Donnerstag, Oktober 10

ESA-Forscher sind überzeugt, dass in den nächsten zehn Jahren auch Menschen in einen künstlichen Winterschlaf versetzt werden können. Bei Nagern lässt sich solch ein Starrezustand bereits auslösen.

«Ich bin überzeugt, dass es keinen biologischen Grund gibt, warum Menschen nicht auch Winterschlaf machen könnten», sagt Alexander Choukèr, Anästhesist an der Ludwig-Maximilians-Universität in München. «Allerdings brauchen Menschen – im Gegensatz zu manchen Tieren – diesen Mechanismus nicht. Schliesslich haben sie im Lauf der Evolution zahlreiche Strategien entwickelt, um potenziell lebensbedrohliche Situationen anders zu meistern.»

Doch möglicherweise gibt es künftig ein Szenario, in dem Winterschlaf für Menschen ein Segen wäre: für die Reise zum Mars oder zu noch weiter entfernten Zielen im Weltall. Davon sind zumindest die Raumfahrtbehörden ESA und Nasa überzeugt. Beide haben daher Forschungsprojekte zum menschlichen Winterschlaf initiiert, in denen Biologen, Medizinerinnen, Psychologen und Raumfahrttechnikerinnen zusammen forschen. Choukèr sowie der Zellbiologe Jürgen Bereiter-Hahn haben an dem Projekt der ESA intensiv mitgearbeitet.

Raumfahrtschlaf spart Material – und mindert Stress

Dauerschlafende Astronautinnen und Astronauten in der Weltraumfähre, das hätte gleich mehrere Vorteile. Die Personen benötigten auf dem monatelangen Flug zum Mars keine künstliche Ernährung. Somit gäbe es keine Probleme mit der Entsorgung von Verdauungsprodukten. Zudem blieben – anders als bei monatelanger Bettlägerigkeit – Muskeln und Knochen erhalten. Allerdings ist offen, ob das auch in der Schwerelosigkeit der Fall wäre, gibt Bereiter-Hahn in Interviews zu bedenken.

«Ein Raumfahrtschlaf auf dem Flug zum Mars erleichtert aber auch die gesamte Logistik», sagt Jennifer Ngo-Anh, Teamleiterin für Human and Robotic Exploration bei der ESA. Man spare ganz viel Nahrung, Wasser und Sauerstoff und könne so die Fähren kleiner und leichter gestalten. Gemäss ihren Berechnungen müssen pro Besatzungsmitglied und pro Tag insgesamt 30 Kilogramm an Verpflegung im weiteren Sinn mitgeführt werden. Und den Crewmitgliedern bliebe psychischer Stress erspart.

Angestrebt wird ein Starrezustand wie beim Bären

«Um eines klarzustellen: Es geht hier nicht um Schlaf im eigentlichen Sinne», betont Choukèr im Gespräch. Auch der Bär schlafe physiologisch gesehen nicht im Winter. Vielmehr gerate er in einen über Wochen anhaltenden Erstarrungszustand, von Experten als Torpor bezeichnet.

Der fundamentale Unterschied ist: Im Torpor ist der Stoffwechsel drastisch heruntergefahren. Beim skandinavischen Braunbären ist er um bis zu 75 Prozent reduziert. Seine Herzfrequenz sinkt von 40 auf 8 Schläge pro Minute, er atmet nur noch alle 45 Sekunden. Das bedeutet: Die Aktivität der Zellen ist heruntergefahren, der Bär produziert weder Urin noch Kot.

Er baut kaum Muskeln ab, auch seine Knochen bleiben erhalten. Somit ist er im Frühjahr nach dem Aufwachen innert weniger Tage wieder topfit – wenn auch sehr hungrig. Und müde. Denn er hat physiologisch betrachtet nicht geschlafen. Sein Gehirn braucht daher wieder richtigen Schlaf.

Die ESA-Forscher sind überzeugt: Der Bär sei der beste Modellorganismus, weil er ähnlich gross sei wie wir. Und er senkt im Winterschlaf seine Körpertemperatur nur auf 32 Grad ab. Das ist auch für den menschlichen Körper gerade noch erträglich, weil dann die Zellen und Gewebe keine irreparablen Schäden erleiden.

Doch so plausibel und auch faszinierend das alles klingt, es bleibt das grosse ungelöste Problem, wie man denn nun Menschen in den Torpor versetzen kann.

Einleitung durch Gehirnstimulation

Einige Hinweise, wie das bei diversen Tieren funktioniert, gibt es mittlerweile. So kennt man eine an der Einleitung beteiligte Hirnregion namens Raphe pallidus. Wird diese zum Beispiel durch ganz gezielte Ultraschallstösse bei Mäusen stimuliert, fallen sie in einen Starrezustand. Bei Ratten kann man diesen Zustand erzeugen, indem man ihnen einen Cocktail aus diversen im Gehirn aktiven Substanzen verabreicht. Nun wird untersucht, ob dieser künstliche Torpor dem natürlichen entspricht.

Allerdings: Noch ist völlig unklar, ob dieselben Eingriffe auch beim Menschen funktionieren. Wie lange sie aufrechterhalten werden müssten und, ganz wichtig, ob sie unschädlich wären.

