Montag, Februar 3

Satanic Panic im Leutschenbach: SRF hat wiederholt die Verfehlungen von Traumatherapeuten thematisiert. Nicht immer mit der nötigen Sorgfalt.

«Hat sie dir gesagt, du hättest Säuglinge geopfert?», fragt der SRF-Journalist Robin Rehmann die junge Frau. Und sie antwortet: «Ja, mit einem rituellen Schnitt quasi, dann nachher das Herz entnommen und das Blut getrunken.» Die Szene steht ganz am Beginn des Beitrags mit dem Titel «Der Fall Leonie». Entstanden seien die falschen Erinnerungen in der Psychotherapie, erklärt Rehmann.

Optimieren Sie Ihre Browsereinstellungen

NZZ.ch benötigt JavaScript für wichtige Funktionen. Ihr Browser oder Adblocker verhindert dies momentan.

Bitte passen Sie die Einstellungen an.

Damit ist gleich von Anfang an offenkundig, wer in dieser abgründigen Geschichte eine der Bösen sein soll: die Psychotherapeutin Veronika Meili* aus dem Kanton Bern. Und wer das Opfer: Meilis Patientin, die mit dem richtigen Vornamen Leonie auftritt und ihr Gesicht zeigt. Ihr soll die Therapeutin eingeredet haben, sie sei rituell missbraucht und von Tätern «programmiert» worden.

Diese «Fehltherapie» stand laut den SRF-Journalisten am Anfang von Leonies Leidensweg. Sie galt als Paradebeispiel für das Wirken irregeleiteter Psychologen und Mediziner, die an Verschwörungstheorien und nicht existierende teuflische Täterkreise geglaubt hätten, vor denen sie ihre Patientinnen um jeden Preis schützen wollten. Und die diesen damit massiv schadeten. Die Affäre ging als «Satanic Panic» in die Schweizer Geschichte ein.

Robin Rehmann und seine Kollegin Ilona Stämpfli äussern im Video vom Januar 2023 immer wieder demonstrativ ihr Entsetzen über Leonies Schicksal. Und auch als Zuschauer fragte man sich zwangsläufig: Wie ist so etwas nur möglich?

Nun liefern zwei Untersuchungsberichte die Antworten. Doch diese fallen ziemlich anders aus, als man es nach dem SRF-Beitrag erwartet hätte: Das Berner Gesundheitsamt entlastet die Therapeutin ebenso von den Vorwürfen in Bezug auf Satanic Panic wie die Berufsethikkammer des Psychologenverbands FSP.

Die FSP übt zwar in gewissen Punkten Kritik an Meilis Therapie. Dennoch ist das Verdikt für sie eine Genugtuung. Die Affäre Leonie habe sie enorm belastet, sagt sie bei einem Gespräch im Büro ihres Anwalts in Bern. Sie habe unter der «medialen Hexenjagd» gelitten. Und unter der Angst, dass die Angelegenheit negative Konsequenzen für ihre berufliche Zukunft haben könnte.

25-mal in der Klinik

Meilis Geschichte mit der Patientin, die sie an ihre Grenzen bringt, beginnt im Sommer 2015. Leonie ist da 20 Jahre alt und hoch suizidal. Allein 2015 ist sie rund 25-mal in einer psychiatrischen Klinik. Meili, die eine Ausbildung als Traumatherapeutin absolviert hat, versucht, die junge Frau so gut wie möglich zu stabilisieren.

Zusammen mit dem Psychiater, bei dem sie angestellt ist, stellt Meili auch eine neue Diagnose: dissoziative Identitätsstörung (DIS), früher multiple Persönlichkeitsstörung genannt. Laut Experten alternieren bei dieser Krankheit zwei oder mehrere Identitäten («Anteile») in derselben Person. Die Ursache sei normalerweise ein «überwältigendes Trauma».

DIS-Patienten gelten als besonders anspruchsvoll, unter anderem, weil es für die Therapeuten sehr schwierig ist, mit einem Patienten Abmachungen zu treffen, wenn diese bei manchen Anteilen gar nicht ankommen.

Die Diagnose der dissoziativen Identitätsstörung ist zwar wissenschaftlich anerkannt, unter psychiatrischen Praktikern allerdings stark umstritten – und sie steht im Zentrum der Satanic-Panic-Affäre. Denn manche Patientinnen leiden an einer dissoziativen Amnesie: Sie haben einen Teil ihrer Persönlichkeit abgespalten, um sich vor speziell schmerzhaften Flashbacks zu schützen.

