsident des Schiesssportverbands. In diesen Tagen arbeitet er vor allem für das 200-Jahre-Jubiläumsfest des Schweizerischen Schiesssportverbands, das an diesem Wochenende in Aarau stattfindet. Er ist der Präsident des Organisationskomitees, deshalb informiert er im «Schützen» die Medien. «Hier trifft die Schweiz», lautet das Motto, man will sich als «offener und moderner Verband» zeigen, wie Harisberger mehrfach betont.

Harisberger kennt noch die Zeiten, als man sich im Schützenhaus vor dem entscheidenden Schuss «ein Zweierli Roten für eine ruhige Hand» genehmigte – «aber das ist vorbei». Er kann berichten, wie schwierig es für Schützenvereine geworden ist: «Wir können über Mittag nicht mehr schiessen, weil viele Anwohner klagen, und abends nach acht nicht mehr, aber irgendwann hört mein Verständnis auf.» Und er hat gesehen, wie die Zahl der Schützinnen und Schützen in den vergangenen Jahrzehnten massiv gesunken ist. Zudem hat der Ruf gelitten: Sind Waffen nicht Statussymbole einer aggressiven Gesellschaft?

Chiara Leones Goldmedaille wird in Schützenkreisen als «Lottosechser mit Zusatzzahl» bezeichnet – ein dringend nötiger Image-Boost.

Wie ist es so weit gekommen?

Ein Volk von Scharfschützen

Wer dem Schiessen durch die Zeiten folgt, zurück an den Anfang der Geschichte, der sieht, dass seine Bedeutung für die Schweiz einst eine andere, existenzielle war.

Sie manifestierte sich in dem Schützenfest, das erstmals 1824 in Aarau mit einem nationalen Anspruch stattfand – und weit mehr war als ein Wettschiessen. Es gab Reden, Umzüge, historische Aufführungen. Und fortan fanden alle paar Jahre Schützenfeste statt, die als «Landsgemeinden» gesehen wurden. Sie waren eine Klammer für die damals noch ziemlich lose Eidgenossenschaft. Das Schiessen stiftete Gemeinschaft, über alle regionalen, religiösen, ständischen Unterschiede hinweg. Geschichte und Gegenwart verschmolzen: Die Schützen wurden für einen Moment zu Wilhelm Tell. Sie sammelten sich unter dem roten Banner mit dem weissen Kreuz – der Flagge des 1824 gegründeten «Eidgenössischen Schützenvereins». Der primäre Zweck sollte nicht das Schiessen sein, sondern: «Ein Band mehr zu ziehen, um die Herzen der Eidgenossen, die Kraft des Vaterlandes durch Eintracht und nähere Verbindung zu mehren.» Vor allem die Liberalen nutzten die Schützenfeste, um ihre Nationalstaatsidee zu propagieren – und die Konservativen kamen trotzdem.

Nach dem Sonderbundskrieg wurde das Schützenfest zu einem Forum der Versöhnung, schon 1853 fand es in Luzern statt, einem konservativen Verliererkanton: Nation-Building im Pulverdampf. Wie bedeutsam die Schützen im frühen Bundesstaat waren, zeigte sich auch in der Zusammensetzung des Bundesrats. Gleich drei Mitglieder der ersten Landesregierung von 1848 waren zuvor Präsidenten des Eidgenössischen Schützenvereins gewesen. Ganz selbstverständlich widmeten sich die Nationaldichter jener Jahre dem Schiesswesen. Gottfried Keller feierte die «Waffenbrüderschaft», Jeremias Gotthelf schrieb ein «Manifest der schweizerischen Scharfschützen-Eidsgenossenschaft».

1848 wurde im Schützenland Schweiz die allgemeine Wehrpflicht eingeführt. Bald folgte die ausserdienstliche Schiesspflicht, schliesslich musste üben, wer im Ernstfall treffen wollte. Die Durchführung des «Obligatorischen» übertrug der Bund den lokalen Schützenvereinen, die im ganzen Land gegründet worden waren. Seit dem Schützenfest in Zürich im Jahr 1872 wurde auf die Distanz von 300 Meter gezielt. Anfang des 20. Jahrhunderts initiierte das Militärdepartement auch noch Kurse für Jungschützen. Das Schiessen wurde zum Breitensport.

Und so verblüfften die Schweizer an internationalen Wettkämpfen die Konkurrenz. Konrad Stäheli aus Egnach im Kanton Thurgau wurde zu einem der erfolgreichsten Schützen der Geschichte. Er holte 41 Goldmedaillen an Weltmeisterschaften und 3 Goldmedaillen an Olympischen Spielen. Doch das Schiessen war nie eine klinische Sportart, es blieb volkstümlich. 1937 gewannen Schweizer Athleten an den Weltmeisterschaften in Helsinki einen Bären. Er wurde fünf Tage auf dem Wasserweg, dann als «Express-Gut» nach Zürich gebracht und im Zoo gehalten, wo er sich aber nicht zu benehmen wusste – und man den «unduldsamen Pensionär» («Freiburger Nachrichten») loswerden wollte. Als im Zweiten Weltkriegs das Futter knapp wurde, erschoss man ihn und stellte sein Fell im neu eröffneten Schützenmuseum in Bern aus.

