Die Partie Schweiz gegen Deutschland am Sonntag ist auch ein Aufeinandertreffen der grossen Mittelfeldstrategen Granit Xhaka und Toni Kroos. Siegt der laute Chef oder der leise?
Granit Xhaka: Gereift in Leverkusen
Es gibt so viele Möglichkeiten, einen Text über Granit Xhaka zu beginnen. Man könnte über die typisch schweizerische Debatte schreiben, wie schweizerisch Xhaka sei. Womöglich wäre es passend, die Erfolge und Skandale des 31-Jährigen zu thematisieren, es würde um grosse Siege gehen und stillose Gesten, um Tore und Provokationen, um Weltklasseleistungen wie im EM-Achtelfinal vor drei Jahren gegen Frankreich, um 15 Rote Karten in seiner Karriere und 170 Verwarnungen.
Granit Xhaka ist laut, unverstellt, furchtlos. Er polarisiert, er inspiriert, er fasziniert. Er ist so gross geworden, dass sich die Frage stellt: Wann ist einer in der Schweiz zu gross? Am Sonntagabend bestreitet er in Frankfurt gegen Deutschland sein 128. Länderspiel, als Rekordnationalspieler und Regisseur, als Captain und Chef. Und es sagt viel über seine Klasse aus, dass er wegen seiner Passsicherheit und Bedeutung für das Nationalteam mit dem brillanten deutschen Strategen Toni Kroos verglichen wird. Selbst wenn er ein anderer Typ ist, impulsiver und direkter neben dem Platz, härter und energischer auf dem Feld.
Man hat den Eindruck, Granit Xhaka habe sich im relativ fortgeschrittenen Fussballeralter noch einmal neu erfunden. Vor drei Jahren an der EM fragte die «NZZ am Sonntag»: «Ist Granit Xhaka ein guter Chef?» Und während der WM 2022 lautete eine Schlagzeile: «Guter Captain, schlechter Captain: Granit Xhaka spielt wieder einmal mit dem Feuer!»
Es ist nicht lange her – und doch irgendwie weit weg. Menschen, die Xhaka nahestehen, berichten von einem Reifeprozess in den letzten zwölf Monaten. Meistens jedenfalls: Ab und zu bricht der alte Granit durch, wenn er auf Social Media Ereignisse um den FC Basel und seinen Bruder Taulant kommentiert wie ein Wutbürger mit dem Smartphone zu Hause auf dem Sofa.
Grundsätzlich aber ist Xhaka im Sommer 2024, der kein Sommer ist, ein Granit Xhaka, der kein Granit Xhaka mehr ist. Er ist ruhiger geworden, er ist ein guter Chef, kein schlechter Captain, der letzte Platzverweis ist bald drei Jahre her. Vor dem ersten EM-Gruppenspiel gegen Ungarn sagte er, angesprochen auf seine Ziele am Turnier: «Wer mich kennt, der weiss, was ich jetzt antworten würde.» Aber Xhaka antwortete nicht, er wolle Europameister werden, er sagte, er nehme Spiel für Spiel, wie mit Bayer Leverkusen in dieser Saison. Und er habe eine «eigene Challenge» mit sich ausgemacht an dieser EM.
Womöglich wird man nur erfahren, wie diese Challenge aussieht, wenn die Schweiz den EM-Final erreicht oder sogar gewonnen hat. Vielleicht geht es auch einfach darum, entspannt zu bleiben, keine Dummheiten zu machen, sich nicht provozieren zu lassen, keine Reizfigur zu sein.
Xhaka war stilprägend beim 3:1 gegen Ungarn, er war blass beim 1:1 gegen Schottland, als ihn Scott McTominay in Manndeckung nahm, als sei Xhaka Diego Armando Maradona und das Jahr 1986. Es war die höchste Form von Wertschätzung für den Schweizer, der mit Leverkusen auf eine traumhafte Saison zurückblickt und der beste Bundesligaspieler war. Dominanter als seine Teamkollegen Florian Wirtz, Robert Andrich und Jonathan Tah, auf die er am Sonntag treffen wird – Andrich könnte sogar zum Double McTominays werden.