Suggestion und falsche Erinnerungen

Es gibt Therapeuten, die sich auf die Suche nach diesem verschütteten Trauma machen. Und dabei – so die Kritiker – auch auf falsche Erinnerungen stossen oder diese gar suggerieren. Etwa Erinnerungen an blutige Rituale mit geopferten Babys.

Veronika Meili, die bereits mehrere Patientinnen mit DIS behandelt hat, weist solche Vorwürfe weit von sich. «Ich habe nichts mit diesen Verschwörungstheorien am Hut.» Leonie sei bereits mit einem Narrativ in die Therapie gekommen, das von Gewalt, sexuellem Missbrauch, Ausübung von emotionalem Zwang, Gedankenkontrolle und organisierten, im Untergrund agierenden Tätern durchsetzt gewesen sei.

Dafür gibt es mehrere Belege. Etwa eine Mail, in der Leonie kurz nach Beginn der Therapie in drastischen Worten beschrieb, wie ein naher Familienangehöriger sie mehrmals vergewaltigt habe. Ob das tatsächlich passierte, ist fraglich. Aber der mögliche sexuelle Missbrauch in der Vergangenheit oder auch in der Gegenwart blieb ein zentrales Thema in der Therapie. Meili machte auch mehrere Gefährdungsmeldungen bei der Kesb. Die Staatsanwaltschaft Solothurn leitete daraufhin ein Strafverfahren gegen Unbekannt ein, liess Leonie sogar observieren.

Regelmässig sexueller Gewalt ausgesetzt

Aus Sicht des SRF-Journalisten Rehmann war das alles ein Hirngespinst von Meili. Dabei verweist er auf den Ermittlungsbericht von 2018, der zu dem Schluss kam, dass die von Leonie gemeldeten Ereignisse und Übergriffe zu einem hohen Prozentsatz komplett ausgeschlossen werden könnten.

Allerdings gibt es auch einen Brief der Universitätsklinik für Frauenheilkunde in Bern vom Juni 2017, in dem zwei Ärztinnen der Kesb schreiben, Leonie habe sich in den vorangegangenen vier Monaten mehrfach notfallmässig bei ihnen vorgestellt und von sechs Übergriffen berichtet. «Aufgrund der Untersuchungsbefunde ist davon auszugehen, dass die Patientin regelmässiger sexueller Gewalt ausgesetzt ist.»

Die Therapeutin Meili sagt, angesichts der Indizien sei es schlicht ihre Pflicht gewesen, die Behörden auf eine mögliche Gefährdung Leonies hinzuweisen – trotz allen Zweifeln. Doch solche Überlegungen haben wohl nicht in die These der SRF-Journalisten gepasst. Geht man davon aus, dass die Beschuldigungen gegen obskure Täterkreise falsch waren, hätte man sich auch fragen können, ob das Problem nicht vielmehr bei der Person liegt, die sie erhoben hat. Und wie glaubwürdig Leonie als Zeugin grundsätzlich ist.

Denn die Widersprüche bei ihren Aussagen sind eklatant. Im Film gibt es eine Szene, in der Leonie sagt, sie sei «ganz normal» aufgewachsen. Doch bereits mit 15 Jahren reichte sie eine Strafanzeige wegen sexueller Übergriffe ein. Später erklärte sie, es seien der nahe Familienangehörige und andere Personen gewesen. Die Behörden fanden keine Hinweise auf solche Vergehen und leiteten ein Strafverfahren wegen Irreführung der Rechtspflege gegen die junge Frau ein.

Eine glaubwürdige Zeugin?

2016, wenige Monate nach dem Beginn der Therapie bei Veronika Meili, kam eine forensische Gutachterin zu dem Schluss, Leonie sei aufgrund ihrer Krankheit nur teilweise fähig, das «Unrecht ihrer Taten» einzusehen. Wegen der schweren Störung der Struktur der Persönlichkeit sei mit hoher Wahrscheinlichkeit damit zu rechnen, dass sie auch «weiterhin Delikte zur Anzeige bringen wird, deren tatsächliche Ausführung nicht nachweisbar oder sogar widerlegbar ist».