In jenen Jahren der Bedrohung erfuhr das Schiessen noch einmal eine ideologische Aufwertung. Der Schütze galt als wehrhafter Idealschweizer. 1939 zählte das Land über 6000 Scheibenstände in rund 3000 Gemeinden. Auch Frauen übten an der Waffe: «Stauffacherinnen lernen schiessen», berichtete die «Schützenzeitung» im Jahr 1944. Kurze Zeit später hiess es im Buch «Das Schiesswesen der Schweiz»: «Das Beispiel Wilhelm Tells ist uns Schweizern in Fleisch und Blut übergegangen.» Eine juristische Dissertation widmete sich gar den strafrechtlichen Konsequenzen, sollte jemand einen Eintrag im Schiessbüchlein fälschen. Fazit: Es sei ein weit schlimmeres Vergehen als eine irrtümliche Falschangabe bei der Steuererklärung.

Im Kalten Krieg hiess es: «Die Schweiz hat keine Armee, sie ist eine Armee.» Man hätte auch sagen können: Die Schweiz hat keine Schützenvereine, sie ist ein Schützenverein. Über eine halbe Million Mitglieder wurden damals gezählt, die Schützen hatten politisches Gewicht in Bern. Fast jede Wanderung führte an einem Schiessstand vorbei. Im Freien wurde geballert, was das Zeug hielt, auch abends und sonntags.

Inzwischen ist das Schiessen keine Selbstverständlichkeit mehr. Es kamen Klagen wegen Lärmbelästigungen und Umweltbelastungen. Der Bedeutungsverlust nach dem Ende des Kalten Kriegs schlug sich nicht nur in den Mitgliederzahlen nieder, sondern auch in der Topografie des Landes. Nicht wenige Schiessstände wurde geschlossen oder in den Untergrund verlegt, in die Keller anonymer Bauten in der Agglomeration – Safe Spaces für Schiessbegeisterte, die zunehmend ein Imageproblem bekamen: von den Wiedergängern Tells zu Waffennarren, die sich gegen strengere Waffenrichtlinien wehrten.

Die Schützenfeste sind längst nicht mehr Teil der politischen Berichterstattung, sondern finden sich höchstens noch in den Sportteilen der Zeitungen. Und je mehr der Schützenverband an Breite verlor, desto wichtiger wurde für ihn die Spitze – aber auch da gab es ein Problem.

«Weltnummer 1»

An den Olympischen Spielen von London im Jahr 2012 war man an einem Nullpunkt angelangt. Das beste Resultat war ein 11. Rang. Die Einschätzung in der NZZ: «Überwiegend kläglich». Der damalige Sportminister Ueli Maurer klagte einem Reporter, bei den Schützen sei es gewesen «wie bei einem Schützenfest»: «Es fehlten nur noch die Rössli-Stumpen.» Reformen sollten nun alles verändern.

Die Übergangsfigur auf dem Weg in die Zukunft war Heidi Diethelm Gerber aus Märstetten im Kanton Thurgau. An den Olympischen Spielen von Rio de Janeiro im Jahr 2016 gewann sie Bronze. Sie war 47 Jahre alt und hatte bis kurz davor das Marketing und die Buchhaltung von Tilsiter geleitet. Sie begann spät, an einem Firmenanlass in Weinfelden hatte sie erstmals «zum Spass» eine Pistole in der Hand. Nun posierte sie am Strand von Barra da Tijuca mit ihrer Medaille. In der «Schweizer Illustrierten» sagte ihre Mutter in der fernen Schweiz: «Schaut, wie sie strahlt! Es geht Heidi wirklich gut.»

«Es ging heftig die Post ab», sagte Heidi Diethelm Gerber, als sie sich fünf Jahre später in der Schiessanlage Hau oberhalb von Weinfelden auf die Spiele von Tokio vorbereitete. Die Diskrepanz zwischen olympischem Spitzensport und dieser Schiessanlage, die verlassen am Ende einer Strasse am Waldrand lag, hätte grösser nicht sein können. Irgendwo dazwischen befand sich das schweizerische Schützenwesen.

Heidi Diethelm Gerber war eine volkstümliche Olympiaheldin. Mit Nina Christen, die in Tokio zwei Medaillen gewann, mit Audrey Gogniat, der Bronzegewinnerin mit dem Luftgewehr, und mit Chiara Leone, der einzigen Olympiasiegerin von Paris, wandelte sich das Schiessen in der Schweiz wieder zum vorbildhaften Spitzensport – geprägt von erfolgreichen Frauen. Sie profitierten von dem Nationalen Leistungszentrum in Magglingen, das der Schützenverband im Jahr 2016 aufgebaut hat. Chiara Leone ist Profi-Sportschützin, sie hat eine Spitzensport-Rekrutenschule absolviert, und auf ihrer Website steht unter «Ziele»: «Weltnummer 1».

Sie ist die Spitzenschützin am vorläufigen Ende der langen Geschichte des Schweizer Schiessens. An diesem Wochenende in Aarau, am 200-Jahre-Jubiläumsfest des Schützenverbands, ist sie der Stargast. Sie soll dem Schiessen zu neuer, alter Breite verhelfen.

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