Drei Abfahrten, drei Doppelerfolge: Die Schweizer Abfahrer kommen mit einer historischen Serie zum Heimrennen in Wengen. Was macht sie so stark?
Zwei Jahre ist es nun her, seit Beat Feuz zum letzten Mal im Zielraum von Wengen abschwang. Das Lauberhorn war lange Jahre sein Berg gewesen. Dreimal gewann er in Wengen, und es musste in all den Jahren schon viel passieren, dass Feuz im Berner Oberland nicht zumindest auf dem Podest stand.
2023, bei seiner Dernière am Lauberhorn, wurde Feuz Fünfter. Er hatte schon ein paar Wochen zuvor angekündigt, dass er bald zurücktreten werde. Wengen, dann noch Kitzbühel, seine andere grosse Liebe, und danach: Schluss, aus, nach all den Jahren, in denen es oft genug so war, dass Feuz die Schweizer Abfahrer rettete. Dass es ihn gab, und hinter ihm lange niemanden mehr. Zwischen den Saisons 2014/15 und 2021/22 fuhr er 33 von 44 Weltcup-Podestplätzen des Schweizer Abfahrtsteams ein.
Natürlich ging es dann ziemlich wehmütig zu und her im Zielraum von Wengen. Aber der Mann, der alle ein bisschen traurig machte, sagte in seiner ganz eigenen Art, dass es gleich sei, wenn der Feuz dann weg sei. Weil man mit «all denen» noch viel Freude haben werde. Er meinte seine Schweizer Teamkollegen, allen voran die vier, die an jenem Tag mit ihm in die Top 10 gefahren waren: Marco Odermatt (2.), Niels Hintermann (7.), Gilles Roulin (8.) und Alexis Monney (10.).
Zwei Jahre ist das erst her, aber irgendwie fühlt sich das anders an, und wahrscheinlich hat es damit zu tun, dass Feuz recht hatte mit seiner Prognose: Die Schweiz hatte seither viel Freude an ihren Abfahrern. Sechs Rennen haben die Fahrer von Swiss Ski seit dem Rücktritt von Feuz gewonnen, drei davon allein in den drei bisherigen Abfahrten in dieser Saison, wobei jedes Mal hinter dem Schweizer Sieger gleich noch ein Schweizer lag.
Ein Schweizer und dann noch ein Schweizer, das gibt einen Doppelerfolg, und drei davon, das gab es in der laufenden Saison innerhalb von drei Wochen in Beaver Creek, Gröden und Bormio. Und davor in der Abfahrt höchstens alle paar Jahre einmal. 2022 in Kitzbühel. 2018 in Beaver Creek. 2011 in Bormio und Lake Louise.
Und drei Weltcup-Doppelerfolge in Serie, das gab es zuvor nur einmal in der Ski-Geschichte der Schweiz, dieser stolzen Abfahrtsnation. Das war in den goldenen 1980er Jahren – in der Zeit von Pirmin Zurbriggen, Peter Müller, Franz Heinzer und Daniel Mahrer.
Damit ist schon einiges gesagt. Doch erklärt ist es damit noch nicht.
Es geht erstaunlich gut ohne Feuz
Vielleicht braucht es hier nach all den Zahlen und den historischen Bezügen zuerst einmal einen Schuss Nüchternheit, und der Mann, von dem er kommt, heisst Marco Odermatt. Im letzten Jahr hat der Nidwaldner am Lauberhorn gewonnen. Er ist ein Skirennfahrer, wie ihn die Schweiz noch nie gesehen hat, bereits jetzt hat er mehr Weltcup-Rennen gewonnen als jeder andere Landsmann je zuvor, und das mit nur 27 Jahren.
Am Mittwochabend sitzt Odermatt in Wengen im Schweizer Teamhotel, es ist Medientermin, viel los, wie immer beim wichtigsten Heimrennen. Als er Erklärungen liefern soll für die Schweizer Dominanz in diesem Winter, zählt er die gute Form auf und die gute Arbeit, aber bald einmal spricht Odermatt über das Wettkampfglück, das die Schweizer in diesem Winter schon auch gehabt hätten.