Es wäre trotz allem mutig, darauf zu setzen, dass Xhaka altersmilde geworden ist. Er hat in Leverkusen unter dem Trainer Xabi Alonso jedoch gelernt, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Im ersten Gespräch der beiden im Frühling 2023 hatten sie sich sofort darauf verständigt, dass Xhaka ein Sechser und kein Achter oder Zehner sei. Einer für den defensiven Aufbau also, ein Taktgeber, passsicher und spielintelligent und mit dem Gespür für Ball und Spiel, Raum und Zeit.
Xabi Alonso war einer der besten Sechser der Fussballgeschichte – es ist eine spezielle Anerkennung, hat der Spanier sein Meisterteam um Xhaka gebaut. In der Nationalmannschaft trägt Xhaka trotzdem die Zehn wie Maradona. Er hat auch bereits Teile der Trainerausbildung absolviert und ist längst eine Art Spielertrainer.
Der Schweizer Nationalcoach Murat Yakin ist eine kleinere Nummer als Xabi Alonso, als Spieler und als Trainer. Aber er war auch einmal ein Sechser, später Innenverteidiger, was übrigens eine Position ist, die Xhaka in ein paar Jahren durchaus entsprechen könnte. Yakin und Xhaka haben sich oft gerieben und gefetzt, sie haben sich mehrmals ausgesprochen, es scheint gerade alles ganz okay zu sein. EM. Ambitionen. Burgfrieden.
Das letzte Saisonspiel mit Leverkusen vor ein paar Wochen hat Xhaka mit einem schönen Weitschusstor entschieden: 1:0 im deutschen Cup-Final gegen den Zweitligisten Kaiserslautern. In Berlin. Dort, wo die Schweiz als Gruppenzweiter am nächsten Samstag den Achtelfinal bestreiten würde – und am 14. Juli den EM-Final.
Hört sich unrealistisch an? Wer hätte darauf gewettet, dass der ewige Verliererklub Leverkusen ungeschlagen das Double gewinnt? Andererseits gibt es immer noch den Gedanken, dass Xhaka auch an diesem Turnier nur eine Dummheit davon entfernt ist, mit dem Feuer zu spielen. Wenn die Schweiz am Sonntag Deutschland bezwingt, könnte es im Achtelfinal gegen Serbien gehen. Es wäre die ultimative Challenge für Granit Xhaka 2.0.
Toni Kroos: Champion in Madrid
Wer Toni Kroos in diesen Tagen beobachtet, dem offenbart sich eine seltene Erscheinung: Kroos wirkt wie ein äusserst zufriedener Fussballer. Diese Zufriedenheit steht nur scheinbar im Widerspruch zu der ständigen Herausforderung, der sich jeder Leistungssportler stellen muss. Nach dem 2:0-Sieg gegen Ungarn, der den Achtelfinal sicherte, erklärte er, dass er gerade «den besten Fussball» seiner Karriere spiele.
Das bedeutet beim 34-jährigen Kroos eine Menge: Sechsmal hat er die Champions League gewonnen, er wurde 2014 Weltmeister und nähert sich nun dem Ende seiner eindrücklichen Laufbahn. Nach diesem Turnier werde er unweigerlich Schluss machen, ganz gleich, wie weit die deutsche Nationalmannschaft kommen wird. «Lieber zu früh als zu spät» aufhören – nach dieser Maxime will er verfahren.
Die Selbstverständlichkeit, mit der Kroos sich im Kreis der deutschen Nationalmannschaft bewegt, ist bemerkenswert. Seine entspannte Haltung, manchmal fast lässig, könnte auf den ersten Blick aufgesetzt wirken. Die Generosität, mit der er Lob verteilt, erinnert an das berühmte Bild vom Onkel aus Amerika, der es dort zu etwas gebracht hat und der sich insgeheim am Neid der buckligen, daheimgebliebenen Verwandtschaft erfreut – und der nun, nach seiner dringlich erbetenen Rückkehr (Kroos war 2021 aus dem Nationalteam zurückgetreten), wie ein König hofiert wird.
Verdenken kann man es ihm nicht, denn Fussballdeutschland hat sich mit ihm äusserst schwer getan, und der blosse Umstand, dass dies so ist, sagt manches über die Fussballkultur im Land des viermaligen Weltmeisters aus. Nach fast 17 Jahren im Profifussball erkennen die Deutschen endlich, was für ein grandioser Spieler er ist: jemand, der den Rhythmus des Spiels nicht erspürt, sondern ihn wie selbstverständlich diktiert.