Dennoch hinterfragen die SRF-Journalisten die Aussagen von Leonie, die im Film vernünftig und reflektiert wirkt, nicht wirklich. So kann sie behaupten, ihre Therapeutin habe sie für einen «Schutzaufenthalt» nach Südafrika geschickt, damit sie Distanz habe zu den Tätern. Laut Meili hat es sich dabei jedoch um einen normalen Sprachaufenthalt gehandelt.

Zudem soll die Therapeutin Leonie Bücher gegeben oder empfohlen haben, die sich mit ritueller Gewalt und «Mind-Control» befassten. Mind-Control ist ein hochumstrittenes Konzept, laut dem Täter mit «Spezialwissen» ihre Opfer manipulieren. Die Täter könnten mit Folter oder dem Erzeugen von Todesangst sogar gezielt die Psyche der Opfer spalten und so eine dissoziative Identitätsstörung hervorrufen, um ihre Taten zu verschleiern.

Zu den Verfechtern dieser These gehörte einst auch der Berner Psychiater Jan Gysi – Vordenker der Traumatherapie in der Schweiz und einer der Supervisoren von Veronika Meili. Mittlerweile distanziert sich Gysi von solchen Aussagen: Es gebe keine wissenschaftliche oder kriminologische Evidenz für absichtliche Spaltungen im Rahmen einer DIS.

«Opfer zu Ehren Satans»

In einer Textnachricht aus dem Jahr 2021 an ihre Patientin erklärte auch Meili, dass jemand ihr – also Leonie – eine «Spaltung (DIS) aufgezwungen» habe. Doch die Bücher zu Mind-Control habe nicht sie Leonie gegeben, betont Meili heute. «Sie hat sie selbst mitgebracht.»

Auch sonst gibt es mehrere Indizien dafür, dass es Leonie war, die die Themen Satanismus und Mind-Control in die Therapie eingebracht hat. So berichtete sie 2017 in einem Whatsapp-Chat von «Opfern zu Ehren Satans» und schilderte, mit welchem Schnitt die Babys getötet werden müssten.

Als Beweise für ihre anderslautende These präsentierten die SRF-Journalisten mehrere Textstücke von Meili, die in der Tat vermuten lassen, dass sie solche Erzählungen für bare Münze genommen haben könnte. So schrieb sie einem Polizisten: «Gemäss Plan müsste heute ja Ritual sein (Abschluss Fest und Mond).» Meistens fänden die Mondrituale laut der Patientin auf einem Friedhof oder in einer Burg statt und fingen «zur dunklen Stunde (also nach Mitternacht)» an.

Schutz vor den Tätern

Und in einer vom delegierenden Psychiater verfassten, von Meili mitunterschriebenen Gefährdungsmeldung wurde festgehalten, dass gemäss Hinweisen aus der Therapie nicht auszuschliessen sei, dass die Patientin im Rahmen von Kultritualen auch anderen Menschen Gewalt antue. Sie müsse vor den «ständigen ‹Programmierungen›» geschützt werden. Die Glaubhaftigkeit der Aussagen von Leonie sei als «relativ hoch» einzuschätzen.

Dennoch sagt Meili heute, aus den damaligen Formulierungen lasse sich nicht ableiten, dass sie selbst an solche Machenschaften geglaubt habe. «Ich habe vor allem das Wording von Leonie übernommen.» Diese Erklärung hielt auch die Berufsethikkammer des Psychologenverbands für plausibel: Es gebe keine genügenden Anhaltspunkte für einen entsprechenden Glauben Meilis.

Meili findet es ungerecht, dass SRF ihr vorwarf, sie habe ihrer Patientin nicht existente Verbrechen suggeriert. «Wenn ich ihr ins Gesicht gesagt hätte, das gebe es alles nicht, dann wäre das auch Suggestion gewesen.» Eine Therapeutin könne in einem Fall wie jenem von Leonie nicht davon ausgehen, dass es gar keine Gewalt und keine Täter gebe. Und das Interesse, das eine Therapeutin für die teilweise phantastischen Erzählungen einer Patientin zeige, sei nicht dasselbe, wie jemanden in seinen Wahnvorstellungen noch zu bestärken.

Subjektiver Journalismus

Der Beitrag erschien zuerst im Online-Reportageformat des Schweizer Fernsehens namens «rec.» und wurde später in einer leicht gekürzten Fassung auch in der «Rundschau» ausgestrahlt. Bei «rec.» ist keine Spur vom sonst meist nüchternen SRF-Journalismus. In dem Format, das ein junges Publikum ansprechen soll, stehen die Journalisten oft selbst vor der Kamera und geben ihrem subjektiven Empfinden viel Platz, laut SRF «ungefiltert und authentisch».