Wettkampfglück, ja, das brauchte es, und ja: Mit Cyprien Sarrazin und Aleksander Aamodt Kilde fallen im Moment jene zwei Abfahrer, mit denen sich Odermatt in den letzten Wintern grosse Duelle geliefert hatte, verletzt aus. Sie wurden abgeworfen von den Pisten im Weltcup, Kilde im vergangenen Januar in Wengen, Sarrazin im Dezember in Bormio.
Wenn Kilde und Sarrazin immer dabei gewesen wären, wären die Schweizer jetzt vielleicht nicht mit drei Doppelerfolgen nach Wengen gekommen. Doch das ändert nichts daran, dass sie den Übergang in die Zeit nach Beat Feuz mit überraschender Leichtigkeit gemeistert haben. Und das wiederum stellt der Arbeit von Swiss Ski ein sehr gutes Zeugnis aus.
Feuz fährt heuer in Wengen erst das zweite Mal nicht mit, aber ins Berner Oberland ist er trotzdem wieder gekommen: Der 37-Jährige begleitet die Rennen als Experte für das Schweizer Radio und Fernsehen. Am Samstag, vor der Abfahrt, wird er die Lauberhornstrecke für die Kamerafahrt hinunterrasen.
Es hilft, wenn eine Weile alles gleich bleibt
Feuz ist weg, aber er ist immer noch da, in diesen Tagen in Wengen und überhaupt im Schweizer Abfahrtsteam. Als sich vor ein paar Jahren Marco Odermatt daran machte, die Abfahrtspisten dieser Welt zu erobern, stand ihm der routinierte Beat Feuz mit Rat und Tat zur Seite. Der Junge profitierte vom Alten und umgekehrt, so schildert es Feuz. «Ich hatte ihn gerne als Partner, weil er etwa bei der Linienwahl Ideen hatte, die mir nicht eingefallen wären – und er gleichzeitig meine Inputs so schnell umsetzen konnte», sagt Feuz.
In diesen Tagen schwärmen die Schweizer Abfahrer immer wieder von ihrem Teamspirit. Davon, wie sie sich miteinander austauschen, sich gegenseitig antreiben, «pushen», wie es im Sportler-Jargon heisst. Odermatt ist jetzt der Leader des Teams. Nun ist er es, der sein Wissen weitergibt. Wissen, das er einst auch von Feuz erworben hat. Und wenn einmal ein anderer gewinnt, dann freut sich Odermatt mit, und er sagt das nicht nur, sondern er freut sich wirklich.
Wenn Beat Feuz heute auf das Schweizer Abfahrtsteam schaut, dann fällt ihm auf, dass da junge Fahrer mit einem neuen Selbstverständnis nachrücken. Er meint Leute wie Alexis Monney, 25, und Franjo von Allmen, 23, beide blutjung. Zu jung für ein Abfahrtspodest, so besagen es alte Ski-Gesetze. Doch die setzte schon Odermatt ausser Kraft. Und von Allmen und Monney fahren in seinen Spuren. Der Berner war in diesem Winter schon zweimal Zweiter; Monney gewann zuletzt in Bormio. Früher, sagt Feuz, habe ihm beim Nachwuchs zuweilen der Biss gefehlt. «Jetzt ist das ganz anders», sagt er.
Von Allmen berichtete diese Woche in Wengen davon, was für ein cooles Gefühl es sei, wenn im Haneggschuss der Wind durch seinen Helm pfeife. Die Fahrer erreichen dort Geschwindigkeiten von bis zu 150 km/h, und von Allmen, der das alles geniesst, verkörpert das Unbekümmerte, Frische, Selbstbewusste, das Feuz meint.
Von Allmen und Monney sind die jungen Wilden in einem Schweizer Abfahrtsteam, das im internationalen Vergleich überhaupt sehr jung ist und reich an unterschiedlichen Athletenprofilen. Da ist etwa Justin Murisier, der in den technischen Disziplinen gross wurde, erst spät seine erste Abfahrt bestritt und mit seinen 33 Jahren schon der Teamsenior ist. In Beaver Creek errang er seinen ersten Abfahrtssieg. Da ist Stefan Rogentin, der Bündner, der sich kontinuierlich in die Weltspitze vorgearbeitet hat. Da ist Marco Kohler, der oft verletzt war, viele Rennen verpasst hat und dafür erstaunliche Ergebnisse abliefert. Und da ist, natürlich, Marco Odermatt, der Ausnahmefahrer.