Zudem wird überlegt, wie sich der Stoffwechsel der Zellen herunterfahren liesse. Ein Angriffspunkt sind die Mitochondrien, die Kraftwerke der Zelle. Forscher haben Substanzen identifiziert, die in der Zellkultur den Stoffwechsel der Mitochondrien stark reduzieren.

Auch wurden zwei Gene aufgespürt, die dafür sorgen, dass sich der Stoffwechsel im tierischen Winterschlaf auf die Nutzung ausschliesslich von Fett umstellt. Daraus entstehen als endgültige Abbauprodukte nur Wasser und Kohlendioxid. Ersteres nutzt der Körper im Winterschlaf, Letzteres geht einfach in die Umgebungsluft. Werden hingegen Proteine abgebaut, müssen die entstehenden Amine via Blase und Darm entsorgt werden.

Diese genetischen Schalter besitzt auch der Mensch. Doch nicht nur deshalb sind die ESA-Forscher davon überzeugt, dass der menschliche Körper prinzipiell in der Lage ist, in eine Art Torpor zu fallen – und auch wieder herauszukommen.

Babys fallen während Geburt kurzfristig in Starrezustände

Es gibt Hinweise, dass in Föten vor, während und direkt nach der Geburt ein genetisches Programm für Torpor-ähnliche Mechanismen aktiv ist. So hat der Hamburger Kinderarzt Dominique Singer beschrieben, dass Föten in der Gebärmutter einen stark reduzierten Stoffwechsel relativ zu ihrer Grösse aufweisen. Dadurch passt sich der Fötus an seine sauerstoffarme Umgebung an.

Dann wird die Herzfrequenz während des Geburtsvorgangs immer wieder gedrosselt, wenn der Sauerstoff knapp wird, zum Beispiel wenn im engen Geburtskanal Druck auf die Nabelschnur ausgeübt wird. Das sei vergleichbar mit der stark verminderten Herzfrequenz im tierischen Winterschlaf, sagt Singer. Last, but not least wird direkt nach der Geburt das braune Fettgewebe des Neugeborenen aktiviert, das Baby zittert, um Wärme zu produzieren. Das ähnele dem Aufwachmodus nach dem Winterschlaf.

Choukèr ist überzeugt, dass sich der Beginn des Torpors beim Menschen pharmakologisch auslösen lasse. Viel problematischer sei dagegen die Vorbereitungsphase. Der Bär pendelt sich über Wochen hinweg sozusagen in die Starre hinein. Er füllt seine Fettdepots auf, hat immer wieder Phasen mit geringerer Körpertemperatur. Es ist momentan noch völlig unklar, ob und wie man den menschlichen Körper auf den Starrezustand vorbereiten sollte. Das Aufwachen hingegen verlaufe vermutlich automatisch, wenn die Stimuli für den künstlich erzeugten Torpor wegfielen, meint der Mediziner.

Könnte Kühlung eine Lösung sein?

In den USA wird eine Alternative zum Winterschlaf des Bären erforscht. Die amerikanische Firma Space Works will im Auftrag der Nasa eine Art Raumfahrtschlaf durch regelmässige Kühl- und Aufwachzyklen erreichen. Denn auch durch Kühlung wird der Stoffwechsel heruntergefahren. Eine Kurzzeitkühlung für Stunden oder wenige Tage wenden Ärzte bereits heutzutage an, wenn tödliche Schäden drohen, zum Beispiel nach einer Gehirnverletzung.

Doch es ist unklar, wie lange der Körper gekühlt überlebt. Zudem sei solch eine Kühlung unphysiologischer als ein anders eingeleiteter Torpor, wendet Choukèr ein. Denn beim tierischen Winterschlaf wird zuerst der Stoffwechsel reduziert, und dadurch sinkt die Körpertemperatur. Es ist also der umgekehrte Vorgang als bei der künstlichen Kühlung. Zudem müssten die gekühlten Astronauten künstlich ernährt werden, was dann Probleme mit Verdauungsprodukten hervorrufe, so Bereiter-Hahn.

Unabhängig davon, wie die Raumfahrer nun in den Starrezustand gelangen, klar ist: Ihr Zustand muss kontinuierlich mittels Sonden überwacht werden. Beide Raumfahrtorganisationen stellen sich vor, dass die Astronauten den Winterschlaf verkabelt in Hightech-Kabinen absolvieren – ähnlich jenen in Science-Fiction-Filmen. Die Überwachung könnte dann teils vom Boden aus, teils mit Unterstützung von KI-Systemen an Bord geschehen. Oder ein Teil der Crew «schlafe», während der andere überwache.

Gelingt es dereinst, Menschen in einen künstlichen Winterschlaf zu versetzen, wäre das nicht nur in der Raumfahrt hilfreich. Ärzte könnten zum Beispiel Menschen mit Organversagen in einen Torpor versetzen, während auf ein Spenderorgan gewartet wird. Zudem würde man auch beim Spenderorgan selbst den Stoffwechsel kontrolliert herunterfahren, um es sozusagen frisch zu erhalten.

ESA-Wissenschafterin Jennifer Ngo-Anh ist überzeugt: «In zehn Jahren können wir Menschen in künstlichen Torpor versetzen.» Sollte das tatsächlich in zehn oder auch erst zwanzig Jahren der Fall sein, dann werde die erste Person aber kein Astronaut sein, sondern ein schwerkranker Patient, der ohne diese Intervention sterben würde, sagt Choukèr.

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