Israelische Forensiker haben die von der Hamas übergebenen Kinderleichen als Kfir und Ariel Bibas identifiziert. Die Überreste ihrer Mutter befinden sich aber wohl noch in Gaza. Was bedeutet das für die Feuerpause – und die Hinterbliebenen?
Erst mitten in der Nacht waren die Untersuchungen abgeschlossen: Die israelischen Forensiker konnten die Identität von drei der vier getöteten Geiseln bestätigen, die die Hamas am Donnerstag an Israel übergeben hatte. Der Leichnam des 83-jährigen Oded Lifshitz war schon am Donnerstagnachmittag identifiziert worden. Gegen ein Uhr morgens teilte die israelische Armee dann mit, dass es sich bei den zwei Kinderleichen tatsächlich um Ariel und Kfir Bibas handle. Doch der vierte Leichnam ist gemäss der forensischen Untersuchung nicht deren Mutter Shiri Bibas – sondern eine unidentifizierte Frauenleiche.
Die sterblichen Überreste von Shiri Bibas befinden sich demnach immer noch im Gazastreifen. Israels Militär stellte klar, dass es die Zurückhaltung des Leichnams von Shiri Bibas als einen schweren Bruch des Abkommens für die Waffenruhe werte. Am Freitag sagte ein hochrangiges Hamas-Mitglied gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters, dass die sterblichen Überreste von Shiri Bibas sich mit Leichenteilen anderer Menschen im Schutt vermischt hätten, nachdem ein israelischer Luftangriff sie getötet habe.
Die Hamas behauptet seit Monaten, dass Shiri Bibas und ihre beiden Söhne im November 2023 bei einem israelischen Luftangriff getötet worden seien. Israel hatte ihren Tod bis zuletzt nie bestätigen können. Nun allerdings sind die Forensiker zu einem finsteren Befund gekommen: «Ariel und Kfir Bibas wurden im November 2023 von Terroristen in der Gefangenschaft brutal ermordet», teilte die Armee mit. Konkrete Details zu den Umständen des Todes nannte sie nicht.
Israels Ministerpräsident Benjamin Netanyahu verurteile am Freitag den «unglaublichen Zynismus» der Hamas in einer Videobotschaft. Israel werde entschlossen handeln, um den Leichnam von Shiri Bibas zurückzubringen, und sicherstellen, dass die Hamas für den Bruch des Abkommens einen Preis zahle. Netanyahu schloss seine Ansprache mit den Worten: «Möge Gott ihr Blut rächen – auch wir werden es rächen.» Die Frage stellt sich: Wie geht es nun mit der fragilen Waffenruhe weiter?
Kommen weitere Geiseln frei?
Im Austausch für die vier getöteten Geiseln sollte Israel am Samstag Frauen und Minderjährige aus dem Gazastreifen freilassen, die während des Kriegs ohne Anklage inhaftiert wurden. Es ist davon auszugehen, dass diese Freilassung nun verspätet stattfindet oder ganz ausbleibt. Ähnlich wie bei früheren Verletzungen der Übereinkunft durch die Hamas wird Israel wohl den Druck auf die Terrororganisation erhöhen, den vollständigen Kollaps des Abkommens allerdings vermeiden wollen.
Wie die israelische Zeitung «Yedioth Ahronoth» berichtet, will Israel die Waffenruhe trotz dem Bruch der Vereinbarung durch die Hamas vorerst fortsetzen. Gemäss der Übereinkunft zwischen Israel und der Hamas soll die Terrororganisation schon am Samstag sechs lebende Geiseln freilassen. Israel soll im Gegenzug Hunderte palästinensische Gefangene entlassen, unter ihnen auch hochrangige Hamas-Mitglieder.
Einen Kollaps der Waffenruhe – und damit ein Ende der Geiselfreilassungen – fürchten auch die Angehörigen jener Verschleppten, die immer noch von der Hamas im Gazastreifen festgehalten werden. Am Freitag teilte das Forum der Geiselfamilien mit, Israel müsse sich «entschlossen dafür einsetzen, dass das Abkommen eingehalten wird».
Gleichzeitig drängte die Organisation auf ein «weises» Vorgehen. «Jeder Schritt muss mit grosser Verantwortung unternommen werden, um die sichere Rückkehr aller Geiseln zu gewährleisten.» Ähnlich äusserte sich auch der Kibbuz Nir Oz, aus dem die Familie Bibas am 7. Oktober 2023 entführt worden war. Der Kibbuz unterstütze weiterhin die Forderung der Familie Bibas: «Freilassung, keine Rache», hiess es in einer am Freitag veröffentlichten Mitteilung.
Obwohl die Empörung in Israel gross ist, bleibt es unwahrscheinlich, dass das Abkommen mit der Hamas wegen der Zurückhaltung von Shiri Bibas’ sterblichen Überresten kollabiert. Laut einer kürzlich veröffentlichten Umfrage wollen 61 Prozent der Israeli die Waffenruhe bis zur zweiten Phase fortsetzen, die ein Ende des Kriegs vorsieht. 68 Prozent der Israeli gaben an, dass die Rückkehr aller Geiseln das wichtigste Kriegsziel sei.
Was bedeutet das für die Hinterbliebenen?
Für die Mitglieder der Familie Bibas ist die Zurückhaltung der sterblichen Überreste von Shiri Bibas ein schwerer Schlag. Die physische und psychische Gesundheit der Angehörigen von verstorbenen Geiseln habe sich massiv verschlechtert, sagte der Arzt Hagai Levine, der das Gesundheitskomitee des Geiselforums leitet, am Vorabend der Übergabe der toten Geiseln. «Bis die Familien keinen vollständigen Beweis für den Tod haben, können sie nicht abschliessen.»
Das bestätigen auch Ruby und Hagit Chen, die am Mittwochabend mit Journalisten sprachen. Sie sind die Eltern von Itay Chen. Der 19-jährige Wehrdienstleistende war am 7. Oktober von den Terroristen an der Grenze zum Gazastreifen ermordet worden, seine Leiche wurde verschleppt. «Bis Itay nicht wieder zu Hause ist, können wir nicht anfangen zu trauern», sagt seine Mutter Hagit. Wie Hagit Chen geht es wohl auch den Mitgliedern der Familie Bibas und über 30 weiteren Familien. Noch befinden sich 70 israelische Geiseln im Gazastreifen. Rund die Hälfte von ihnen soll gemäss Angaben der Armee nicht mehr am Leben sein.