Alle sechs fuhren bei der letzten Abfahrt in Bormio unter die ersten zwölf. Es war ein Rennen, in dem sich die ganze Breite der Schweizer Equipe zeigte. Diese Breite ist auch ein Verdienst von Reto Nydegger, dem Schweizer Abfahrtstrainer.
Nydegger ist seit 2019 Abfahrtschef von Swiss Ski, er folgte damals auf Andy Evers. Der Berner Oberländer kam aus Norwegen, wo er mit Kjetil Jansrud, Aksel Lund Svindal und Aleksander Kilde sehr erfolgreich war, zurück in die Heimat. An der WM in Åre in jenem Jahr hatte Carlo Janka für Aufsehen gesorgt, als er nach einem Rennen sagte, die Stimmung im Team sei wie tot, es gebe keine Emotionen.
Als er angefangen habe, sagt Nydegger, seien die Trainer uneinig gewesen. Man habe für sich und seine Trainingsgruppe geschaut, und wenn es im Trainerteam nicht stimme, dann wirke sich das negativ auf die Athleten aus. Nydegger sagt, diesen Geist habe er vertreiben wollen. «Meine Botschaft war: Es ist egal, aus welcher Trainingsgruppe der Sieger kommt, aber er muss Schweizer sein», sagt der Berner Oberländer.
Nydegger, der die Top-Athleten betreut, dazu Vitus Lüönd an der Schwelle vom Europa- zu Weltcup und Franz Heinzer im Europacup: Die drei Speed-Gruppentrainer werden gerade von allen Seiten gelobt. Sie haben ein fruchtbares Umfeld geschaffen, sind seit Jahren dabei und stehen für Kontinuität, so wie Tom Stauffer, der Männer-Cheftrainer, der diesen Posten bei Swiss Ski seit bald elf Jahren innehat.
Einen Odermatt kann kein System der Welt heranzüchten
Beat Feuz hat noch andere Zeiten erlebt, Zeiten, in denen die Chefetage «jedes Jahr gewechselt hat», wie er das etwas überspitzt formuliert. Als Athlet sei das «mühsam», weil mit jedem Führungswechsel eine neue Philosophie Einzug halte. Mittlerweile ist die Philosophie schon länger die gleiche. Und die Schweiz «gerade bezüglich Professionalität die Nummer eins im Ski-Weltcup», so Feuz.
Und das übergeordnete Ziel ist sowieso klar. Die Schweiz soll langfristig bleiben, was sie in den letzten Wintern fast immer war: die Ski-Nation Nummer eins, vor Österreich, dem ewigen Rivalen. Dafür investiert Swiss Ski einiges. Der Verband hat 2020 seine Strategie überarbeitet und sich zum Ziel gesetzt, eine breitere Basis zu schaffen. 30 Prozent mehr Athleten, 20 Prozent mehr Betreuer, 25 Prozent mehr Mittel, so lautet die Formel von Walter Reusser, dem CEO Sport.
Es ist der Versuch, den Erfolg zu systematisieren, man könnte auch sagen: den Zufall so weit wie möglich auszuschalten. Im Speed-Bereich, den der Verband mit Camps für Nachwuchskräfte und Gletschertrainings schon länger zusätzlich fördert, tragen die Investitionen Früchte. Bei den Technikern dagegen ist die Personaldecke zurzeit noch dünner, und dort rücken vor allem auch weniger junge Fahrer nach.
Das weiss auch Walter Reusser, der sagt, es könne schon passieren, dass wieder einmal ein anderes Land die Nummer eins sein werde. Und einen Ausnahmefahrer wie Odermatt könne sowieso «kein System der Welt entwickeln». Aber Weltklassefahrer, das zeigt das Speed-Team gerade, durchaus.