Das Konzept soll zwar den gleichen strengen journalistischen Standards wie alle SRF-Produktionen unterliegen. Aber es führt manchmal zu Szenen mit ironischer Note. Etwa, wenn Rehmann ganz nah bei Leonie, die er duzt, auf einer Bank sitzt – und den Umstand, dass die Therapeutin und «jüngere Persönlichkeitsanteile» von Leonie ebenfalls per Du waren, als Beleg dafür nimmt, dass es da keine professionelle Distanz zwischen den beiden gegeben habe.

Auch der Psychologenverband kommt wegen des intensiven Whatsapp-Verkehrs mit Leonie zu dem Schluss, dass sich Meili zu wenig klar gegenüber der Patientin abgegrenzt habe – und damit gegen die Berufsordnung verstossen habe.

Verweis erteilt

Deshalb erteilt die Berufsethikkammer der Therapeutin einen Verweis und verpflichtet sie zu 20 Supervisionsstunden. Meili bestreitet nicht, dass sie zuweilen mit der Betreuung von Leonie enorm gefordert gewesen sei. Die Schwierigkeit ausreichender Abgrenzung im Whatsapp-Verkehr erklärt sie jedoch damit, dass ihre Patientin immer wieder damit gedroht habe, sich umzubringen, auch nachts. «Hätte ich da einfach nicht reagieren sollen?» Das Berner Gesundheitsamt sieht im Austausch ungewöhnlich vieler Nachrichten zwischen Meili und Leonie ebenfalls keine Pflichtverletzung.

Ihr grösster Fehler sei wohl gewesen, dass sie die Therapie von Leonie nicht früher abgebrochen habe, sagt Meili. «Dann wäre es gar nie zu dieser unheilvollen Dynamik gekommen.» Sie habe mehrmals versucht, einen anderen Therapeuten für Leonie zu finden. «Aber alle haben abgelehnt, zu komplex war der Fall, zu anspruchsvoll die Patientin.»

Obwohl der Berufsverband nach der Sichtung des umfangreichen Materials keine Belege für die Vorwürfe bezüglich Satanismus oder Mind-Control gefunden hat, hält SRF an der Darstellung im «rec.»-Beitrag fest. Und weist die Forderung von Meilis Anwalt nach einer Berichtigung zurück. SRF habe die Vorwürfe von Leonie «mit grosser Sorgfalt» geprüft und mit verschiedenen Fachexperten gespiegelt. Die psychische Krankheit Leonies rechtfertige es keineswegs, deren Glaubwürdigkeit zu diskreditieren.

Der SRF-Beitrag widmet sich auch der Zeit, die Leonie am Psychiatriezentrum Münsingen (PZM) im Kanton Bern verbracht hat. Leonie wurde dort wie andere DIS-Patientinnen von Therapeutinnen behandelt, die Verschwörungstheorien verbreitet und sektenartige Zirkel gebildet haben. Dies stellte der Psychiater Thomas Maier später in einem Gutachten fest. Die Therapeutinnen seien überzeugt gewesen, dass es namenlose Tätergruppe gebe, die so raffiniert vorgingen, dass die Polizei sie nie erwische.

In denselben Topf geworfen

Veronika Meili sagt, sie halte einiges an der Art, wie Leonie in Münsingen therapiert wurde, für «hochproblematisch». Dazu gehörten auch über mehrere Wochen hinweg nächtliche Fixierungen, um die Patientin vor einem angeblich drohenden Kontakt mit den «Tätern» zu schützen. Doch damit habe sie nichts zu tun gehabt, betont Meili. «Die SRF-Journalisten haben mich einfach mit den PZM-Therapeutinnen in denselben Topf geworfen.»

Die Therapie von Leonie bei ihr dauerte bis im Januar 2022. Dann habe sie Leonie erklärt, warum sie das Betreuungsverhältnis nicht fortsetzen könne, sagt Meili. «Es ging immer nur von Krise zu Krise, ich spürte keine Veränderungsbereitschaft bei ihr.» Leonie habe das vordergründig akzeptiert.

Doch dann ging sie mit ihrer Geschichte zu den Medien.

* Name von der Redaktion geändert.

Exit mobile version