Mittwoch, Oktober 9

Der Thwaites-Gletscher und seine Nachbarn sind im Klimawandel stark gefährdet. Die Befürchtung, dass wegen ihres Zusammenbruchs der Meeresspiegel bis 2100 um zwei Meter steigen könnte, hält aber einer Überprüfung nicht stand.

Wie schnell die Gletscher der Antarktis durch die globale Erwärmung schmelzen und zerfallen werden – diese Frage bewegt nicht nur Wissenschafter. Städteplaner in Küstengemeinden wollen wissen, wie rasch der Wasserpegel im Extremfall steigen könnte. Sie wollen vermeiden, dass neu gebaute Siedlungen schon bald in den Fluten versinken.

Laut einer neuen Studie bleibt die Gefahr, die von den Gletschern der Antarktis für den Anstieg des Meeresspiegels ausgeht, zwar beträchtlich, vor allem auf lange Sicht. Doch der Extremfall für das 21. Jahrhundert sieht weniger dramatisch aus, als dies in jüngerer Zeit befürchtet worden war.

Die Sorge über den Anstieg des Meeresspiegels ist vor allem mit den Gletschern der Westantarktis verknüpft. Diese Eisströme münden direkt ins Meer. Vom reinen Schmelzen abgesehen gibt es mehrere Mechanismen, die ihren Schwund beschleunigen können. Zum Beispiel kann warmes Meerwasser, das unter die schwimmenden Eiszungen vordringt, diese von unten abschmelzen. Von dieser Bremse befreit, könnten sich die Gletscher noch schneller Richtung Meer bewegen und mehr Eismasse als bis anhin verlieren.

Der Kollaps von Eiskliffs ist ein Extremszenario

Zusätzliche Unruhe in Fachkreisen löste vor neun Jahren eine Studie von drei Wissenschaftern in den USA aus. Robert DeConto, David Pollard und Richard Alley spekulierten über einen weiteren Mechanismus des Gletscherzerfalls. Sie untersuchten, was passiert, wenn ein Gletscher die schützende Eiszunge schon verloren hat, die auf dem Meer schwimmt. Ohne das sogenannte Eisschelf sieht das Ende des Gletschers wie ein hohes Kliff aus Eis aus – und das ist nicht unbedingt stabil.

Ragt dieses Eiskliff rund hundert Meter oder mehr über den Meeresspiegel, so muss man laut den Wissenschaftern damit rechnen, dass der Gletscher von selbst zerfällt, gleichsam wie ein zu hohes Kartenhaus: Durch das Eigengewicht brächen dann ständig weitere Eisbrocken ab. Dieser Vorgang setzte sich immer weiter fort, der Gletscher kollabierte geradezu. «Marine Ice Cliff Instability» (Mici) tauften die Forscher diesen Mechanismus.

Durch Mici, so hiess es in Folgestudien, könnte die Antarktis bis zum Jahr 2100 doppelt so viel zum Anstieg des Meeresspiegels beitragen, als zuvor befürchtet worden war. Dieses Extremszenario hat es sogar in den letzten Uno-Klimabericht von 2021 geschafft.

Laut dem Klimabericht kann der Meeresspiegel im schlimmsten Fall bis 2100 höchstens um einen Meter steigen – wenn man nur Prozesse berücksichtigt, die gut verstanden sind. Der Mici-Mechanismus zählt aber nicht dazu, bei ihm ist die Ungewissheit noch sehr gross.

Zusammen mit anderen Mechanismen könne Mici im Extremfall dazu führen, dass der Meeresspiegel bis 2100 sogar um mehr als zwei Meter steige, heisst es im Uno-Klimabericht. Dann würden zum Beispiel weite Küstenbereiche von Florida überschwemmt werden, und an der Nordsee müssten die Deiche wesentlich höher ausgebaut werden.

Der Mici-Mechanismus wurde mit drei Modellen überprüft

DeConto, Pollard und Alley hatten die Instabilität namens Mici allerdings nur mit einem recht einfachen Rechenmodell durchgespielt. Ein Team um Mathieu Morlighem vom Dartmouth College in New Hampshire in den USA ist dem Mechanismus jetzt mit drei Gletschermodellen, die viel detaillierter sind, auf den Grund gegangen.

Laut der neuen Studie ist es höchst unwahrscheinlich, dass die Gletscher der Westantarktis im 21. Jahrhundert aufgrund von Mici kollabieren werden. Konkret untersucht haben die Forscher den Thwaites-Gletscher, der in dieser Hinsicht als besonders instabil gilt. Im Magazin «Scientific Advances» ist ihre Arbeit nachzulesen.

Das Team um Morlighem nutzte zur Berechnung der Instabilität eine neue Rechenmethode, die zuvor entwickelt worden war. Um sicherzugehen, analysierten die Forscher die Entwicklung des Thwaites-Gletschers mit drei Modellen, die sich leicht voneinander unterscheiden. Zu einem Kollaps des Gletschers aufgrund des Mici-Mechanismus kam es in keinem der Modelle.

Die Forscher weisen aber auch darauf hin, dass der Thwaites-Gletscher für andere Instabilitäten anfällig ist und in den kommenden hundert Jahren weiter schnell Eis verlieren wird.

Andere Fachleute stimmen der Studie zu

Eric Rignot, ein Glaziologe von der University of California, lobt die Modellierung in der Studie, an welcher er nicht beteiligt war. Die Mici-Hypothese sei zu Recht infrage gestellt worden, findet er. Die Hauptursache für die rasche Destabilisierung von Gletschern liegt nach seiner Auffassung in den Wechselwirkungen zwischen dem Eis der Antarktis und dem Ozean. Darüber müsse man noch mehr lernen.

Der Kollaps von Eiskliffs sei noch nie in der Realität in der Antarktis beobachtet worden, kommentiert Frank Pattyn von der Université libre de Bruxelles – auch er hat nicht an der Studie mitgewirkt. Der Glaziologe hält die Arbeit des Teams um Morlighem für wichtig und gut gemacht.

Möglicherweise werden die Autoren des nächsten Uno-Klimaberichts das Extremszenario (eine potenzielle Anhebung der Ozeane um zwei Meter bis 2100) also wieder ausschliessen. Pattyn erinnert allerdings daran, dass es auch ohne den Mici-Mechanismus einen beträchtlichen Anstieg des Meeresspiegels geben wird. Ein Meter mehr bis 2100 – das ist nach wie vor im Rahmen des Möglichen.

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