Neulich war zu lesen, dass ein Europacup-Match der Bayern in Belgrad der Beginn seiner Weltkarriere gewesen sei. Damals, 2007, war Kroos 17 Jahre alt, er war aus Rostock zu den Bayern gekommen. Er legte einen Treffer auf und erzielte ein Tor per Freistoss selber. Als der Bayern-Manager Uli Hoeness nach dem Schlusspfiff auf Kroos angesprochen wurde, ballte er sein Gesicht zur Faust und schrie den Reporter regelrecht an: Man solle den jungen Mann nicht hochjubeln. Es lohnt sich, diese Szene noch einmal anzusehen. Denn in ihr zeigt sich, wie dem jungen Kroos demonstrativ das Lob verweigert wird, das er sich verdient hatte. Und sie nahm vorweg, wie es ihm mit der Heimat ergehen würde.
Zwar fühlten sich die Skeptiker bestätigt, als Kroos zunächst Schwierigkeiten hatte, sich durchzusetzen, und nach Leverkusen ausgeliehen wurde. Auch seine Rückkehr nach München unter Louis van Gaal verlief holprig. Erst nach ein paar Jahren unter Jupp Heynckes konnte er sein Format zeigen.
Warum Kroos das deutsche Publikum lange nicht für sich einzunehmen vermochte, liegt auf der Hand. Seine Qualitäten offenbarten sich den Connaisseurs, wer sein Spiel nicht verstand, der nannte ihn «Querpass-Toni». Zumal Vorbehalte der deutschen Fussballfreunde gegenüber den Ästheten nicht neu sind: Günter Netzer, Andreas Möller und Mesut Özil können davon berichten, wie es ist, nicht entsprechend gewürdigt zu werden, weil die Körpersprache nicht dem Klischee des hart arbeitenden Fussballers entspricht. «Der macht sich das Trikot nicht schmutzig»: Solche Ressentiments trafen auch Kroos oft.
Er hatte auch das Pech, dass der heroisch anmutende Auftritt des blutverschmierten Bastian Schweinsteiger beim WM-Sieg gegen Argentinien die Aufmerksamkeit absorbierte und nicht die diskrete Art, in der Kroos das Spiel beruhigte, als es den Deutschen zu entgleiten drohte. Kroos war nie ein Blut-Schweiss-und-Tränen-Fussballer. Dennoch wurde seine enorme Härte lange unterschätzt.
Jüngst sagte Julian Nagelsmann, der Nationaltrainer, Kroos habe mit seinen 34 Jahren «einen Körper wie Stahl». Dass die Bayern Toni Kroos 2014, im Jahr des WM-Titelgewinns, gegen den Wunsch des damaligen Trainers Pep Guardiola zu Real Madrid ziehen liessen, wird inzwischen als einer der grössten Bayern-Fehler der jüngeren Vergangenheit betrachtet. Das Detail fügt sich in die Karriere des lange Verkannten. Doch hätte Kroos sich in diesem Masse entwickelt, wäre er in München geblieben?
Vieles spricht dafür, dass der Wechsel nötig war, um zu einem der grössten Mittelfeldspieler der Fussballgeschichte aufzusteigen. Irgendwann hat Kroos begriffen, dass es praktischer ist, die Deutungshoheit über die eigene Karriere zu haben. Deshalb produziert er einen Podcast und gibt ungern Interviews. Wenn ihm die Fragen nicht passen, kann er unwirsch reagieren. So wies er einmal einen ZDF-Reporter zurecht: «Da hast du neunzig Minuten Zeit, dir ordentliche Fragen zu überlegen. Und dann stellst du mir zwei so Scheissfragen», sagte er, nachdem er zum fünften Mal die Champions League gewonnen hatte. Diese Reaktion war überzogen, aber sie verriet, wie tief die Kränkungen waren.
Und nun ist er für ein paar Spiele zurück in Deutschland. Toni Kroos glaubt offenbar immer noch, der Heimat etwas beweisen zu müssen.